9punkt - Die Debattenrundschau

Wir wollten wissen, was sie wussten

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
09.11.2019. Die Mauer war nicht eine Mauer, sagt Timothy Garton Ash in der Welt, sie war die Alpen. France Inter bringt aus dem Anlass ihres Zusammenbruchs eine Techno-Playlist.  Die SZ berichtet über eine Denkwerkstatt afrikanischer Intellektueller, in der Achille Mbembe schwarze 'négrophobie' kritisierte und ein vereintes Afrika ohne Grenzen vorschlug. Hat Cornelia Koppetsch plagiiert? Bei der Verleihung des Bayerischen Buchpreises kam es zum Eklat - FAZ und SZ werfen einen sehr unterschiedlichen Blick auf die Affäre.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 09.11.2019 finden Sie hier

Europa

Die "Literarische Welt" bringt zum 9. November ein Spezial zum Thema Freiheit. Nichts davon ist online. Im Gespräch mit Stefan Aust und Martin Scholz sagt Timothy Garton Ash: "Junge Menschen von heute, die das nicht erlebt haben, können dieses unglaubliche Gefühl der Befreiung kaum nachempfinden, wenn sie sagen: 'Es war doch nur eine Mauer!' Nein, es war eben nicht nur eine Mauer, sie war so monumental wie die Alpen. Und für all diejenigen, die bis zu diesem Moment nur diese Welt des Sowjetblocks, des Ostblocks, gekannt hatten, war dieses Ereignis so, als wären plötzlich die Alpen in sich zusammengefallen."

Es schreiben außerdem Hans Ulrich Gumbrecht, Lann Hornscheidt, Werner Schulz und Jan-Werner Müller, der einen "Liberalismus von unten" fordert. Außerdem unterhält sich Franziska von Haaren mit Yiao Liwu über Freiheit, wobei er sich fragt, was die dem Westen eigentlich noch wert ist: "Ich sehe die größte Gefahr für die Freiheit im 21. Jahrhundert durch die Diktatur in China, die mittlerweile schon so weit entwickelt ist, dass sie weltweit Freiräume okkupiert. Das sollte der westlichen Welt auch eine Warnung sein. Deshalb müssen wir gegenüber diesem Regime eine gemeinsame Position einnehmen, um es zu bekämpfen. Vielleicht können wir diese Diktatur dann beenden. Das wäre meine Hoffnung. Ich hoffe, dass Hongkong das Waterloo der KPCh wird."

Joachim Gauck erzählt im Interview mit Claudia Schwartz in der NZZ, warum es so wichtig war, die zunächst nach ihm benannte "Gauck-Behörde" zu gründen. "Wir wussten: Was bei der Stasi eingelagert ist, ist ihr Herrschaftswissen. Und wir, die Unterdrückten, wollten sie nicht in diesem Monopolbesitz lassen. Wir wollten auch nicht, dass sie die Akten vernichteten, sondern wir wollten wissen, was sie wussten. Das wollten wir wegen ihrer Eingriffe in unser Leben, aber auch, weil wir künftig die Akten nutzen wollten, um Unrecht wiedergutzumachen. Es sollte verhindert werden, dass ehemalige Spitzel weiter Richter, Schuldirektoren oder Redakteure in Zeitungen sind und in wichtigen Positionen des öffentlichen Dienstes praktisch ungeschoren davonkommen."

France Inter hat zum Mauerfall die einzig richtige Assoziation und präsentiert eine Playlist mit den besten dreißig Technotracks.




Literatur- und Theaterkritiker und Albanien-Kenner Björn Hayer schildert Albanien in der taz als eine Kultur der Gelassenheit und als ein Land, das bei seinen Fortschritten in Richtung Moderne Hilfe gebrauchen kann - und plädiert darum für eine aufgeschlossene Haltung der EU: "Durch die Beitrittsgespräche ist es der EU bereits gelungen, zur Verbesserung der Lebensverhältnisse und einer demokratischen Kultur beizutragen. Dadurch hat sie die nachhaltige Kontrolle übernommen. Nun sollte sie auch zu ihrem Versprechen stehen und dem Kandidatenland eine Perspektive aufzeigen. Nicht zuletzt die eigenen sicherheitspolitischen Erwägungen sollten Skeptiker wie Macron & Co zum Nachdenken bewegen."
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Wissenschaft

Thomas Thiel wirft der Darmstädter Soziologin Cornelia Koppetsch in der FAZ vor, einige Passagen ihres auch in der FAZ höchst positiv besprochenen Buchs "Die Gesellschaft des Zorns" quasi wörtlich von Autoren wie Frank Biess "Republik der Angst" und Andreas Reckwitz "Die Gesellschaft der Singularitäten" übernommen zu haben, ohne sie im Text selbst kenntlich zu machen (erst im Anhang des Buchs werden die zitierten Autoren offenbar genannt). Der Verlag hat das Buch zurückgezogen, die Autorin hat sich entschuldigt. Und als Journalist einer so seriösen Zeitung wie der FAZ hat Thiel natürlich das Cachet zu mahnen: "Ein wissenschaftliches Sachbuch steht auf vielen Schultern und muss sie benennen."

Der Bayerische Rundfunk zeigt im Video auf Twitter, wie FAZ-Literaturchefin und Jury-Vorsitzende Sandra Kegel das Buch noch während der Verleihung für den Bayerischen Buchpreis öffentlich aus der Shortlist zurückzog. Und das obwohl laut Gustav Seibt in der SZ die Vorwürfe gegen die Autorin schon seit 24. Oktober bekannt gewesen seien und der federführende Juror Knut Cordsen  seit einer Woche zu der Sache recherchierte. "So wurde die Szene zu einem öffentlichen Scherbengericht über die anwesende Autorin. Diese war über die Vorwürfe informiert, hatte ihr Buch aber nicht zurückziehen wollen. Ein Austausch auf der Liste der Nominierten wäre, so Cordsen, auch nicht möglich gewesen. Koppetsch habe darauf vorbereitet sein müssen, dass über ihr Buch und die Vorwürfe geredet würde. Koppetsch versichert, sie sei zur Veranstaltung im Glauben gegangen, dass über ihr Buch dort nicht mehr diskutiert würde." Seibt verteidigt die Autorin: "Koppetschs Buch ist eine Synthese, Übernahmen fremder Argumente und Formulierungen werden dort generell nicht mit Seitenangaben in Fußnoten ausgewiesen, sondern durch summarische Verweise auf die Bibliografie."
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Ideen

Jörg Häntzschel hat für die SZ ein Treffen der "Ateliers de la pensée" besucht, einer Denkwerkstatt afrikanischer Intellektueller, die sich unter dem Motto "Afrika bezaubernd machen" in Dakar traf. Ihr Ziel ist unter anderem ein "neues kulturelles Selbstbewusstsein Afrikas" so Häntzschel. Dazu gehören Rückgabeforderungen kultureller Artefakte aus westlichen Museen, ein Besinnen auf immaterielle Traditionen des Kontinents, aber auch Selbstkritik, wie sie Achille Mbembe äußerte: "Natürlich sei Europa zu verurteilen für die Abertausenden Afrikaner, die es im Mittelmeer ertrinken lasse. Aber afrikanische Staaten wie Libyen machten sich mitschuldig" und "Südafrika behandele afrikanische Migranten oft schlimmer als europäische Länder. Er sprach bitter von schwarzer 'négrophobie'. Er schlug deshalb ein vereintes Afrika ohne Grenzen vor, einen 'riesigen Raum der Zirkulation', nicht zuletzt natürlich, damit Afrikas Jugend nicht länger gezwungen wird, ihr Leben oder ihre Würde auf der Flucht zu verlieren."
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Kulturpolitik

Im Tagesspiegel ermuntert Hamburgs Kultursenator Carsten Brosda für Mut beim Bau eines Museums der Moderne in Berlin. Auch bei der Elbphilharmonie explodierten die Kosten, gelohnt hat sich der Bau dennoch, meint er. "Architektur ist keine wärmende Hülle für einen vermeintlich rationalen Zweck, den es zu erfüllen gilt. Sie ist selbst ein öffentliches und künstlerisches Statement ihrer Zeit. Jede Zeit braucht den Mut, öffentlich - und das heißt oft: architektonisch - zu zeigen, was sie ausmacht. Dazu braucht es offene Räume, die einladen, sich mit Kunst und Kultur auseinanderzusetzen und dies im besten Fall gemeinsam zu tun."

Außerdem: Eine Meldung im Tagesspiegel informiert uns, dass der Bundestag die ermäßigte Mehrwertsteuer für E-Books beschlossen hat: Statt 19 Prozent müssen jetzt nur noch - wie schon bei gedruckten Büchern - 7 Prozent bezahlt werden.
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Geschichte

Wolfgang Kraushaar hat 2005 mit "Die Bombe im jüdischen Gemeindehaus" eines der wichtigsten Bücher über die Geschichte der radikalen Linken in der Bundesrepublik geschrieben. Das Buch offenbart, dass die Szene um den als "Politclown" so beliebten Dieter Kunzelmann ein Attentat auf die Jüdische Gemeinde Berlin verübt hatte - die Bombe war während der Gedenkfeier für die Pogromnacht 1938 am 9. November 1969 nur wegen eines korrodierten Zünddrahts nicht hochgegangen. Heute erinnert Kraushaar in der taz an diesen Tiefpunkt in der bundesrepublikanischen Geschichte. Der eigentliche Bombenleger war "Abbie" Fichter, Bruder des bekannten Achtundsechzigers Tilman Fichter. Die bitterste Pointe aber war, "dass die Bombe im Jüdischen Gemeindehaus vom Berliner Verfassungsschutz stamme; dessen Undercovermann Peter Urbach habe sie an interessierte Kreise weitergereicht". Kraushaar hat dies ausgerechnet auf einer öffentlichen Veranstaltung des Verfassungsschutzes im Jahr 2004 öffentlich gemacht und schildert das peinliche Schweigen der anwesenden Honoratiorenschaft.
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Medien

Die taz druckt die Dankesrede der Spiegel-online-Kolumnistin Margarete Stokowski für den Tucholsky-Preis: "Eine Autorin zu sein, die politische Texte schreibt, bedeutet für mich auch, vieles von den hässlichen Seiten dieser Zeit zu sehen. Ich mache meine Arbeit sehr gerne, ich könnte mir keine bessere vorstellen. Aber ich frage mich auch: Wie gesund ist das eigentlich, einen Job zu machen, bei dem man Morddrohungen irgendwann normal findet, und bei dem man sich daran gewöhnt, dass diejenigen, die diese Drohungen schreiben, oft nicht gefunden werden?"

Die ehemalige Bundesfamilienministerin Kristina Schröder disgnostiziert in der Welt zwar nicht eine Gefährung der Meinungsfreiheit, wohl aber der Meinungsvielfalt, weil Meinungen "zwar nicht von den Gerichten, aber dafür von der Gesellschaft umso empfindlicher sanktioniert werden". Dies gelte besonders für Themen wie Klimaschutz oder Migration und Islam: "Das Spezifische der Debatten über diese Themen ist nicht, dass sie kontrovers sind. Sondern dass demjenigen, der hier eine missliebige Position äußert, nicht nur sachlich widersprochen, sondern er als Person moralisch verurteilt, oft geradezu verbal hingerichtet wird. Er ist fortan in der öffentlichen Etikettierung derjenige, der 'das' gesagt hat, und kann so oft über Jahre nicht mehr unbefangen am öffentlichen Diskurs teilnehmen."

Ebenfalls in der taz stellt Erica Zingher eine Studie (hier als pdf-Dokument) der Initiative Pro Quote Medien zum Frauenanteil in deutschen Meiden vor, der stets noch zu wünschen übrig lässt: "Zwar wird die Frauenquote besser, je niedriger man in der Hierarchieebene geht. Aber die Spitze ist unangefochten männlich. Die überregionalen deutschen Zeitungen werden ausschließlich von Männern geführt. Bis vor Kurzem gab es mit Digitalchefredakteurin Julia Bönisch eine Co-Chefin bei der SZ. Bönisch war den anderen Chefredakteuren gleichgestellt. Ende Oktober hat sie die Zeitung jedoch verlassen, ihre Stelle ist vakant."

Der Rundfunkbeitrag für die Öffentlich-Rechtlichen wird nun doch nicht an einen Inflationsindex gebunden. Es bleibt bei der Finanzprüfung der Sender durch die Kef (Kommission zur Ermittlung des Finanzbedarfs der Rundfunkanstalten), ein kompliziertes Verfahren. Michael Hanfeld begrüßt diese Meldung in der FAZ eher: "In der Medienpolitik reden heute CDU, CSU, FDP, Grüne, Linke und SPD mit. Wer etwas bewegen will, braucht eine ganz große Koalition. Die eigentlichen Verhinderer einer Reform des öffentlich-rechtlichen Rundfunks und des Beitrags, den die Bürger entrichten müssen, braucht man allerdings gar nicht in der Politik zu suchen. Boykottiert haben den Prozess die Rundfunkanstalten selbst."
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