9punkt - Die Debattenrundschau

Unklare Verhältnisse

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
03.07.2019. Die FAZ erklärt, was es heißt, wenn eine offizielle Handreichung für Museen das Osmanische Reich plötzlich nicht mehr als ehemalige Kolonialmacht sieht. Die taz freut sich, dass mit den Fernsehgebühren alles bestens läuft - immerhin musste man 45 Millionen Haushalte überprüfen. Die SZ hat herausgefunden, dass China eine Überwachungssoftware auf die Handys von Touristen speichert: Es wird geraten vor der China-Reise alle Dateien über den Dalai Lama zu löschen! Libération staunt über "La surprise de la cheffe". Und die SZ findet "toxisch" so "toxisch" wie "hysterisch".
Efeu - Die Kulturrundschau vom 03.07.2019 finden Sie hier

Europa

Und Libération hat mal wieder das hübscheste Cover zur Meldung des Tages: Ursula von der Leyen wird der neue Jean-Claude Juncker.
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Religion

Im Iran wird der Sufismus immer beliebter: Er bietet eine Möglichkeit, seine Religion auszuleben, ohne mit dem Regime gemeinsame Sache zu machen. Den herrschenden orthodoxen Klerikern im Land passt das überhaupt nicht, berichtet Elisabeth Kiderlen in der SZ: "Immer wieder wurden in den letzten Jahren Gebets- und Versammlungsorte der Sufis geschlossen, manchmal, wie in den Städten Ghom und Isfahan, auch mit Bulldozern planiert. Sie wurden geschlagen und ins Gefängnis geworfen. Ihre Beliebtheit löst bei der Geistlichkeit Konkurrenzängste aus, denn sie trifft die Religionsgelehrten auf ihrem ureigenen Terrain. Allein durch ihr Dasein unterlaufen die Sufis die enge Verbindung von Politik und Religion."
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Stichwörter: Iran, Sufismus

Medien

Leicht deprimiert klingt Nora Sefas FAZ-Bericht über die Zahlungsbereitschaft von Internetnetnutzern für Online-Medien. Sie bezieht sich auf ein Whitepaper der Medienanstalt NRW (hier als pdf-Dokument): "Bei zehn Euro pro Monat für Online-Abonnements liegt bei den Leserinnen und Lesern die Schmerzgrenze. Mehr sind die meisten nicht bereit zu zahlen. Ein Blick in die Angebote führender Tages- und Wochenzeitungen aber zeigt: Kaum eine Publikation liegt unter den besagten zehn Euro." Das stimmt natürlich nicht ganz: Die New York Times, auch keine schlechte Zeitung, ist ab "1 Dollar pro Woche" zu haben. Das FAZ-Epaper-Abo liegt bei 45 Euro im Monat.

Libération publiziert einen zornigen, von einem Kollektiv verfassten Aufruf gegen geplante neue Bestimmungen im französischen Presserecht. So soll etwa der Tatbestand der Beleidigung dem Presserecht entzogen und ins allgemeine Strafrecht überführt werden - mit weniger spezialisierten Richtern und weniger Möglichkeiten für Journalisten, ihren guten Willen darzulegen. Hat die Regierung Macron ein Problem mit der Presse, fragen die Autoren. Und man muss wohl antworten: ja. Da gibt es etwa die "loi Fake news", "die die Kompetenzen des Conseil supérieur de l'audiovisuel (CSA) (der französischen Medienaufsicht, d.Red.) noch weiter ausdehnt und einen Keim von Zensur enthält. Und die angekündigte Reform des audiovisuellen Berichs  bedeutet noch mal eine Ausdehnung dieser Kompetenzen des CSA. Müssen wir daran erinnern? Diese Instanz, deren Mitglieder von der Regierung ernannt werden, ist keineswegs unabhängig."
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Gesellschaft

In der SZ erklärt Nicolas Freund, warum er den Begriff "toxische Männlichkeit" problematisch findet: Er erinnert ihn an den ebenso fatalen Begriff der "hysterischen Frau", der eine ganz Reihe von Klischees prägt. "Der Begriff der Hysterie war für medizinische Diagnosen nicht immer ganz falsch, aber heute ist er vor allem verzerrend und irreführend. Ganz ähnliches gilt für die Toxizität, insbesondere, wenn sie als Eigenschaft im Zusammenhang mit dem biologischen Geschlecht angeführt wird. Das führt auch schnell zu einer Argumentationsweise, in der das Geschlecht oder möglicherweise auch die Hautfarbe oder die Herkunft der Eltern als Begründungen für alles Mögliche herhalten können. Alles Faktoren, für die der Einzelne nichts kann."

Außerdem: In der NZZ macht Urs Hafner seinen Frieden mit der Vulva als neuem Symbol für einen alle Frauen vereinigenden Feminismus, "auch wenn es 'die Frauen' nicht gibt".
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Kulturpolitik

Endlich spricht es mal einer aus: "Der Postkolonialismus ist eine Form von Ideologie", schreibt Andreas Kilb in der FAZ. Er liest die zweite Auflage einer Handreichung des Deutschen Museumsbunds (hier als pdf-Dokument), die auch Sprachregelungen für den Umgang mit Kunst aus kolonialen Kontexten anbietet. Kilb fällt darin eine besonders problematische Akzentverschiebung auf, die das Osmanische Reich betrifft: Es gilt nicht mehr eindeutig als Kolonialmacht, so wie die europäischen Reiche: "Das hat Folgen, geschichtspolitisch wie museumspraktisch. Denn als Nichtkolonialmacht wechselt das Osmanische Reich im postkolonialen Diskurs auf die Opferseite, wo es zur Beute des Deutschen Reiches wird, das sich in den Bau der Bagdadbahn einklinkt, 'um sich die Ressourcenabtragung (Ausplünderung) der vorderasiatischen Gebiete zu sichern'. Deshalb seien Funde aus dem heutigen Irak, aus Syrien, dem Libanon, Jordanien und Israel 'genauso zu behandeln wie Objekte aus formalen Kolonialherrschaften'." Und dadurch stehen etwa die Sammlungen des Pergamonmuseums in einem anderen Licht!
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Ideen

Dass die Menschen immer weniger an der Sozialdemokratie und der Linken interessiert sind, hat auch damit zu tun, dass ihr Ziel - Umverteilung des Reichtums - heute weitgehend erreicht ist, meint der italienische Philosoph Maurizio Ferraris in der NZZ. Auch die von körperlicher Anstrengung und Entfremdung geprägte Arbeitskultur, die sie früher bekämpfte, ist weitgehend verschwunden. Wie sich also neu erfinden? Wertschöpfung besteht heute im Generieren von Daten durch Konsum - da muss man ansetzen, meint Ferraris und fordert eine "Vergesellschaftung des Big-Data-Kapitals": "Wenn die Wähler, die nicht arbeiten wollen (und kein Interesse an einem besonders hohen Einkommen haben), begreifen, dass sie bezahlt werden könnten, um zu konsumieren, und wenn diejenigen, die viel verdienen wollen, begreifen, dass die Linke mehr als jede andere politische Kraft den Konsum fördert und kein gewerkschaftliches Ungemach bereitet (die Arbeit wird ja von Maschinen erledigt), dann wird die Linke die verlorenen Stimmen zurückgewinnen. Und dies nicht dank wahlkampftechnischen Zaubereien, sondern aus strukturellen Gründen."
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Überwachung

Alles steht zum Besten mit dem Eintreiben der Gebühren für die öffentlich-rechtlichen Sender, freut sich Steffen Grimberg in der taz. Dass dabei ein Datenimperialismus betrieben wird, der Google vor Neid erblassen lassen könnte, fällt nicht so ins Gewicht: "Der wiederholte Meldedatenabgleich - einen ersten hatte es 2013 zur Umstellung von der Gerätegebühr auf den Rundfunkbeitrag gegeben - war .. deutlich unaufwändiger und damit billiger als geplant. Hier wird mittels aller Daten der Einwohnermeldeämter vom Beitragsservice gegengecheckt, ob sich hinter jeder der gemeldeten Wohnungen auch eines der rund 45 Millionen Beitragskonten verbirgt. Fallen unklare Verhältnisse auf, werden die betreffenden Personen angeschrieben."

Auf der Seite 3 der SZ berichtet ein Reporterteam über eine Polizei-App, die sich Touristen an der Grenze zur Provinz Xinjiang von den chinesischen Sicherheitsbehörden auf ihr Handy spielen müssen. "Die App greift auf etliche Informationen auf dem Smartphone zu, darunter auf Kontakte, Kalender, SMS, Standort oder Anruflisten und überträgt diese an einen Computer der Grenzpolizei. Außerdem sucht die App auf dem Handy nach Dateien, die aus Sicht der chinesischen Regierung verdächtig sind - dazu gehören Pamphlete von Islamisten, aber auch harmlose religiöse Inhalte sowie Dateien mit Bezügen zu Taiwan oder Tibet. Betroffen sind Reisende, die im Westen über den Landweg in die chinesischen Provinz Xinjiang einreisen", heißt es in einer die wesentlichen Punkte zusammenfassenden Kurzversion des Artikels.

Was die Touristen erleben ist aber noch nichts gegen die Überwachung der muslimischen Uiguren in Xinjiang, erklärt im Interview mit SZ online Adrian Zenz, Wissenschaftler aus Stuttgart und laut SZ "einer der führenden Xinjiang-Experten weltweit": "Die Überwachung in Xinjiang ist allumfassend. Es geht darum, dass man für jeden Menschen zweifelsfrei nachweisen kann, was er macht, was er sagt, was er denkt. Einerseits nutzt der Staat die digitalen Möglichkeiten. Es hat aber auch die Anzahl der Polizeikräfte erhöht. Regierungsbeamte fahren regelmäßig die Dörfer ab und besuchen die Menschen zu Hause in ihren Wohnungen."
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