9punkt - Die Debattenrundschau

Möglichkeitszuwachs

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
12.10.2019. Das Attentat von Halle beherrscht die Debatten. Der Tagesspiegel analysiert das für diese und andere Taten charakteristische Gemisch aus rechtsextremem Hass, der Ideologie des "großen Austauschs", der "Gamification des Terrors" und Selbstinszenierung des Täters als "Loser". In der SZ beschreibt Gustav Seibt die Anschlussfähigkeit des Antisemitismus für alle Infamien dieser Welt. Auch mit Deal bleibt der Brexit eine Katastrophe, fürchtet der Independent. Bernard-Henri Lévy geißelt in La Règle du Jeu den Verrat an den Kurden.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 12.10.2019 finden Sie hier

Europa

Schwerpunkt Attentat von Halle

Auch heute finden sich viele Analysen zum Attentat auf die Synagoge in Halle in den Medien. "Um es klar zu sagen: Es reicht", schreibt Philipp Peyman Engel, Redakteur bei der Jüdischen Allgemeinen in Spiegel online: "Mit den 'Nie wieder!'-Sonntagsreden muss endlich Schluss sein. Wir Juden können diese Phrasen von 'Betroffenheit', 'Null Toleranz gegen den Hass' und 'Angriff auf die Zivilgesellschaft' nicht mehr hören. Sie klingen wie Hohn in unseren Ohren. Sicherheitsbehörden und Politik sollen endlich ihren Job machen und die jüdische Gemeinschaft vor Antisemiten schützen - sei es von rechts, links oder aus dem islamistischen Spektrum."

In der taz schreibt Dmitrij Kapitelman über Verharmlosung durch deutsche Politiker: Leugnen. leugnen, Schock. Leugnen, Leugnen, Blut. Wen soll diese redundante Rhetorik noch aufrütteln. Wen erschüttern?" Ebenfalls für die taz begibt sich ein ganzes Reporterteam ins trübe Dörfchen Benndorf, dem es aber auch keine Geheimnisse über Stephan Balliet entlockt: "Warum wissen so wenige etwas über Stephan B.? Hört man sich um, dann wissen hier so einige Menschen eher wenig voneinander. Benndorf ist nicht das einzige ostdeutsche Dorf, in dem mit dem Zusammenbruch eines großen Kombinats oder einer LPG auch die gemeinsame Sinnstiftung verloren ging. Die Benndorfer haben hier Kupferschiefer aus der Erde geholt, seit 1990 ist alles zu."

Die Verdrängung des Rechtsterrorismus ist so alt wie die Bundesrepublik selbst, schreibt der Medienwissenschaflter Tanjev Schultz bei Zeit online: "Wenige Wochen, bevor Schäuble damals zur WM das so gern gehörte Märchen vom rundum friedlichen Land erzählte, ermordete der 'Nationalsozialistische Untergrund' (NSU), wie wir heute wissen, zwei Menschen. Im April 2006 erschossen die Terroristen Mehmet Kubaşık in Dortmund und Halit Yozgat in Kassel. Dass Neonazis dahintersteckten, erschien den Behörden jahrelang unmöglich. " (Nur um's noch ein wenig komplexer zu machen: Die Medien haben es in ihrer so vornehmen Wächterfunktion damals auch nicht kapiert, die Brenner-Stiftung hat hierzu vor Jahren ein allzu wenig diskutiertes Papier herausgebracht.)

Veronika Kracher analysiert im Tagesspiegel das für diese und andere Taten charakteristische Gemisch aus rechtsextremem Hass, der Ideologie des "großen Austauschs", der "Gamification des Terrors" und Selbstinszenierung des Täters als "Loser": "Auch bei anderen rechten Anschlägen, zeigte sich bei Tätern häufig das Bild eines permanent gekränkten Mannes, der sich von jedem, der ihm nicht gleicht - also nicht gleicher ethnischer Abstammung, nicht männlich, nicht heterosexuell ist - bedroht fühlt. Und dieser Bedrohung versucht, durch Gewalt und Terror Herr zu werden. Durch den Anschlag wäre der Attentäter wohl im eigenen Verständnis kein 'Loser' mehr gewesen, sondern in der rechten Szene zu einem Helden stilisiert worden."

In der SZ zeichnet Gustav Seibt nach, welche erstaunlichen Transformierungen und Verbindungen der Antisemitismus durchlebt - mal verbindet er sich mit Nationalismus, Antikapitalismus oder Rassismus, mal kommt er als Israelkritik daher oder er trägt das Gewand eines popkulturellen Antisemitismus wie in einem Video des Rappers Kollegah. "Das jüngste antisemitische Ideengebräu verbindet Antifeminismus und Genderhass mit der Verschwörungstheorie vom 'großen Austausch' der angestammten Bevölkerungen durch Masseneinwanderung: Diesem solle durch eine Absenkung der Geburtenraten Vorschub geleistet werden. In diesem Gebräu sind Judenhass, Islamhass, Frauen- und Schwulenhass im Zeichen einer kruden Globalisierungsangst verschmolzen. Der Hintergrund ist geradezu klassisch faschistisch, weil er ethnische Kollektive gegen die Möglichkeiten des Individuums ausspielt. Die Szenerie ist erschreckend. Sie zeigt, dass es den Antisemitismus der jeweils anderen Seite nicht gibt. Alle seine Formen bleiben untereinander koalitionsfähig."

Ebenfalls in der SZ fragt sich der Historiker Michael Brenner, ob jüdische Deutsche jetzt den Koffer packen sollten. Gewiss, Anschläge auf Juden gab es schon früher, aber jetzt habe sich etwas grundlegend verändert: "Das Deutschland von 2019 ist ein Land, in dem eine Partei, deren Fraktionsvorsitzender den Holocaust verharmlost, bei Landtagswahlen über ein Viertel der Stimmen erreichen kann. Das Deutschland von 2019 ist ein Land, in dem die Juden nicht wissen, ob sie gerade zur Zielscheibe von Neonazis, Islamisten oder sonstigen Extremisten werden. Und das Deutschland von 2019 ist ein Land, in dem man besser weder Kippa auf dem Kopf noch einen Davidstern um den Hals tragen sollte, will man sich nicht körperlichen Angriffen aussetzen."

Bei Twitter ist unterdessen die Empörung über einen Artikel Mathias Döpfners über das Attentat (unser Resümee) größer als die über die Tat selbst: "Springer-Chef schreibt der AfD aus der Seele", behauptet Stefan Niggemeier in seinen Uebermedien. Aber beide Texte dieser wichtigen Debatte sind hinter Paywalls versteckt.

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Allerjüngste Entwicklungen suggerieren, dass Boris Johnson und die EU doch noch eine Formulierung für einen Deal finden. Aber selbst, wenn es etwas glimpflicher ausgeht als gefürchtet, sollte man den überdeutlichen Fakt nicht vergessen, dass " der Brexit das kollosalste Versagen der Staatskunst in unserer Geschcihte darstellt", schreibt Tom Peck im Independent: " Falls wir die EU zum 31. Oktober verlassen, werden wir das unter Bedingungen tun, die um Größenordnungen schädlicher sind, als irgendwer je versprochen hat. 'Ich bin ein Fan des Binnenmarkts, ich würde dafür stimmen, im Binnenmarkt zu bleiben' hatte Johnson for dem Referendum gesagt. Aber wir bleiben nicht im Binnenmarkt. Wir ziehen Barrieren zum größten Freihandelsblock der Welt hoch, der nebenbei den immensen Vorteil hat, unsere geografischer Nachbar zu sein."
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Politik

In Paris wird es heute eine Demo gegen die türkische Attacke auf die Kurden in der Grenzregion geben, die durch den von Trump befohlenen Rückzug der amerikansichen Truppen ermöglicht wird. Zu den Initiatoren gehört natürlich Bernard-Henri Lévy. Der Aufruf attackiert Erdogan: "jener Mann, der in den Jahren des Krieges gegen Daech der oberste Schlepper von Tausenden von Dschihadisten war, die sich über die Türkei im Kalifat sammelten, hat nun begonnen die syrischen Kurden zu bombardieren, die im selben Jahr mit den Peshmergas des irakischen Kurdistan die entschlossensten Widerständler gegen Daech waren. Und er tat dies mit Zustimmung von Donald Trump, der seine 2.000 Spezialkräfte zurückzieht und sich nicht um diesen 'unvordenklichen und lächerlichen' Streit zwischen einem Neo-Sultan und Freund der Muslimbrüder und demokratischen Kurden kümmern will. Wir erinnern uns nicht, in den letzten Jahren einen derartigen Verrat erlebt zu haben."
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Ideen

In der NZZ denkt der Philosoph Andreas Urs Sommer über die neue "Gesinnungserkundungswirtschaft" nach, die allzuoft in Denunziation ausartet. Dahinter steckt oft Angst, glaubt er: "Wer sich der Gesinnungsethik verschreibt, ist geängstigt von der Fülle der Möglichkeiten. Möglichkeiten bedeuten, dass auch alles ganz anders sein könnte. Denn dass die Dinge auch ganz anders sein könnten, als sie nach Maßgabe seiner Gesinnung sein dürften, ist ein dem Gesinnungsethiker unerträglicher Gedanke. Und je mehr Möglichkeiten es gibt - Modernität bedeutet Möglichkeitszuwachs -, desto größer ist das Risiko, mit der Möglichkeit konfrontiert zu werden, dass alles auch ganz anders ist. Die Furcht vor diesem Risiko produziert dann Gesinnungsethiker in Hülle und Fülle, verteilt übers ganze politische Spektrum, von ganz links bis ganz rechts. Sie wollen den Möglichkeitsfluss austrocknen, denn Möglichkeiten führen ab von der Reinheit der Gesinnung. Am besten macht man ihnen den Garaus."
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Geschichte

In der NZZ erinnert der Extremismusforscher Eckhard Jesse an Günter Schabowski, der wohl als einziger SED-Politiker den Kommunismus für nicht reformierbar hielt, auch wenn ihn viele dafür als "Wendehals" verachteten: "Wer ihn länger gekannt, seine Reden gehört und Gespräche mit ihm geführt hat, kann dem nicht zustimmen. Aus Schabowski sprach authentische Überzeugungskraft, frei von Häme. Der Renegat mutierte zum Konvertiten - seinen Aussagen wohnte freilich mitunter etwas Kreuzzughaftes inne."
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Religion

250 Millionen Euro gab der Bund für die Luther-Dekade, allein 520.000 Euro gingen an ein "Luther-Pop-Oratorium", das das ZDF übertrug, schreibt Gisa Bodenstein bei hpd.de unter Bezug auf die Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage bei dem Portal FragDenStaat: "Insgesamt war das Lutherjahr zwar alles andere als erfolgreich, wie es die Frankfurter Allgemeine Zeitung unter dem wenig schmeichelhaften Titel 'Luther ist die Pleite des Jahres' analysierte, jedoch kann Erfolg an dieser Stelle kein Maßstab für die Förderungswürdigkeit sein. Es geht hier nämlich um etwas ganz Anderes: Martin Luther ist der - wenn auch nicht vorsätzliche - Gründervater der Evangelischen Kirche. Und es ist sehr wohl ein innerkirchliches Ereignis, das Jubiläum seines angeblichen Thesenanschlages oder seine Übersetzung der Bibel zu feiern."
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Medien

Die populistischen Regimes in Mittelosteuropa zeigen, dass Medien, die sich gern so viel auf segensreiches Wirken für die Demokratie zugutehalten, recht leicht gleichschalten lassen. Bei den privaten Medien ist es in Polen immerhin nicht so leicht, ausländische Besitzer zu vergraulen, schreibt Olivia Kortas in der taz, denn die EU-Regeln verbieten das: Stattdessen stärkte die polnische Regierung "in den vergangenen Jahren den öffentlich-rechtlichen Rundfunk und wandelte ihn in einen Werbekanal für die eigene Regierung um. 'PiS hat die Öffentlich-Rechtlichen zu Staatsmedien gemacht', kritisiert Medienwissenschaftler Janusz Adamowski. Mittlerweile stört die einseitige Berichterstattung sogar PiS-WählerInnen. Schon immer berichteten die öffentlich-rechtlichen Medien in Polen regierungsnah, auch unter den linksliberalen Vorgängern. 'Aber das Ausmaß war ein anderes', sagt Adamowski, 'Diese Medien sind gesetzlich dazu verpflichtet, ausgewogen zu berichten, aber sie erfüllen dieses Kriterium nicht mehr.'

Während alle anderen über Halle nachdenken, bringt das FAZ-Feuilleton auf seiner Aufmacherseite ein großes medienrechtliches Interview zum Ibiza-Video. Julia Encke befragt Stefanie Schork, Rechtsanwältin und Fachanwältin für Strafrecht. Auf die Frage, ob es medienrechtlich erlaubt sei, Fallen wie für dieses Video zu stellen, obwohl die Privatsphäre eindeutig verletzt wird, antwortet die Anwältin: "Wenn jemand etwa ankündigt, dass er die Bild-Zeitung kaufen, als Wahlkampfhelfer funktionalisieren und den öffentlich-rechtlichen Rundfunk gleichschalten will, wird man das machen dürfen."
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