9punkt - Die Debattenrundschau

Das süße Leben

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
08.07.2019. Selbst die treuesten Putin-Anhänger sind Freunde des Westens, beteuert Viktor Jerofejew in der FAZ. Und Boris Johnson ist ein Kumpel  des Oligarchensohns Jewgeni Lebedew, dessen Vater als KGB-Agent sehr reich wurde, erzählt Open Democracy. Dass die Bundesregierung den Jahrestag des Mauerfalls fast vergessen hätte, ist ein Symptom, schreibt Hubertus Knabe in seinem Blog. In der Allgemeinen Zeitung erklärt Necla Kelek, was Feminismus mit dem Klimawandel zu tun hat. In der NZZ erklärt Richard Swartz, was West- und Osteuropa trennt.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 08.07.2019 finden Sie hier

Europa

Dass die Bundesregierung das Jubiläum der Wiedervereinigung im nächsten Jahr fast vergessen hätte, ist für Hubertus Knabe ein Symptom. Die Wende werde von vielen hier nicht mehr als besonders feiernswertes Ereignis angesehen, schreibt er in seinem Blog. Und die einzigen, die noch zu schätzen wissen, dass die DDR zusammengebrochen ist, nämlich ihre ehemaligen Opfer, sind mit null komma null Personen im Festkomitee vertreten! Sie können sich auch nicht darüber freuen, wie gut es den ehemaligen Funktionären der DDR geht: "Schwer zu verstehen ist für sie vor allem die Tatsache, dass die Staatspartei der DDR 1990 weder aufgelöst noch verboten wurde. Auf diese Weise konnte sie nicht nur ihr riesiges Vermögen - und sämtliche Kaderakten - beiseiteschaffen, sondern auch einen erheblichen Teil ihrer Organisationskraft in die neue Zeit retten. Dass der Hauptverantwortliche, der damalige SED-Vorsitzende und heutige Linken-Abgeordnete Gregor Gysi, unlängst von der Philharmonie Leipzig eingeladen wurde, um bei einem Gedenkkonzert für die Friedliche Revolution vor 30 Jahren zu sprechen, ist für viele blanker Hohn."

Völlig anders ist die Stimmung in Tschechien und der Slowakei, schreibt Siegfried Mortkowitz bei politico.eu: "Dreißig Jahre nach der Samtenen Revolution nutzen Tschechen und Slowaken einmal mehr Massenproteste auf der Straße, um die politische Landschaft durcheinanderzuwirbeln. Die heutigen Demonstranten sagen zwar, dass sie sich von dem Aufstand von 1989 inspirieren lassen, der den Kommunismus in der damaligen Tschechoslowakei zu Fall brachte, aber der Kampf ist heute ein anderer: Sie verteidigenden das geltende politische System - die liberale Demokratie -, statt es zu Fall bringen zu wollen."

Die Europäer haben in weiten Teilen den Zweiten Weltkrieg noch nicht verdaut. Dazu kommt, dass viele osteuropäische Länder vor der Wende kaum größere Erfahrungen mit der Demokratie gemacht hatten, erinnert im Interview mit der NZZ der schwedische Schriftsteller Richard Swartz, der zu erklären versucht, warum Ost- und Westeuropa statt zusammenzuwachsen eher weiter auseinander gehen. "Es geht hier freilich um Prozesse von langer Dauer. Es wird nicht so rasch gehen, bis die historischen Wunden verheilt sind. Unterschiedliche Prägungen gibt es bis in den Alltag. Ich bin mit einer Kroatin verheiratet, die Unterschiede sind nicht dramatisch, aber sie zeigen sich etwa im Verständnis des Kompromisses als eines Vehikels westlichen Lebens. Bei unterschiedlichen Meinungen versucht meine Frau, die Schriftstellerin Slavenka Drakulić, hartnäckig, mich von ihrer Position zu überzeugen, während ich sofort ein Niemandsland suche, wo wir uns treffen können. Meine Einstellung ist für sie 'pragmatischer Opportunismus', ihre dagegen eine 'prinzipielle'. Etwas zugespitzt: Sie sitzt auf ihren Werten, während ich nur eine Lösung finden will."

Spöttisch kommentiert Viktor Jerofejew Wladmir Putins Äußerung über den "überholten" Liberalismus (mehr hier). Noch spöttischer sieht er, dass der Europarat Russland wieder aufgenommen hat und somit die Annexion der Krim mehr oder weniger santkioniere. Man dürfe halt Russland nicht den Chinesen überlassen. Das sähen Putins engste Vertraute ebenso: "Selbst die linientreusten Kreml-Propagandisten... arbeiten für den Kreml hauptsächlich, um mehr Geld für das süße Leben im Westen zu haben, für die Ausbildung ihrer Kinder an prestigeträchtigen Universitäten und die Verlängerung ihres kostbaren Lebens in teuren Kliniken. Privat sind sie für den Westen, dienstlich bekämpfen sie ihn. Zynismus, sagen Sie? Das ist denen vollkommen wurst..."

Boris Johnson ist eng verkumpelt mit dem Oligarchensohn Jewgeni Lebedew und hat sich einige Male im Privatjet in dessen Palazzo bei Perugia fliegen lassen, wo rauschende Parties gefeiert werden, berichtet James Cusick in Open Democracy: Jewgenis Vater, Alexander Lebedew, "war in den 1980er Jahren KGB-Agent in der russischen Botschaft in London und arbeitete später für die Nachfolgeorganisation FSB. Wie viele andere nutzte er das wirtschaftliche Chaos der Jelzin-Ära, um riesigen Reichtum zu erwerben. Er baute eine kleine russische Bank zu einer der größten russischen Banken aus, erwarb Anteile an Aeroflot und eine Beteiligung an der russischen Flugzeugbauindustrie und hielt bedeutende Anteile an Gazprom, einem der größten russischen Unternehmen, das sich heute mehrheitlich im Besitz der russischen Regierung befindet."

Deutsche Politiker unterstützt mit ihrer Unterstützung Carola Racketes und der Ignorierung italienischen Rechts die europäische - und die deutsche - Rechte, meint im Tagesspiegel die Juristin Fatina Keilani. "Ob Carola Rackete italienisches Recht gebrochen hat und wie mit ihr zu verfahren wäre, dazu haben sie sich schlicht nicht zu äußern. Mit Moral lässt sich hier nicht argumentieren. Das Recht ist die geronnene Moral einer Gesellschaft. Im Ausland betrachtet man das Verhalten der Deutschen mit Befremden. Früher marschierten sie ein, jetzt wollen sie mit ihrer moralischen Besserwisserei belehren, ist der Tenor vieler ausländischer Medien. Italiens Innenminister Matteo Salvini erfreut sich als Folge der Affäre an Rekord-Zustimmungswerten."

In der Welt kann Dirk Schümer das nur bestätigen: "Jedes neue Flüchtlingsboot bringt ihm neue Wähler. Und jedes deutsche Rettungsboot, jede Einmischung deutscher Politiker befeuert bei vielen Italienern von rechts bis links die Unbeliebtheit Deutschlands als moralischer Supermacht."
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Gesellschaft

Der Islamismus beginnt dort, wo die Gewalt beginnt, soll Angela Merkel gesagt haben. Alice Schwarzer kritisiert diesen Satz im Interview mit Susanne Gaschke von der Welt am Sonntag: "Islamismus beginnt dort, wo die naturwissenschaftliche Lehre von der Entstehung der Welt unterdrückt wird, wo sogenannte 'Ungläubige' verachtet werden, wo Kinder schon in der Kita nach Geschlechtern getrennt werden, wo Brüder ihre Schwestern und Söhne ihre Mütter bevormunden, wo das islamische Kopftuch, das Haar und Körper der Frauen als 'sündig' bedeckt, unhinterfragt akzeptiert wird. Er beginnt mit alltäglichem Sexismus und Antisemitismus."
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Politik

Einen überraschenden feministischen Blick wirft Necla Kelek in der Mainzer Allgemeinen Zeitung auf das Thema Klimawandel, der ja auch durch das Bevölkerungswachstum ausgelöst wird: "Bevölkerungswachstum ist menschengemacht. Aber nicht unbedingt gewollt. Jedes Jahr werden 89 Millionen Frauen, viele bereits im Kindesalter, in den Entwicklungsländern ungewollt schwanger. In den Staaten mit hohen Geburtenraten gibt es meist keine Familienplanung, keine Verhütungsmittel und es lastet durch Männer und patriarchale Verhältnisse ein enormer Druck auf den Frauen, Kinder zu bekommen. Wenn wir etwas tun wollen gegen die Klimaerwärmung, müssten wir neben klimafreundlichem Verhalten etwas für die Mädchen und Frauen in diesen Ländern tun."
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Urheberrecht

Die Fotografin Lynn Goldsmith, die in New York gegen die Warhol-Stiftung geklagt hat,  bekommt keine Tantiemen aus einem von Andy Warhol mit seinen üblichen Siebdrucktechniken aufgehübschten Prince-Porträt, berichtet Rose-Maria Gropp in der FAZ. Der Fall sei wichtig, um die Frage der "Appropriation" urheberrechtlich zu klären, also die Aneignung fremder Werke in künstlerischen Bearbeitungen: "Der New Yorker Richter kam zu dem Ergebnis, dass im Fall von Warhols Bearbeitung des Prince-Motivs keine Urheberrechtsverletzung vorliege und urteilte, dass Warhols Werke durch den 'Fair Use' geschützt seien, als Transformationen der Fotografie."
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Geschichte

Jochen Staadt vom Forschungsverbund SED-Staat an der Freien Universität Berlin beleuchtet in der FAZ die Aktivitäten der Stasi in der Westberliner Studentenbewegung und kommt nochmal auf die Beiträge des Marburger Politologen Wolfgang Abendroth zur Gründung einer neuen kommunistischen Partei in Westdeutschland zu sprechen. Abendroth hatte mal als linker Kritiker der DDR angefangen, so Staadt: "Sein Meinungsumschwung über den SED-Staat setzte 1966 ein. Am 17. Juni 1967, zur gleichen Zeit als Rudi Dutschke in Berlin 'terroristische und bürokratische Methoden des Kommunismus' scharf angriff, sprach Abendroth in Frankfurt am Main über 'die Existenz eines funktionierenden und prosperierenden sozialistischen Staates auf deutschem Boden', der 'trotz aller bürokratischen Schranken' wegen der gleichzeitigen Wirtschaftskrise im Westen 'erstmalig nach dem Kriege' den 'westdeutschen Kapitalismus als System' in Frage stelle."
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