9punkt - Die Debattenrundschau

Nichts mit Nazi, gar nichts, auf keinen Fall

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
30.10.2019. Es ist noch Thüringen-Aufarbeitung. In der FAZ diagnostiziert die Eisenacher Ethnologin Juliane Stückrad eine "Krise des Lokalen". SPD und Linkspartei sollten wieder zusammenwachsen, fordert die taz. Die SZ geht nochmal der Frage nach, warum die Kosten für das geplante Museum der Moderne in Berlin noch vor Baubeginn von 130 auf 450 Millionen Euro gestiegen sind. Auf geschichtedergegenwart.ch erklärt die Historikerin Gesine Krüger, was die Beschneidung von Männern in Südafrika mit Postkolonialismus zu tun hat.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 30.10.2019 finden Sie hier

Europa

Nun muss endlich wieder zusammenwachsen, was zusammengehört, fordert taz-Redakteur Jan Feddersen nach der Wahl in Thüringen: "SPD und Linkspartei, inzwischen fast ähnlich groß (oder klein, je nach Perspektive) mögen sich auf den vermutlich langwierigen Prozess der Wiedervereinigung begeben. In der - immer am Thüringer Beispiel diskutiert - Linkspartei gibt es so gut wie nichts, was nicht auch die SPD gut finden könnte, in der SPD findet sich nur wenig, was nicht auch die Linkspartei in sich integrieren könnte."

Simon Strauß unterhält sich in der FAZ mit der Eisenacher Ethnologin Juliane Stückrad, die der Bevölkerung in Thüringen auf den Zahn fühlte und viele Motive dafür fand, warum Leute sich "abgehängt" fühlen - und einige sind berechtigt. Sie konstatiert eine "Krise des Lokalen. Wir müssen uns viel stärker klarmachen, dass nur dort, wo Leute leben, wirklich entschieden wird, wie sie das Land als Ganzes finden. Deshalb muss das Lokale um jeden Preis gestärkt werden." Ganz nebenbei nennt sie einen Faktor für den Erfolg der AfD, der so gut wie nie thematisiert wurde: "In Teilen Ostthüringens und vor allem im sächsischen Erzgebirge und dem Vogtland darf man außerdem den starken Einfluss evangelikaler und charismatischer Strömungen auf das Wahlverhalten nicht unterschätzen."

In der Zeit forscht Mariam Lau dem Selbstbild der AfD nach den Wahlen in Ostdeutschland nach. Immerhin waren zwei Rechtsextreme außerordentlich erfolgreich: "Mit Björn Höcke in Thüringen und Andreas Kalbitz in Brandenburg sind zwei Protagonisten in die Position potenzieller Ministerpräsidenten gelangt, an deren völkischer Gesinnung nun wirklich nichts zu deuteln ist." Dennoch wehrt sich die AfD mit Händen und Füßen dagegen, als rechtsextrem bezeichnet zu werden: "Bürgerlich, patriotisch, konservativ - das ja. Aber nichts mit Nazi, gar nichts, auf keinen Fall. Also was ist da passiert, jetzt in Erfurt und letztens in Potsdam? Ein Versehen?"

Wieso verfolgt der Staat Linksterrorismus so viel systematischer als Rechtsterrorimus, fragt Stefan Laurin in der Jungle World. Kann es sein, dass Politikern erst ein Mord an einem Politiker oder Repräsentanten als politischer Mord gilt? "Wenn der Staat will, kann er. Nur will er nicht immer. Es hängen keine Fotos von den 500 derzeit mit einem Haftbefehl gesuchten Neonazis beim Bäcker und an den Bahnhöfen. Die bekannte Tatsache, dass Rechtsextreme seit einigen Jahren immer mehr Waffen horten, führt nicht zu Hausdurchsuchungen in großem Maßstab. Wie lässt sich anders als mit mangelndem Willen zur Aufarbeitung erklären, dass Verfassungsschutzbehörden damit durchkamen, im Zuge der Aufarbeitung der NSU-Verbrechen Akten zu schreddern und nicht freizugeben?"

Bei einer Sitzung des Parlamentarischen Kontrollgremium im Bundestag gaben Chefs von Verfasssungschutzbehörden nun allerdings die Parole aus, dass die hauptsächliche Bedrohung nicht mehr vom Islamismus ausgehe, sondern vom Rechtsextremismus. Gefordert wurde dann aber nur die übliche "Ausweitung der Kompetenzen", schreibt Anna Biselli bei Netzpolitik: "In der Sitzung des PKGr drängt sich ein Eindruck auf: Zum einen präsentieren die Geheimdienstchefs der Öffentlichkeit, dass sie nun auch vermehrt nach rechts schauen. Zum anderen aber machen sowohl sie als auch einige der Abgeordneten mit ihren Fragen Stimmung für neue Gesetze und mehr finanzielle Mittel. Eine Funktion öffentlicher Kontrolle vermittelt das weniger. Aber umso mehr einen Vorgeschmack darauf, was im nächsten Jahr an Gesetzesvorschlägen und Mitteln diskutiert werden wird."
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Internet

Wie überall in Deutschland treibt auch den Politikwissenschafter Adrian Lobe in der NZZ die Angst vor der Künstlichen Intelligenz um. Auch die Forschung widmet sich dem Thema, und siehe da: Netzwerkgesellschaften gab es schon vor der Erfindung des Computers: "Die Forscher sprechen vom 'Anternet', dem Ameisen-Netz. Ameisenkolonien sind informationsverarbeitende Systeme, wenngleich die Datenmenge im Vergleich zu Großrechnern recht beschaulich ist. Doch es gibt Parallelen: Weder der Router in einem Datennetzwerk noch eine Ameise, die jeweils kleinsten Einheiten der Ordnungen, wissen, was der jeweils andere tut. Und trotzdem funktionieren diese kollektiven Systeme. Sogar erstaunlich gut: In Ameisenkolonien gibt es zum Beispiel keinen Stau. Und auch keine Aufstände oder Kriege. Alles läuft ohne Störungen in vorgegebenen Bahnen. Die Erkenntnis könnte nicht nur etwas zum Verständnis von Maschinenverhalten, sondern auch zum Funktionieren moderner Gesellschaften beitragen."
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Kulturpolitik

In der SZ geht Jörg Häntzschel noch einmal der Frage nach, warum die Kosten für das geplante Museum der Moderne in Berlin noch vor Baubeginn von 130 auf 450 Millionen Euro gestiegen sind: "Die Antwort findet sich im Kleingedruckten. Im SPK-Papier 'Zur Zukunft der Berliner Museumslandschaft' von 2013, das der Bundestagsentscheidung zugrunde lag, werden 130 Millionen für ein Museum mit 7400 Quadratmetern Ausstellungsfläche und 10 000 Quadratmetern Nutzfläche veranschlagt. Im Realisierungswettbewerb werden aber 9200 Quadratmeter Ausstellungsfläche und 15 400 Quadratmeter Nutzfläche gewünscht. Die neueste Version des Entwurfs ist sogar 16 000 Quadratmeter groß. Nachdem der Bundestag also Geld für ein 10 000-Quadratmeter-Museum bewilligt hatte, gaben SPK und BKM eines in Auftrag, das um 60 Prozent größer ist."

Und das, obwohl die Stiftung Preußischer Kulturbesitz (SPK) schon heute nicht in der Lage ist, ihre Bauten in Berlin vernünftig zu unterhalten, melden die SZ und Ralf Schönball im Tagesspiegel: Sie verfallen, hat der Bundesrechnungshof in seinem jüngsten Bericht festgestellt. "Der Fehler liegt teils bei der Stiftung selbst, denn diese habe keine ausreichenden Mittel für Instandsetzungen beantragt. Chronischer Geldmangel kommt offensichtlich hinzu: Die Mittel zur 'Bauunterhaltung' seien 'in den vergangenen 22 Jahren nicht annähernd dem Bedarf der Liegenschaften entsprechend erhöht' worden. Im Gegenteil, sie lagen vor zwei Jahren sogar 'weit unter dem Niveau des Jahres 1996', jedenfalls wenn man die bei der Stiftung dazu gekommenen Bauten und den Anstieg der Baupreise seit dieser Zeit berücksichtigt."
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Gesellschaft

Beschneidung von Männern ist selten ein Thema. Sehr interessant schreibt die Historikerin Gesine Krüger auf geschichtedergegenwart.ch über den südafrikanischen Netflix-Film "The Wound (Inxeba)" von 2017, der gleich zwei Tabuthemen aufgreift, Beschneidung in Initationslagern für junge Männer und Homosexualität. Zunächst spricht sie über die Rolle der traditionellen "Führer" von Communities, die ihren Status auch dem Antikolonialismus verdanken. Sie wachen über die Praxis: "Die Vorstellung, dass der Film jahrhundertealte, geheimnisvolle Zeremonien zeigen würde, die auch in der deutschen Filmkritik immer wieder auftaucht, übersieht, dass die Teilnahme an einem Beschneidungslager heutzutage sehr moderne Voraussetzungen hat. Die jungen Männer müssen 18 Jahre alt, also im staatsbürgerlichen Sinne volljährig, sein und ein medizinisches Zeugnis vorlegen. Allerdings gibt es auch viele illegale Initiationsschulen, die bereits jüngere Teenager aufnehmen, und jedes Jahr sterben tragischerweise zahlreiche junge Männer an den Folgen von Infektionen aufgrund mangelhafter Wundversorgung und anderer Probleme in den Initiationsschulen."

Frauen werden auf dem Arbeitsmarkt nach wie vor diskriminiert - je älter, desto schlimmer, schreibt Simone Schmollack im Zeit-Blog 10 nach acht: "Personalentscheider*innen schielen vor allem nach jungen Mitarbeiter*innen. Mit denen läuft es unkompliziert: Die Jungen wollen was werden, fügen sich also eher und schweigen, wenn sie mit Entscheidungen und Vorgängen nicht einverstanden sind. Oder, wie ein Abteilungsleiter mir mal sagte: 'Wir nehmen keine alten Frauen, die kann man nicht mehr formen.' An dieser Stelle paart sich Altersdiskriminierung mit Frauenabwertung: Sobald Frauen über bestimmte Erfahrungen verfügen und verstehen, wie es läuft, können sie gefährlich werden. Sie könnten ja einen Anspruch auf Führungsposten erheben und möglicherweise einen Mann verdrängen. Oder, anders formuliert: Die männliche Angst vor Frauen, die keine Angst mehr haben, die sagen, was sie denken, die über Fachwissen verfügen und obendrein noch führen können, ist nach wie vor groß."
Archiv: Gesellschaft