9punkt - Die Debattenrundschau

Der Markt der Anmut

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
15.06.2019. Peter Schäfer, der Direktor des Jüdischen Museums, tritt zurück: taz und FAZ sind irgendwie einig, dass BDS-freundliche Tweets politisch nicht auf Linie sind. In der NZZ denkt Pascal Bruckner über die zunehmende Grausamkeit der Liebe nach. Als karlsruhisch provinziell entlarvt die Welt den Hochmut der Intellektuellen gegen Jürgen Habermas. Im Guardian fragt Fintan O'Toole, warum die Briten eigentlich so auf dem Gefühl der Demütigung herumreiten.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 15.06.2019 finden Sie hier

Kulturpolitik

Peter Schäfer, der Direktor des Jüdischen Museums in Berlin, ist gestern zurückgetreten. In der SZ berichtet Thorsten Schmitz, dass Schäfer schon länger unter Druck stand, weil er sich nicht scharf genug gegen die Israel-Boykott-Bewegung BDS abgrenzte: "Anlass des Furors war diesmal allerdings ein Tweet vom offiziellen Twitter-Account des Jüdischen Museums Berlin. Darin hatte die Pressestelle des Museums ohne Wissen Schäfers unter dem Hashtag #mustread eine Leseempfehlung für einen taz-Artikel gegeben, in dem es um die Kritik von 240 jüdischen und israelischen Wissenschaftlern an einem Beschluss des Bundestages geht. Die Parlamentarier hatten mehrheitlich vor Kurzem die BDS-Bewegung als antisemitisch verurteilt."

In der taz denken Jannis Hagmann und Stefan Reinecke eher, dass hier ein Haus auf Linie gebracht werden soll. Vor allem mit der Ausstellung "Welcome to Israel" habe Schäfer die Pro-Israel-Fraktion gegen sich aufgebracht: "Damals saß Direktor Schäfer in seinem Büro und versuchte akademische Brandmauern gegen die politische Einflussnahme hochzuziehen. Die Kritiker, sagte er, würden immer auf dem Politischen rumhacken. Dabei gehe es in der Ausstellung gar nicht um Jerusalem als Hauptstadt Israels oder der Palästinenser, sondern um die Bedeutung der Stadt für die monotheistischen Religionen. Schäfer ist Wissenschaftler, brillant, sagen viele, aber kein politischer Stratege. Nicht die aufgeheizte Debatte interessiert ihn, sondern die zurückgelehnte Auseinandersetzung mit dem Judentum. Durch die heißen Gewässer des Nahostkonflikts, Debatten über Besetzung und Antisemitismus bewegt er sich erstaunlich gelassen - aber auch mit einem Mangel an Feinfühligkeit, der an Naivität grenzt."

Same, same but different: Im FAZ.net schrieb Andreas Kilb bereits vor Schäfers gestrigem Rücktritt, dass der Direktor natürlich auf Linie sein muss: "Das Jüdische Museum bleibt eine Einrichtung und ein Sprachrohr der deutschen Politik, ganz gleich, welche Freiheiten es sich in einzelnen Fragen nimmt. Form follows function, das gilt auch beim JMB."
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Ideen

Vor Jürgen Habermas' neunzigstem Geburtstag mehren sich die Gratulationen. In der Welt macht Stephan Schlak klar, dass Habermas kein Theoriegott war, sondern ein intellektuelles Ereignis. Und lässig! "Es zeichnet Habermas' intellektuelle Größe aus, dass er seit über einem halben Jahrhundert neben all dem Ruhm und Preisen so viel Kritik und auch Spöttelei auf sich zieht - und das aus allen Richtungen. Nicht nur die Rechte antwortete Jürgen Habermas, sondern auch die Linke. Selbst die Renegaten, die von links nach rechts wanderten - eine besonders verhaltensauffällige Spezies unter heute publizistisch tonangebenden Achtundsechziger-Intellektuellen -, konnten aus allen Kleidern ihrer alten Weltanschauung steigen; aber in einem blieben sie sich meist treu: im Hochmut gegen Habermas. All die Verdächtigungen und Dämonisierungen der Krakenarme des kritischen Paten ins Feuilleton erzählen von der Verdruckstheit des eigenen juste milieus, das sich stets zu kurz gekommen fühlt. Nirgendwo war das Land so karlsruhisch provinziell wie in den ewigen Aperçus gegen Habermas - dem einzigen deutschen Denker der Nachkriegszeit von Weltrang."

In der taz folgt Jörg Später den Lebensstationen des Philosophen, bleibt aber in sicherer Äquidistanz: "Habermas war und ist ein Denkraumöffner und Stichwortgeber ohne Gleichen, der mindestens so viel Aggression wie Bewunderung auf sich gezogen hat. An Habermas rieben sich früher scholastische Links-Adorniten und deutsche Nationalkonservative, heute beschimpfen ihn Popliteraten und rechte Kulturkämpfer."

Der Kieler Philopsoph Ralf Konersmann erhebt in der NZZ ohne konkreten Anlass mit Albert Camus Einspruch gegen die Maßlosigkeit und die Vorstellung, dass Entgrenzung Freiheit bringe: "Camus nennt das Denken, das gegen den Konformismus der Maßlosigkeit aufbegehrt, 'mittelmeerisch' und teilt diese Intuition mit Paul Valéry. Als Hinterlassenschaft des mediterranen Denkens, hatte Valéry Anfang der dreissiger Jahre geschrieben, bilde das Mass das humane Gegengewicht zum alles mit sich reißenden Absolutismus der Geschichte. Nicht die Geschichte bewahrt die Fülle des Menschseins, sondern das Maß."
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Europa

Im Guardian kann Fintan O'Toole nicht fassen, dass sich die Briten von Donald Trump auf der Nase herumtanzen lassen, aber von Europa "gedemütigt" fühlen: "Dieses ständige Gerede von der Demütigung hat etwas Hysterisches. Es ist der Aufschrei der Empörung: Wie können sie es wagen, uns so zu behandeln? Natürlich hat das Brexit-Debakel Britanniens Prestige in der Welt geschmälert. Das Austrittsabkommen, das Theresa May verhandeln hat, ist tatsächlich recht kläglich im Vergleich zu den glorreichen Versprechungen, die ihm vorausgegangen sind. Aber Britannien ist nicht von der EU gedemütigt worden - das Abkommen folgt den roten Linien, die May (und Arlene Foster) vorgegeben haben. Britannien hat nicht bekommen, was die Brexiter herbeifantasiert haben, sondern worum es gebeten hat. Das ist keine Demütigung."

Und gewohnt maliziös, aber sehr anspielungsreich kommentiert Mariny Hyde ebenfalls im Guardian das Rennen um den Vorsitz der Tories: "Journalist, Romanautor, Churchill-Biograf, Politiker, Stadtentwickler, Diplomat. An diesem Punkt von Boris Johnsons Karriere müssen wir uns fragen: Gibt es etwas, was dieser Mann kann?"

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Medien

Die New York Times hat viel Kritik für ihre Entscheidung einstecken müssen, künftig überhaupt keine Karikaturen mehr zu drucken, nachdem eine Karikatur des Zeichners António Moreira Antunes als antisemtisch kritisiert worden war. In der NZZ findet Sarah Pines den Entschluss mutig, konsequent und absolut richtig: "'I'm afraid this is not just about cartoons, but about journalism and opinion in general', schreibt Chappatte. Er hat recht. Journalisten, die das Wort nicht im Griff haben, und Cartoonisten, die das Bild nicht im Griff haben, haben bei der NYT keinen Platz. Radikale politische Korrektheit verlangt wertfreie Worte und Bilder, die Kategorien wie Rasse, Sexualität und Religion aussparen. Sie verträgt keine Zweideutigkeiten, keine Ambivalenzen, keinen Humor, keine ironischen Spitzen. Sie kann mit Bildwitz und pointierter Kritik nicht umgehen. Und sie verlangt, dass identitäre Aggressoren zensiert werden. Das ist der Spiegel, den die New York Times ihren Kritikern vorhält."
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Gesellschaft

In der NZZ sinniert der französische Philosoph und Schriftsteller Pascal Bruckner über das Wesen der Liebe, über Treue und Authentizität, fortschrittliche Rhetorik und spießbürgerliche Praxis. Und den grausamen Markt: "In diesem großen Handel hat jeder einen Wert, er kann sich täglich ändern und hängt von der sozialen Position ab, vom Aussehen, vom Alter, vom Glück. Im Prinzip verheißt unsere Gesellschaft allen maximalen Genuss, doch tatsächlich führen die glücklich Strahlenden eine ganze Horde von Abgewiesenen und Hoffnungslosen im Schlepptau. Der Markt der Anmut gehorcht Gesetzen, die umso erbarmungsloser sind, als sie niemals ausgesprochen werden. Denn schließlich sind wir alle Betroffene, alle nehmen wir Teil an diesem Krieg der Äußerlichkeiten. Jeder beobachtet jeden, und beobachten bedeutet: evaluieren, prüfen, zurückweisen. Eine Abfuhr aber fällt in unseren demokratischen Staaten vollumfänglich auf das Individuum zurück. Hier hat die Freiheit in Liebesdingen, deren wir uns rühmen, tatsächlich etwas verändert: Mit den zahlreichen Verboten hat sie auch eine Art Schutzwall beseitigt - wir können uns nicht mehr hinter den strengen Regeln einer Institution oder den Normen der Gesellschaft verstecken."

In der taz pocht der Schriftsteller Arnon Grünberg auf das Recht, nicht mit seiner Identität hausieren gehen zu müssen: "Ich übe das Recht aus, nicht hineinzupassen. Das ist eine andere Art, zu sagen: Ich übe mein Recht auf Einsamkeit aus."
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