9punkt - Die Debattenrundschau

Die Beharrungskräfte sind zu hoch

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
08.11.2019. So freiheitlich, wie sie heute noch gern gesehen wird, war die Wende 1989 nicht, schreibt Thomas Schmid in der Welt: Das eigentlich prägende Datum des Jahres sei darum nicht der 9. November, sondern der 4. Juni. Und laut Leander Haußmann in der Nachtkritik hat der Wessi heute ein Spiegelbild: den Ossi. Bei den Salonkolumnisten sucht Stefan Laurin Gründe für den Niedergang des Ruhrgebiets. In Libération zweifelt Lionel Jospin am Laizismus der "linken Linken".
Efeu - Die Kulturrundschau vom 08.11.2019 finden Sie hier

Europa

So freiheitlich, wie sie heute noch gern gesehen wird, war die Wende 1989 nicht, schreibt Welt-Autor Thomas Schmid. Die klügeren Funktionäre osteuropäischer Länder suchten zwar wirtschaftliche Reformen, aber ohne politische Freiheit. Und auch die Dissidenten waren beileibe nicht alle Liberale: "Einig waren sich die Dissidenten allein im Ruf nach Meinungsfreiheit. Darüber hinaus aber gingen die Vorstellungen weit auseinander. Weder die Marktwirtschaft noch die liberale Demokratie gehörten zu den von allen geteilten Zielen, bei der polnischen Untergrundgewerkschaft Solidarność nicht und auch nicht bei Václav Havel. Von der DDR-Opposition zu schweigen, die den 'dritten Weg' suchte. Der Vorbehalt gegenüber dem angeblich oberflächlichen, im Konsumismus badenden Westen war weit verbreitet." Das eigentlich prägende Ereignis des Jahres war darum nicht der 9. November, so Schmid, sondern der 4. Juni: "Die Volksrepublik China hat seitdem unnachsichtig gezeigt, dass Markt ohne Freiheit ein Erfolgsmodell sein kann."

In der Nachtkritik erklärt Leander Haußmann im Gespräch mit Christian Rakow und Esther Slevogt, warum die Unterscheidung Wessi/Ossi für ihn nicht so viel Sinn macht: "Es war ja nicht nur so, dass der Lehrer oder der Stasimann oder der Polizist uns auf den Sack ging. Uns gingen sie alle auf den Sack! Dieses ganze System von gegenseitiger Erziehung und Denunziantentum. Ich sehe auch nicht, dass das weg ist! Und zwar gesamtdeutsch nicht. Der Westler denkt immer, er sei irgendwie fein raus aus der Sache. Als hätte das alles mit ihm nichts zu tun. Aber wenn der Westen wissen möchte, wer er ist, muss er in den Osten schauen. Das ist sein Spiegel."

In der NZZ weiß Eric Gujer, weshalb so viele Osteuropäer heute zum Nationalismus neigen: "Im Westen reifte der Nationalstaat über Jahrhunderte, bis Exzesse ihn diskreditierten. Überstaatliche Elemente wie die EU gaben ihm ein neues Fundament. In Osteuropa ist der Nationalstaat der Versuch, nach Vertreibungen, Massenmorden und willkürlichen Grenzziehungen endlich Schutz vor der Tyrannei der Geschichte zu finden. Nationalismus gilt nicht als Exzess, sondern als Garant von Identität und Stabilität. Ethnische Homogenität, im Westen lange fast eine Selbstverständlichkeit, existierte im Osten nie und ist deswegen noch immer ein Ideal."

Auch 30 Jahre nach dem Mauerfall liegt Ostdeutschland nur bei 75 Prozent der Wirtschaftskraft des Westniveaus, schreibt Carla Neuhaus im Tagesspiegel: "Die ostdeutschen Bundesländer liegen bei der Wirtschaftskraft heute etwa dort, wo Westdeutschland in den 1980er Jahren stand. Beim verfügbaren Einkommen erreichen die Ostdeutschen den Stand, auf dem die Westdeutschen 1989 waren."

Stefan Laurin sucht bei den Salonkolumnisten nach Gründen für den historischen und bis heute nicht zu stoppenden Niedergang  des Ruhrgebiets und stößt dabei auf Faktoren, die auch Licht auf die heutige Repräsentationskrise der Volksparteien werfen. Heute hätte es Sinn, "dieses Gewusel aus über fünfzig weitgehend erfolglosen Städten zu einer großen Stadt wie Berlin zusammenzufassen", so Laurin, aber das wird nicht klappen: "Die Beharrungskräfte sind zu hoch, zu viele profitieren von der Zersplitterung des Ruhrgebiets. Die Vorstände der Nahverkehrsunternehmen, die Dezernenten der vielen Städte, die Chefs der Energieunternehmen, all die kleinen und gut bezahlten Sparkassenfürsten, die Bürgermeister, Oberbürgermeister und Landräte und ihr Gefolge aus Referenten, Pressestellen und Beratern haben an einer solchen Entwicklung kein Interesse, und ihre Parteien stehen hinter ihnen. Wer daran glaubt, dies würde sich noch einmal ändern, der irrt."

In Frankreich soll am Samstag gegen Islamophobie demonstriert werden. Im Hintergrund steht erneut der Kopftuchstreit. Der Aufruf wird großenteils von Anhängern der "linken Linken" um Jean-Luc Mélenchon  getragen. In Libération äußert sich der einstige Premierminister Lionel Jospin skeptisch, weil auch das von vielen geschätzte Kopftuchverbot an Schulen in Frage gestellt wird: "Der linken Linke ('gauche de la gauche') fällt es definitiv schwer, die Umrisse ihres unbestreitbaren Antirassismus zu definieren. Im Herzen des Problems: Die Definition der Laizität, die doch sehr klar ist, die aber von einigen Verbänden offen oder über Bande in Frage gestellt wird, weil man die 'Unterdrückten' verteidigen wolle, selbst solche, die gegen die Laizität sind. Was darauf hinausliefe, eines der Gründungsprinzipien der Republik - und der Linken - fallenzulassen."
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Medien

Der an einen Inflationsindex gebundene Rundfunkbeitrag kommt nun offenbar doch nicht. Im Gespräch mit Helmut Hartung von der FAZ sagt Oliver Schenk, Chef der Sächsischen Staatskanzlei: "Die Indexierung hätte .. zu einer teilweisen Entpolitisierung bei der Festsetzung des Beitrages geführt und die Parlamente aus der Verantwortung genommen. Das stieß bei einigen Ländern auch auf Bedenken. Aber auch das heutige Verfahren bezieht die Parlamente nur ungenügend in die Meinungsbildung und Entscheidung über den Auftrag und die Finanzierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks ein."
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Gesellschaft

Nicht die Meinungsfreiheit ist in Gefahr, sondern die Fähigkeit, Konflikte zu führen, schreibt Matthias Dobrinski in der SZ: "Diese Unfähigkeit, sich befremden zu lassen, fremde Gedanken auszuhalten, ist auch bei den Linken gewachsen. Wer sich aber nicht befremden lassen kann, bleibt Gefangener der eigenen Blase und Harmoniekonstruktion, außerhalb der angeblich Rassismus und Faschismus beginnen. Die gegenwärtige Inflationierung der beiden Begriffe ist ein Krisenzeichen - irgendwann taugen sie nicht mehr zur notwendigen Unterscheidung von Meinungen, die man ärgerlich finden mag, und dem tatsächlichen Rassismus und Faschismus."

In der Zeit denkt Hanno Rauterberg indes darüber nach, weshalb die Digitalisierung auch die Meinungsfreiheit einschränkt: "Je öfter nämlich behauptet wird, in der Digitalmoderne könnten sich die Einzelnen gleichermaßen Gehör verschaffen und mediale Vermittlung sei eigentlich überflüssig, weil ja nun jedes Ich zum Sender werde, desto absehbarer wachsen Unbehagen und Unmut. Denn niemals lässt sich der formulierte Anspruch verwirklichen: Der Gleichheit folgt keine Gerechtigkeit."
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Kulturpolitik

Heute schenken die Nachfahren der enteigneten jüdischen Sammlerfamilie Kraus eine an sie zurückgegebene Kopie von Jan van der Weydens "Holländischem Platzbild" dem Wiener Jüdischen Museum, meldet Catrin Lorch in der SZ und hat mit dem Urenkel John Graykowski über den jahrelangen Restitutions-Kampf gesprochen: "In Deutschland, darauf weist Graykowski im Gespräch hin, sind Privatsammlungen und privat finanzierte Vereine bis heute juristisch nicht zur Rückgabe verpflichtet. Für die Familie ist der Fall noch lange nicht beendet: Man werde nicht aufgeben, 'bevor nicht der Verbleib aller 161 Gemälde aus der Sammlung geklärt ist und wir sie zurückerhalten haben'."
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Stichwörter: Restitution, Privatsammlungen

Internet

Die einst von Frank Schirrmacher hochgejazzte Ökonomin Shoshana Zuboff macht im Gespräch mit Thomas Thiel in der FAZ den "Überwachungskapitalismus" der Googles und Facebooks für die Krise der Demokratien verantwortlich: "Gegenwärtig ist die Demokratie unter Druck, aber wenn wir uns von der Wirtschaftspolitik der letzten Jahrzehnte abwenden, dann sehe ich die Möglichkeit, dass sich das wieder ändert."
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Ideen

Die Geisteswissenschaften stecken bis heute in der Krise, weil sie keinen präzisen Begriff ihrer eigenen Tätigkeit haben und sich im Laufe der Geschichte "immer wieder gerne weltanschaulich vereinnahmen" ließen, konstatiert der Anglizist Ludwig Pfeiffer in der NZZ:  "Heutigen Untersuchungsgebieten wie Gender-Studies, Postcolonial Studies und oft auch den Medienwissenschaften sind weltanschauliche Vorentscheidungen auch dann eingeschrieben, wenn sie nicht mehr staatlich vorgeschrieben sind."
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Politik

Die Proteste im Irak sind deshalb so einzigartig, weil sich, anders als in anderen arabischen Regionen hier Schiiten und Schiiten gegenüberstehen, schreibt im Feuilleton der SZ der irakische Schriftsteller Najem Wali und erklärt: "Es ist nicht das erste Mal, dass Schiiten gegen Schiiten kämpfen. Der Sunnit Saddam Hussein hatte in den Achtzigerjahren Krieg gegen das schiitische Iran geführt, aber zwei Drittel seiner Armee bestand aus Schiiten - Bauernsöhnen, armen Irakern aus dem Süden, ein paar Kurden -, während die hohen Offiziere und Generäle meist Sunniten waren. Als nach dem Sturz Saddams die schiitische Mehrheit im Irak an die Macht kam, war der schiitische Süden die größte Stütze der Regierung. Hunderte junge Männer aus Städten wie Basra oder Nasirija verloren im Kampf mit dem IS das Leben.  Doch sobald der IS zurückgedrängt war, traten die Widersprüche zutage. Die Anti-IS-Koalition von Parteien und Gruppierungen zerbrach. Viele junge Männer, die aus dem Krieg gegen die Terroristen zurückkehrten, waren schockiert, als sie begriffen, wie groß die soziale Ungerechtigkeit unter den Schiiten war."
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Kulturmarkt

Der große Filialbuchhändler Thalia, das Schreckgespenst der Branche, bevor Amazon kam, feierte in Hamburg seinen hundertsten Geburtstag, berichtet der Buchreport. Man versuchte sich sich mit der  Kampagne "Welt, bleib wach" auch als politisches Unternehmen zu profilieren: Aber "in der Buchbranche steht Thalia für die massive Konzentration im Buchhandel. Zuletzt hat sich das in größerem Umfang 2019 in der Übernahme des Regionalfilialisten Decius (Niedersachsen) und der Fusion mit dem NRW-Marktführer Mayersche gezeigt. Hinzu kommen, alleine 2019, die Übernahmen von zehn Standorthändlern aller Größenordnungen, um das Netz enger zu knüpfen, darunter auch kleine 140-qm-Flächen."

Weiteres: Auf der Literaturseite der SZ schildert Willi Winkler sehr ausführlich, wie Wilhelm Höttl, einst SS-Offizier und nach dem Krieg getarnt als Verleger des Nibelungen-Verlags in Linz für allierte Geheimdienste tätig, gemeinsam mit dem heute vergessenen, aber einst für seine Trilogie "Die Throne stürzen" von Hitler als Staatsdichter verehrten und nach dem Krieg von Piper verlegten Schriftsteller Bruno Brehm sowie dem Piper-Verlag in den fünfziger Jahren als Geldwaschanlage funktionierten.
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