9punkt - Die Debattenrundschau

Im dunklen Winter Europas

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
23.09.2019. hpd.de resümiert die "Jenaer Erklärung" von Biologen und Genetikern: "Das Konzept der Rasse ist das Ergebnis von Rassismus und nicht dessen Voraussetzung." Die Flüchtlingsfrage könnte sich bald wieder intensivieren, und Kroatien spielt dabei eine unrühmliche Rolle, warnt die taz. politico.eu fragt, warum Labour keine Position zum Brexit findet. Der Guardian kommt auf den Mord an dem tschetschenischen Regimegegner Zelimkhan Khangoshvili im Berliner Tiergarten zurück, der in Deutschland kein Asyl erhielt, obwohl man wusste, dass er bedroht war.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 23.09.2019 finden Sie hier

Europa

Die Labour-Partei hat vor den kommenden dramatischen Auseinandersetzungen um den Brexit ihren Parteitag. In den Wahlkampfumfragen sinkt ihre Popularität immer weiter, und die Corbyn-Getreuen der "Momentum"-Gruppe bekämpfen all jene Genossen, die sich eindeutig für die EU aussprechen, berichtet Daniel Zylbersztajn in der taz. Im Grunde seines Herzens ist auch Corbyn Brexiteer, schreibt Rosa Prince, Autorin eines Buchs über Corbyn, bei politico.eu: "Alte Genossen, auch Tariq Ali, haben bestätigt, dass sich Corbyn für 'Leave' eingesetzt hätte, wäre er nicht Parteichef gewesen. Stattdessen hielt er den Ball so flach wie möglich und verschwand auf dem Höhepunkt der Kampagne in den Urlaub... Alan Johnson, der die Remain-Kampagne für Labour koordinierte, sah sich mehrfach duch Corbyns Weigerung, an Versammlungen teilzunehmen und seine wenigen Reden und Artikel zu verwässern, torpediert. (und Corbyns Stabschef Seumas Milne ist genauso euroskeptisch wie Corbyn)."

Der Parteitag ist nicht das einzige Ereignis des Brexit-Dramas in dieser Woche: Das oberste Gericht von England muss entscheiden, ob die ungewöhnlich lange, von Boris Johnson verordnete Pause der Parlaments verfassungsgerecht war. "Wie immer das Urteil in dieser Woche lautet, die Kluft, die der Brexit geschlagen hat, dürfte es nur vergrößern", fürchtet Gina Thomas in der FAZ.

Die Flüchtlingsfrage könnte sich wieder intensivieren. Es droht sich eine Balkanroute zu etablieren. Das EU-Mitglied Kroatien fällt bereits durch zahlreiche Menschenrechtsveretzungen gegen Flüchtlinge auf, aber Brüssel und deutsche Politiker schweigen, mahnt Erich Rathfelder in der taz: "Dieses Schweigen macht misstrauisch. Soll die Migrationsproblematik ganz 'pragmatisch' auf den seit dem Krieg der neunziger Jahre verarmten und fragilen Staat Bosnien und Herzegowina abgewälzt werden? Sollte sich das Szenario einer anschwellenden Migrationsbewegung über die Balkanroute bewahrheiten - woran kaum zu zweifeln ist -, würde Bosnien und Herzegowina als eine Art 'europäisches Libyen' weiter destabilisiert."

In Berlin fand gestern "die bundesweit größte Demo der AbtreibungsgegnerInnen" statt, berichtet ein Reporterinnenteam in der taz. Immerhin 6.000 bios 8.000 Menschen protestierten, gebremst von einer feministischen Gegendemo, gegen das Recht auf Abtreibung: "Grußworte schickten neben der antifeministischen Publizistin Birgit Kelle oder dem Vorsitzenden der Werteunion Alexander Mitsch auch mehrere Bundestagsabgeordnete der Union, darunter Philipp Amthor und Sylvia Pantel."

Wenn man überlegt, welchen Aufruhr der Fall Skripal in Großbritannien erregte, so ist das deutsche Schweigen um den Mord an dem tschetschenischen Regimegegner Zelimkhan Khangoshvili im Berliner Tiergarten um so unheimlicher. Auch die deutsche Presse interessiert sich nicht sonderlich für den Fall. Es ist nicht das erste Mal, dass ein Regimegegner von gedungenen Mördern außerhalb Tschetscheniens ermordet wurde, berichtet Shaun Walker in einem Hintergrundartikel im Guardian, der zugleich darauf aufmerksam macht, wie schlecht tschetschenische Regimegegner in Europa behandelt werden: "Wer auch immer den Mord anordnete, er unterstreicht noch einmal, wie gefährlich Tausende von Tschetschenen in Europa leben, die Rache aus der Heimat fürchten müssen und zugleich kein Asyl bekommen. Deutschland hatte Khangoshvili und seiner Familie Asyl verwehrt und ihm trotz seiner Gefährdung keinen Schutz gegeben."
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Politik

So schwer hat sie es sich nicht vorgestellt, für die Freiheit in Hongkong zu kämpfen, bekennt die Aktivistin Glacier Kwong in der Welt. Weitermachen will sie trotzdem "Ich werde oft gefragt: 'Glaubst du wirklich, dass du gewinnen kannst?' Die Annahme hinter dieser Frage ist, dass die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) solch ein riesiges und unerschütterliches Regime darstellt, wie kann ich da annehmen, dass ich von denen Zugeständnisse bekomme? Die KPCh ist genau das: böse, riesig und unerschütterlich. Der Grund jedoch, warum ich vor langer Zeit Aktivistin geworden bin, ist nicht, weil es Hoffnung gibt, sondern weil es richtig ist."
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Wissenschaft

Daniela Wakonigg resümiert bei hpd.de die "Jenaer Erklärung", die vergangene Woche anlässlich der 112. Jahrestagung der Deutschen Zoologischen Gesellschaft in Jena von Zoologen, Evolutionsforschern und Genetikern vorgestellt wurde (hier als pdf-Dokument). Deren wichtigster Satz ist: "Das Konzept der Rasse ist das Ergebnis von Rassismus und nicht dessen Voraussetzung". Äußere Merkmale, an denen Rassisten ihre Abwertung von bestimmten Menschengruppen festmachen, so erläutert Wakonigg weiter, "seien oberflächliche und biologisch leicht wandelbare Anpassungen an geografische Gegebenheiten. Bis vor 8.000 Jahren seien die Menschen in Europa noch 'stark pigmentiert' gewesen. Erst durch die Einwanderung von Menschen mit hellerer Hautfarbe aus Anatolien und dem damit einsetzenden Beginn der Landwirtschaft habe sich dies geändert, da es sich bei einer stark pflanzenbasierten Kost im dunklen Winter Europas als evolutionärer Vorteil erwies, hellere Haut zu haben und damit genügend Vitamin D produzieren zu können."
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Gesellschaft

Im Interview mit der Berliner Zeitung verteidigt der Kulturwissenschaftler Joseph Vogl den Mietendeckel des Berliner Senats: "Es macht ein wenig Hoffnung. Seit langem scheinen wir uns in einer Situation zu befinden, die durch eine Sklerose der politischen Einbildungskraft gekennzeichnet ist. Man kann sich eher das Ende der Welt als das Ende des Kapitalismus vorstellen. Änderungen sind nicht in Sicht. Und dann plötzlich das: Ein konkreter Notstand wird klar definiert, Widerstand organisiert, und die Politik reagiert sogar. Offenbar sind doch recht viele der Meinung, dass wir nicht unbedingt in der besten aller ökonomischen Welten leben."
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Stichwörter: Mietendeckel, Vogl, Joseph

Medien

Kritisch beleuchtet Axel Bojanowski in den Uebermedien die in diesen Tagen verstärkte Berichterstattung der Medien zum Klimawandel: "Die Komplexität des Klimawandels darzustellen, kann Journalisten in die Ecke der 'Klimaleugner' manövrieren, das ist jene häufig politisch motivierte Gruppe, die Risiken des Klimawandels herunterspielt, dem Stand der Forschung widersprechend. Folge des Ausgrenzungsdrucks ist eine beachtliche Homogenisierung der Berichterstattung zum Klimawandel. Diese Woche erreicht sie einen neuen Höhepunkt."
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Stichwörter: Klimawandel, Klimakrise