9punkt - Die Debattenrundschau

In abenteuerlicher Weise politisch blind

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
17.06.2019. Nach der Ermordung des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke hat die Polizei einen Rechtsextremisten verhaftet. Die FAZ würde gern auch den ganzen sympathisierenden Schwarmextremismus hinter Gitter sehen. In der SZ attackiert der Soziologe Jessé de Souza die koloniale Elite, die Brasilien ausbeute wie einst die Belgier den Kongo. Im Tagesspiegel sieht Michael Wolffsohn in der Universalisierung der deutschjüdischen Geschichte vor allem eine Entjudaisierung. Auch zehn Jahre nach dem Tod von Ralf Dahrendorf wehren sich die Deutschen noch immer gegen die westliche Moderne, seufzt die NZZ.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 17.06.2019 finden Sie hier

Politik

Im Fall des ermordeteten Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke wurde Haftbefehl gegen einen mutmaßlichen Rechtsextremisten erlassen, berichtet Katharina Iskandar in der FAZ, wo sich Jasper von Altenbockum noch viel härteres Durchgreifen wünscht: "Der Staat hat es im Fall Lübckes gar zugelassen, dass noch im Tod auf einen seiner Repräsentanten gespuckt wird. Möglich wurde das nur, weil zu lange vor der verführerischen Macht 'sozialer' Netzwerke gekuscht wurde. Auch das gehört zum Kapitel Digitalisierung: der schleichende Autoritätsverlust des Staates, die Verharmlosung des Schwarmextremismus. Wer auch immer das Leben Lübckes auf dem Gewissen hat, er hat und hatte Sympathisanten, die vor Gericht gehören." Matern Boeselager dokumentiert auf Vice die Kampagne, mit der Rechtsextreme gegen Lübcke agitiert haben.

Im SZ-Interview mit Ingo Arend beschreibt der inzwischen in Berlin lebende, braslianische Soziologen Jessé de Souza, wie gnadenlos Präsident Jair Bolsonaro seinen Kulturkrieg führt, Affekte mobilisiert und den Hass auf die Armen und Intellektuellen schürt: "Bolsonaro hat die Elite hinter sich. Und die brasilianische Elite ist eine koloniale Elite. Es gibt nicht das klassische Bürgertum wie in Europa. Unsere Elite beutet ihr Volk aus wie einst die Belgier im Kongo. Aber Bolsonaros eigentliche soziale Basis ist die untere Mittelschicht. Und deren Angst ist es, proletarisiert zu werden. Was bei uns bedeutet, zum 'Untermenschen' zu werden: ohne Rechte, ohne Anerkennung. Bolsonaros Bollwerk ist dieser rechte Flügel der unteren Mittelschicht. Daher rührt auch sein Antiintellektualismus. Diese Schicht hat eine Art ambivalente Identifizierung mit ihrem Unterdrücker: Sie beneidet und sie hasst die gehobene Klasse."

Die Hongkonger haben sich nicht vom taktischen Rückzug ihrer Regierungschefin täuschen lassen und gehen weiterhin auf die Straße gegen das Auslieferungsgesetz. In der FAZ kann Peter Sturm nur hoffen, dass andere genauso viel Weitsicht beweisen: "Eine wichtige Rolle werden Wirtschaftsführer zu spielen haben. Sie, die sich in der Vergangenheit in abenteuerlicher Weise politisch blind gezeigt haben, waren ob der anstehenden Gesetzesänderung endlich auch nachdenklich geworden. Ihr Wort hat Gewicht in Hongkong. Sie werden sicher nicht über Nacht zu Menschenrechtlern. Aber selbst sie könnten einsehen, dass Freiheit nicht nur für Kapital und Dienstleistungen eine Errungenschaft der Menschheit ist." Im Guardian deutet Louisa Lim sacht an, dass die beeindruckende Protestbewegung eine Strategie bräuchte, um zu verhindern, dass China den Status Quo Hongkong aushebelt.
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Ideen

Zu Ralf Dahrendorfs zehntem Todestag erinnert der Politik- und Wirtschaftswissenschaftler Gernot Volger in der NZZ an den großen Liberalen, der den Deutschen in puncto Modernität nicht viel zutraute: "'Wahrscheinlicher als die Etablierung der Verfassung der Freiheit scheint der moderne Autoritarismus.' In Deutschland sei 'das Syndrom der rückwärtsgewandten Modernität unverändert lebendig'. Das bedeutet: Nimmt man als Kriterien Industrialisierung, Demokratisierung und Bürokratisierung, unterschied sich die Modernität Deutschlands ab Ende des 19. Jahrhunderts nicht von der Englands und der Vereinigten Staaten. Sie unterschied sich in der Weltanschauung der Deutschen im Vergleich zu den beiden angelsächsischen Nationen: dort Fortschrittsoptimismus, hier ängstliche Abwehr der Moderne. Es war vor allem die antiwestliche deutsche Ideologie, die später zu dem Eindruck führte, Deutschland sei zu Beginn des 20. Jahrhunderts weniger modern als die großen westlichen Länder gewesen."

Weitere Artikel: Die Deutschen sind auf dem besten Wege in die Psychose, prognostiziert der Psychologe Holger Richter in der Welt mit Blick auf die zunehmende Rechts-Links-Spaltung der Gesellschaft.
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Europa

Die Liebe zum schönen Schein lassen sich die Österreicher leider nicht so einfach nehmen, seufzt Eric Frey im Standard mit Blick auf ein mögliches Comeback des inkriminierten Heinz-Christian Strache: "In Teilen der blauen Basis hat Strache durch Ibiza sogar an Popularität gewonnen. Besser ein Außenseiter als ein Vizekanzler Das Image des beherzten Außenseiters, der mit unzähligen Facebook-Postings gegen ein feindliches Establishment kämpft, passt besser zu ihm als das des saturierten Vizekanzlers. Und mit Philippa steht ihm eine Frau zur Seite, die mit Tier- und Kinderliebe dem Idealbild vieler Wähler entspricht. Ihre Kandidatur für die Nationalratswahl ist ein klares Zeichen, dass die Partei die Ibiza-Affäre als erledigt betrachtet."
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Kulturpolitik

Böse Worte richtet Micha Brumlik in der taz an den Zentralrat der Juden, der den Direktor des Jüdischen Museums, Peter Schäfer, in Berlin zum Rücktritt gedrängt hat (9Punkt vom Samstag). Brumlik schimpft über die Aufgabe der jüdischen Gelehrtenkultur und Ärgeres: "Der Rücktritt von Peter Schäfer mag den Zentralrat der Juden mit einem Zuwachs an Selbstbewusstsein erfüllt haben: Tatsächlich hat er einen Pyrrhussieg errungen. Denn es ist dies auch ein Sieg über den Pluralismus innerhalb der jüdischen Gemeinschaft - national wie weltweit. Der Anlass der Rücktrittsforderung - der von dem Museum geteilte Tweet der taz über die Erklärung von 240 jüdischen und israelischen Wissenschaftlern, dass BDS nicht antisemitisch sei, war nämlich alles andere als eine Solidaritätserklärung mit BDS, sondern allenfalls eine Richtigstellung."

Auch im Tagesspiegel nimmt der Historiker Michael Wolffsohn den Judaisten Schäfer in Schutz, sieht aber sehr wohl einen gravierenden Konstruktionsfehler im Jüdischen Museum: "Hier wurde die deutschjüdische Geschichte samt sechsmillionenfachen Judenmordens um die islamische Dimension sowie um die universalistische erweitert - und dadurch letztlich entjudaisiert.  Ohne den eigenen, durchaus gut gemeinten, Ansatz zu Ende zu denken, hat die deutsche Politik und Gesellschaft, ebenso wie das JMB, den innen-, nahöstlichen und weltpolitischen Islam-Nahost-Sprengstoff mit dem jüdischen Thema verflochten und Jüdisches (unfreiwillig?) verwässert...  So gesehen, ist der Fall 'Peter Schäfer und das JMB' weder ein Fall Peter Schäfer noch ein Fall JMB. Das wahre Problem ist die Universalisierung, also das in Deutschland vorherrschende, ins unverbindlich Allgemeine Übertragene von Holocaust und Jüdischer Geschichte. Die deutsche Nahostpolitik befördert diese Entwicklung, denn sie ist ein politischer Zwitter: faktisch iranfreundlich und zugleich deklamatorisch proisraelisch."

"Mit Schäfers Abgang ist es nicht getan", schreibt stattdessen Alan Posener in der Welt und fordert neben einem neuen Direktor auch eine neue Programmdirektorin und eine Neuaufstellung des Stiftungsrates. Denn: "Selbst als Schäfer einen Vertreter der iranischen Botschaft empfing, einer Regierung also, die sich damit brüstet, Israel vernichten zu wollen, und als sich der Direktor des JMB - angeblich - zu der Äußerung habe hinreißen lassen, man müsse ja zwischen Zionismus und Judentum unterscheiden wie zwischen Islam und dem Islamischen Staat, selbst da wurde Schäfer noch von Grütters und dem Stiftungsrat gedeckt, deren politische Agenda sich anscheinend nicht wesentlich von der seinen unterscheidet."
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Gesellschaft

In der SZ bewertet Isabel Pfaff die große Frauendemonstration in der Schweiz nicht nur als Protest gegen ungleiche Löhne, mangelnde Repräsentation und fehlende Kinderbetreuung: "Wenn junge Frauen mitten auf dem Berner Bundesplatz in aller Seelenruhe das Wort 'Vulva' auf ein riesiges Plakat pinseln, wenn sie stolz eine lila Gebärmutter als Symbol ihres Protests in die Höhe halten, wenn sie sich lautstark über die hohe Besteuerung von Tampons ärgern: Dann wird Weiblichkeit neu bewertet. Und Feminismus zu einer Haltung, die Mädchen und junge Frauen selbstbewusst für sich reklamieren."

"Man läuft heute als religiöser Jude nicht mehr mit der gleichen Selbstverständlichkeit durch europäische Städte wie zum Beispiel noch vor zehn Jahren", sagt der Basler Judaist Alfred Bodenheimer im Interview mit der Jüdischen Allgemeinen: "Ich sehe diesen neuen Antisemitismus als eine Erkrankung unserer Gesellschaft. Einer Gesellschaft, die glaubt, sie müsse ihre Probleme dadurch lösen, dass sie ihre Aufmerksamkeit auf gewisse Partikularfragen richtet, die aber an den Problemursachen vorbeigeht. Dadurch werden die grundsätzlichen Probleme aber natürlich nicht gelöst, die Aggressionen gegenüber Minderheiten dafür umso stärker, weil eben die großen Probleme bleiben. Ich glaube auch, dass wir den islamischen Antijudaismus ernst nehmen, aber nicht überschätzen sollten. Man muss sehen: Es gab in Europa schon sehr viele xenophobe Bewegungen, die kamen und gingen." Aber: "Jüdinnen und Juden leben seit 2000 Jahren hier und werden zum Teil trotzdem noch immer als 'Problem' gehandelt. Ich glaube deshalb, dass Antisemitismus eine stärkere Dimension einnimmt als anderer Fremdenhass, was diesen natürlich nicht besser macht."
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