9punkt - Die Debattenrundschau

Unvermeidlicher Konflikt

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
17.07.2019. Welt-Autor Thomas Schmid ist froh über die Wahl Ursula von der Leyens zur Kommissionspräsidentin: Die EU bleibt handlungsfähig. Amerikanische Medien diskutieren über Trumps rassistische Tweets. Klar ist er ein Rassist, schreibt David Remnick in der New York Times. Und die Extreme werden durch den Streit gestärkt, schreibt David Brooks ebendort. Eine moderne Stadtpolitik nutzt den Bobos und schadet der Peripherie, konstatiert der Standard bei einem Paris-Spaziergang.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 17.07.2019 finden Sie hier

Politik

In dem Dreieck zwischen Nancy Pelosi, die eine gemäßigte Linie der Demokraten verficht, dem "Squad" - also dem Quartett linker junger demokratischer Abgeordneter um Ilhan Omar und Alexandria Ocasio-Cortez - und Donald Trump werden vorerst die illiberalen linken und rechten Kräfte obsiegen, schreibt der New York Times-Kolumnist David Brooks: "Trump hat ein starkes Interesse daran, die Linken in der Demokratischen Partei oben zu halten, und er hat einen großen Einfluss auf die Partei. Als Pelosi versuchte, den Squad zu marginalisieren, schickte Trump ein rassistisches Tweet gegen die Squad-Mitglieder raus. Die Demokraten reagierten wie erwartet, und der Squad war wieder das Element, das die demokratische Partei definiert. Es ist zu erwarten, dass sich dieses Muster wiederholt."

Klar ist Donald Trump ein Rassist, und er hat mit dieser Agenda gewonnen, schreibt David Remnick ebenfalls in der New York Times: "Die Ansichten des Präsidenten liegen deutlich zu Tage: Schwarze Sportler, die gegen Polizeigewalt protestieren, sind 'Hurensöhne'. Afrikanische Länder sind 'Scheißlöcher'. Und es gibt 'gute Leute' zwischen den Schurken, die in Charlottesville mit Fackeln herumliefen und 'Blut und Boden' und die 'Juden werden uns nicht vertreiben' riefen."

John Blake will bei CNN nach Trumps rassistischen Tweets zwar noch nicht die Parallele zum amerikanischen Bürgerkrieg ziehen, sehr wohl aber zu den Jahrzehnten, die zu ihm hinführten und in denen jede Brücke zwischen "zwei Amerikas" verschwand: "Trumps Tweets zeigen, dass wir uns ab jetzt in einem neuen 'unvermeidlichen Konflikt' befinden. Wir können nicht auf Dauer zugleich das Land sein, das Immigranten  und religiöse Vielfalt willkommen heißt, während wir Kinder in Käfige sperren und mit den Schultern zucken, wenn der Präsident rassistische Bemerkungen macht. Um einen anderen Präsidenten,  Abraham Lincoln, zu paraphrasieren: Wir werden entweder das eine oder das andere werden."

Wenn zwei Lobby-Organisationen die Israelpolitik im Bundestag steuern wollten, wie der Spiegel neulich behauptete (unsere Resümees), haben sie ein Stück weit versagt, denn die Zahl der Politiker, aber auch Wissenschaftler, die gegenüber BDS "Differenzierung" fordern und praktizieren, ist immer noch erstaunlich hoch, konstatiert Thomas Thiel in der FAZ, unter andem Blick auf eine Resolution um die Islamwissenschaftlerin Gudrun Krämer, die in Zeit online veröffentlicht wurde. Aber die Ziele von BDS laufen auf eine Abschaffung Israels hinaus, so Thiel: "Dass der BDS die zynische Konsequenz seiner Forderungen nur über den Umweg des Anti-Zionismus formuliert, ist eine Perfidie, die deutsche Wissenschaftler um die Berliner Islamforscherin Gudrun Krämer nicht davon abhält, eine differenzierte Debatte mit einer Bewegung zu fordern, die jede Verhandlung und friedliche Lösung ablehnt und ein Ziel vorgibt, das nur mit kriegerischen Mitteln zu erreichen ist. Man sagt nicht: Wir wollen Israel oder die Juden vernichten, man sägt lieber an ihrer Existenzgrundlage und lässt andere den blutigen Rest verrichten. "
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Gesellschaft

Eine moderne Stadtpolitik der Nachhaltigkeit, der Reduzierung von Autos und der Prüfung der Luftqualität ist eben auch eine Politik, die mehr den Bobos und weniger den Leuten zugute kommt, schreibt Christoph Winder in einem Paris-Spaziergang für den Standard mit Blick auf die hochmodische Politik der Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo: Die Bobos " können sich relativ bequem mit Bus, Metro, Rad oder zu Fuß zwischen ihren Lebens- und Arbeitsbereichen hin- und herbewegen. Weitere Transfers mit öffentlichen Verkehrsmitteln von einem Wohnort in einer, sagen wir, nordwestlichen Banlieue zu einer Arbeitsstelle im Südosten können dagegen gern einmal zwei Stunden oder mehr in Anspruch nehmen."
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Stichwörter: Paris, Nachhaltigkeit, Banlieue

Internet

In der Edge.org-Reihe "Possible Minds", die die SZ übersetzt, fürchtet Venki Ramakrishnan, Nobelpreisträger für Chemie, den Kontrollverlust, den die Künstliche Intelligenz mit sich bringt: Früher konnte man sich noch sagen, dass es die eigenen Algorithmen waren, die die Maschine zu einer besonderen Leistung brachten. "Die neuen Maschinenlernprogramme sind anders. Nachdem sie Muster über tiefe neuronale Netze erkannt haben, kommen sie zu Schlussfolgerungen, und wir haben keine Ahnung, wie das geschieht. Wenn sie Beziehungen aufdecken, verstehen wir sie nicht so, als ob wir diese Beziehungen selbst unter Verwendung eines zugrunde liegenden theoretischen Rahmens abgeleitet hätten. Da die Datensätze größer werden, werden wir sie auch mithilfe von Computern nicht mehr selbst analysieren können, sondern wir werden uns ganz auf Computer verlassen, um die Analyse für uns durchzuführen. Wenn uns also jemand fragt, woher wir etwas wissen, werden wir einfach sagen, dass die Maschine die Daten analysiert und die Schlussfolgerung gezogen hat."
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Kulturpolitik

Götz Aly sieht in seiner Berliner-Zeitung-Kolumne nach all dem Tohuwabohu um das Jüdische Museum Berlin nun Hoffnung für das Haus: "Zum Team des JMB gehören weit mehr als hundert motivierte, gut ausgebildete Leute. Sie sollten den seit einigen Jahren eingerissenen autoritär-unkommunikativen Führungsstil von innen her aufweichen. Sie reden untereinander und halböffentlich darüber, wo sie die Probleme sehen, und es gibt für sie genügend Gründe mit dem wunderbar erfahrenen Christoph Stölzl, der in der Krise als Vertrauensperson eingesetzt wurde, über alle Hemmnisse und Unzulänglichkeiten zu sprechen."
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Europa

"Die Kandidatin, die ursprünglich gar keine war, wurde von einem Parlament gewählt, das eigentlich nur einen Spitzenkandidaten an der höchsten Stelle der Kommission sehen wollte", resümiert Welt-Autor Thomas Schmid die Wahl Ursula von der Leyen zur EU-Kommissionspräsidentin. Aber alles in allem ist er froh: "Die EU befindet sich in keinem guten Zustand. Von der Seennotrettung über Grenzsicherung, Migrationspolitik, Verteidigung bis zu Technologiepolitik und Digitalisierung kann sie nicht so geschlossen handeln, wie es dringend nötig wäre. Sie erodiert von innen, zuletzt vor allem durch ihren Ost-West-Konflikt. In dieser Situation wäre eine monatelange Verzögerung der Wahl des Kommissionspräsidenten ein gefährlicher Beleg für den scheinbar unerschütterlichen Hang der EU gewesen, sich mit sich selbst zu beschäftigen, während sich draußen das Rad der Geschichte unerbittlich weiterdreht." Und Gabor Steingart attestiert ihr in seinem Morgen-Newsletter: "Sie hat die richtige Rede am richtigen Tag gehalten. Die wichtigste Zutat: der Ton. Plötzlich klang Europas Zukunft nicht mehr nach Zumutung, sondern nach Zuversicht."

Dreißig Jahre nach dem Mauerfall stehen DDR-Apologeten auf und behaupten, die DDR sei 1989 nicht pleite gewesen. Ziemlich akribisch geht Richard Schröder in der Welt ihre Argumente durch und kommt zu dem Schluss: "Die Behauptung, die DDR sei 1989 nicht pleite gewesen, ist richtig, aber nicht wahr. Richtig ist, dass die DDR 1989 noch immer bei westlichen Banken als korrekt zahlender, solventer Schuldner galt und insofern als kreditwürdig. Das war sie aber in Wahrheit gar nicht mehr. Denn ihre Kreditwürdigkeit war nur ein westlicher Irrtum, den die DDR durch Vorspiegelung falscher Tatsachen gezielt erzeugt hat. Das könnte man tatsächlich eine 'Schuldenlüge' nennen."
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