9punkt - Die Debattenrundschau

Das Schrumpfen nichtverwalteter Lebenszonen

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
21.05.2019. Die Diskussionen über das FPÖ-Video dominieren weiter: Beerdigen lässt sich jetzt die Idee, dass gemäßigte Rechte durch eine Koalition mit den bösen Buben Erfolg haben könnten, ist sich politico.eu sicher. Auch die medienethischen Aspekte werden weiter debattiert: Die Veröffentlichung war auf jeden Fall gerechtfertigt, ist man sich einig. Aber bleibt ein haut-goût? Das Land mit der schlimmsten Überwachung ist bekanntlich China, schreibt Kenan Malik im Observer. Und dann kommt Großbritannien. Und die NZZ outet Theodor W. Adorno als Vordenker der Gilets jaunes.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 21.05.2019 finden Sie hier

Europa

Die Idee, dass sich ein Koalieren mit den populistischen Rechten für die Gemäßigten lohnen könnte, ist mit der österreichischen Affäre beerdigt, freut sich Paul Taylor in politico.eu mit Blick auf die anderen europäischen Länder, aber auch auf die Europa-Wahlen: "In den meisten der 28 Mitgliedsstaaten ist die nationalistische harte Rechte der Todfeind der Mainstream-Konservativen. In Britannien bis Deutschland über Frankreich, Schweden und Polen haben die ausländerfeindlichen Bewegungen die wirtschaftsfreundlichen gemäßigt rechten Parteien angefressen. Mit der Ausnahme - bis zum Wochenende -  Sebastian Kurz' endeten Mitte-Rechts-Politiker, die mit den Salvinis dieser Welt kuschelten, als die großen Verlierer. Sie speisten mit dem Teufel, hatten aber den langen Löffel vergessen."

Der Wiener Publizist Robert Misik reibt sich in der taz die Augen: "Seit Monaten regierte die Koalition stabil, war trotz Eskapaden und rechtsradikaler 'Einzelfälle' in Umfragen unangefochten und spulte ihr Programm ab: Aufganselung der Bürger und Bürgerinnen, autoritärer Umbau des Staates, zunehmende Kontrolle über die Medien, Diskreditierung von Zivilgesellschaft und Opposition. Als Nächstes hatte sie sich vorgenommen, den öffentlich-rechtlichen Rundfunk mit einem neuen ORF-Gesetz an die Kandare zu nehmen. In all diesen Plänen gab es im Grunde keine Differenz zwischen Sebastian Kurz, dem rechtspopulistischen Kanzler, und der FPÖ, seinem extremistischen Koalitionspartner." Die Aufganselung hätte die taz aber lukrieren sollen!

Hätte der Kurz mal auf die Schriftsteller gehört, wäre dieser Schlamassel nicht passiert, schreibt der österreichische Schriftsteller Klemens Renoldner, der seine Schadenfreude nicht unterdrücken kann, im Tagesspiegel: "Vielleicht sollte sich Sebastian Kurz ein Sabbatical vergönnen, sein Studium fertig machen und über die vergangenen 17 Monate ein wenig nachdenken."

Bei anderen Künstlern, deren Reaktionen der Standard gesammelt hat, mischt sich Skepsis in den Jubel. "Die Macht der Kronen Zeitung ist nicht geschmälert, im Gegenteil. Die (umgehend dementierten, haha) Spenden der Großindustriellen an die FPÖ bleiben schockierend, und dass die Blauen durch eine Falle zerbröselt sind, hat auch einen bitteren Beigeschmack. Noch hat sich nicht viel geändert", erklärt etwa der Schriftsteller Franzobel. Und Theaterdirektor Martin Kusej meint: "Allein durch das Ende dieser Regierung wird sich die politische Situation nicht nachhaltig ändern. Deshalb traue ich der Sache nicht. Es wäre zu hoffen, dass dieser schonungslose Einblick in die kruden Gehirne zweier FPÖ-Politiker so viel Dynamik entwickelt, dass eine ganz grundsätzliche Veränderung in unserer Gesellschaft und politischen Kultur stattfindet. Ich war gestern am Ballhausplatz - den Jubel dort habe ich verstanden, bin aber skeptisch, ob er uns nicht bald im Halse stecken bleibt."

Außerdem: Im Guardian erzählt Darren Loucaides, wie Nigel Farage die Fünf-Sterne-Methoden Gianroberto Casaleggios anwandte, um seine neue Brexit-Partei zum Erfolg zu bringen.
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Medien

Auf die Frage  Peter Weissenburgers von der taz, ob sich SZ und Spiegel von unbekannten Kräften haben einspannen lassen, als sie das Strache-Video veröffentlichten antwortet SZ-Rechercheur Bastian Obermayer: "Wir müssen berichten, was Herr Strache sagt, weil es von überwältigender Wichtigkeit ist für die Menschen, zu wissen, dass der Vizekanzler offenbar korrupten Avancen gegenüber offen ist. Dass er ein Mediensystem wie unter Orbán wünscht, das keine freie Presse mehr garantiert - und dass er versucht, illegale Spenden einzusetzen. Da spielt es für mich am Ende eine untergeordnete Rolle, wer das Video wann gemacht hat. Oder warum wir es jetzt bekommen und nicht zu einem anderen Zeitpunkt." Die Presse hat das Privileg, "auch Inhalte zu veröffentlichen, die unter illegalen Bedingungen entstanden sind - sofern ein öffentliches Interesse besteht", erläutert Weissenburger in einem zweiten Artikel.

Auch Thomas Stadler findet die Veröffentlichung in seinem Blog internet-law.de gerechtfertigt, selbst wenn das Video illegal entstanden ist, und zitiert aus einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts: "Allerdings wird auch die Veröffentlichung rechtswidrig beschaffter oder erlangter Informationen vom Schutz der Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 GG) umfasst. Andernfalls wäre die Funktion der Presse als 'Wachhund der Öffentlichkeit' beeinträchtigt, zu der es gehört, auf Missstände von öffentlicher Bedeutung hinzuweisen." Dem Bruch der Privatsphäre der beiden Politiker "steht ein geradezu überragendes Berichterstattungs- und Informationsinteresse gegenüber", so Stadler.

Eine Meisterleistung des investigativen Journalismus ist die Veröffentlichung des Videos durch die SZ- und Spiegel-Journalisten dennoch nicht, schreibt Jan C. Behrends bei den Salonkolumnisten. Er fühlt sich durch die Affäre an den "Kompromat" erinnert - den russischen Begriff für "kompromittierendes Material", das Geheimdienste sich gern beschafften, indem sie Menschen in eine Falle lockten: "Der Blick durchs Schlüsselloch wurde ihnen zugespielt. Sie waren nur die Vollstrecker. Sicher gibt und gab es gute Gründe, diesen Film zu diesem Zeitpunkt zu veröffentlichen. Doch es bleibt ein haut-goût. Denn die Art und Weise, pikantes Material an die Öffentlichkeit zu spielen, ist eben aus dem osteuropäischen Kontext wohl bekannt - in Polen stürzte 2015 unter dubiosen Umständen eine (pro-europäische) Regierung auch wegen illegaler Tonaufnahmen. Das Spiel mit kompromat ist Teil der oft toxischen politischen Kultur post-kommunistischer Gesellschaften."

Und Michael Hanfeld schreibt in der FAZ: "Man kann sich auf den Standpunkt stellen, der Zweck heilige hier die Mittel, gegen gefährliche Rechtspopulisten sei so manches erlaubt. Aber möchte man in einer demokratisch verfassten Öffentlichkeit nicht wissen, wer sie einsetzt?"
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Ideen

"Theodor Adorno, dieser Linke, ist der eigentliche Vordenker der 'gilets jaunes'" und auch an Donald Trump hätte er seine Freude - steile These, die der Germanist und Stanford-Professor Russell Berman im Interview mit der NZZ aufstellt. Gilets jaunes wie Trump-Wähler protestieren - wie schon die 68er - gegen die Vergesellschaftung aller Lebensbereiche, die sie als Bevormundung empfänden, so Berman: "Ich meine damit die Kollektivierung bzw. Monopolisierung der Wirtschaft, die Verrechtlichung des alltäglichen Lebens und die Politisierung des Privaten, kurzum: das Schrumpfen nichtverwalteter Lebenszonen. Erstmals seit langem macht sich eine heftige Reaktion der Bürger gegen diese verwaltete Welt bemerkbar. ... Es ist die immanente Tendenz des modernen Staates seit dem 19. Jahrhundert, sich immer weiter auszudehnen, sofern ihm von Bürgerseite kein Widerstand erwächst. Die Bürokraten in staatlicher Besoldung streben naturgemäß nach mehr Macht, und ein Teil der meinungsführenden politischen Eliten ruft reflexhaft nach mehr Staat, wenn es darum geht, Probleme des gesellschaftlichen Lebens zu bewältigen. Wo ein Angebot ist, da entsteht auch ein Bedürfnis - das ist eine Logik der Bevormundung, die moderne Staaten perfektionieren wollen. Endstation: chinesischer Überwachungsstaat. Adorno wusste um diese Tendenz".

Außerdem: Ebenfalls in der NZZ widerspricht Felix Philipp Ingold dem Romanisten Gerard Cheshire von der University of Bristol, der behauptet hat, das Rätsel um das Voynich-Manuskript gelöst zu haben.
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Urheberrecht

Die EU hat die Reform des Urheberrechts versemmelt, es lohnt sich aber trotzdem bei der Ausgestaltung in den einzelnen Ländern genau hinzugucken - das ist noch Spielraum, meint Martin Kretschmer, Professor für Urheberrecht, im Interview mit sueddeutsche.de (in die Print-SZ scheint sich das Interview bisher nicht verirrt zu haben). Das ändert aber nichts daran, dass diese Reform wesentlich von den Verwertern bestimmt wurde: "Die Interessen der Kreativen und der Nutzer haben eine untergeordnete Rolle gespielt. Das steht in krassem Gegensatz zum ursprünglichen Vorhaben. Günther Oettinger, der als EU-Kommissar anfangs für die Reform zuständig war, hatte gesagt, dass Nutzer im Zentrum des Geschehens stehen sollten. Das war ein leeres Versprechen. ... Die Verwerter haben immer wieder behauptet, dass große US-Konzerne wie Youtube versuchen, mit massivem Lobbyeinsatz das Urheberrecht aufzuweichen. Tatsächlich war es genau andersherum: Plattenlabels, Filmstudios und Presseverlage hatten den größten Einfluss. Das lässt sich mit Zahlen belegen. Vertreter der Musikindustrie haben sich mit Abstand am häufigsten mit der EU-Kommission getroffen. Danach folgen Verleger, die teils direkten und persönlichen Zugang zu Günther Oettinger und Verhandlungsführer Axel Voss hatten. Wenn man die Treffen zählt, tauchen in den Top 50 fast ausschließlich Verwerter auf. Google ist auf Platz sieben, Facebook auf Platz 47."
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Überwachung

Während man sich in Europa Sorgen über China als dystopischen Polizeistaat macht, rüstet in Europa vor allem Britannien hoch, schreibt Kenan Malik in seiner Observer-Kolumne. Britannien sei jetzt schon eine der am intensivsten überwachten Gesellschaften der Welt. Zwanzig Prozent aller Überwachungskameras dieser Welt seien auf britischen Straßen installiert. Die BBC hat neulich in einer Dokumentation eine Teststrecke der britischen Polizei zur Gesichtserkennung gezeigt, erzählt Malik: "Ein Mann versucht die Kameras zu meiden, indem er seinen Fleece-Pullover ins Gesicht zieht. Er wird von Polizei angehalten, die ihn fotografiert. Dann bekommen er einen Strafzettel in Höhe von 90 Pfund wegen 'rechtswidrigen Verhaltens'. 'Haben Sie gegen ihn einen Verdacht?', fragt ein Passant. 'Es ist die Tatsache, dass er hier vorbeiflanierte und sein Gesicht klar maskierte', antwortet einer der Zivilpolizisten, die das System betätigen. Wer seine Privatheit schützen will, muss etwas zu verstecken haben. Und wenn man sich wehrt - nun, dann ist das rechtswidriges Betragen'."
Archiv: Überwachung