9punkt - Die Debattenrundschau

Ja, das wäre unangenehm

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
11.05.2019. taz und Welt bringen Deniz Yücels Verteidigungsschrift, die eigentlich eine Anklage gegen Tayyip Erdogan ist. In der NZZ ist Alan Rusbridger überzeugt: Die Menschen brauchen Journalismus nur dann, wenn er hilft, eine bessere Gesellschaft zu schaffen. Im Journalist setzt Julia Bönsch dagegen auf das feministische Projekt des effizienten Workflows. Der Guardian fragt, wann die Linke eigentlich die Großzügigkeit im Denken verloren hat. Und der Tagesspiegel fragt, ob Craft Beer nicht eigentlich nach Seife schmeckt.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 11.05.2019 finden Sie hier

Europa

Die taz bringt Auszüge aus Deniz Yücels Verteidigungsrede, in der er der Türkei vorwirft, im Gefängnis Silivri Nr. 9 drei Tage lang gefoltert worden zu sein. Er berichtet zumindest von körperlichen und seelischen Erniedrigungen, für die er Präsident Tayyip Erdogan persönlich verantwortlich macht: "Erneut überhäuften sie mich mit Beleidigungen. Weil in den Zellen im Gegensatz zu den Korridoren keine Kameras installiert sind, wurde ich erstmals auch körperlich mit Tritten gegen meine Füße und Schlägen auf Brust und Rücken angegangen. Das Maß der Gewalttätigkeit war nicht allzu hoch, weniger darauf ausgerichtet, mir körperliche Schmerzen zuzufügen, als darauf, mich zu erniedrigen und einzuschüchtern. Womöglich wollte man mich auch zu einer Reaktion provozieren. Doch auch so war dies ein Fall von Folter." Die Welt veröffentlicht seine Verteidigungsschrift in Gänze.

Weiteres: In ihrer Tagesspiegel-Kolumne regt sich Hatice Akyün über Alice Schwarzer auf, die vor der Frankfurter Kopftuch-Konferenz in ein hitziges Wortgefecht mit einer Demonstrantin geraten ist.
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Ideen

Wann ist die Linke eigentlich so kleingeistig geworden?, fragt Gary Younge im Guardian: "Großzügigkeit ist ein rares Gut in der Politik. Das überrascht auf Seiten der Rechten nicht. Eine Politik, die auf Individualismus, Selbstverantwortung und privaten Profit basiert, neigt nicht zum Altruismus... Aber die Linke ist anders. Man kann schwerlich eine Gesellschaft des Teilens, der Umverteilung und des kollektiven Unternehmens aufbauen ohne den Geist der Großzügigkeit - man kann die Menschheit nicht befreien und zugleich die Menschen verabscheuen, mit denen und für die man handelt. Es fühlt sich gerade so an, als würde der Brunnen der Generosität in linken und liberalen Kreisen austrocknen, wo sich eine Atmosphäre von reflexhaften Urteilen und pauschalen Abfertigungen eingeschlichen hat. Bei Themen wie Rechten für Transmenschen, ein zweites Referendum oder Labour und Antisemitismus, sind die Debatten so toxisch geworden, dass viele es schwierig finden, sich an ihnen sinnvoll zu beteiligen."

In der Welt verteufelt Bazon Brock die allseits grassierende Heuchelei, die fahrlässige E-Mobilität, oder Linke, die ein fettes Erbe einstreichen. Am schlimmsten findet er aber die Verfechter einer grenzenlosen Gesellschaft: "Entgrenzen heißt also, Bedeutungen und Sinnzusammenhänge ununterscheidbar, unkenntlich zu machen. Das ist die Absicht der fanatischen Entgrenzungsforderer im globalen Maßstab, damit endlich nicht mehr Täter und Opfer, Reiche und Arme, Arbeitende und Parasiten, Linke und Rechte, Fortschritt und Rückschritt unterschieden werden können... In solche latente Selbstzerstörung durch Willkür und das Recht aufs Dummsein treiben uns nicht räuberische Migranten oder Dunkelmänner; es ist unsere Allmachtsarroganz und Selbsterhöhung vor Versagergesellschaften. Es gilt: der Hochmut kommt vor dem Fall. Wir fallen bereits: Europa fällt."

Weiteres: Der Theologe Jan-Heiner Tück umreißt in der NZZ den ewigen Streit um das Erbe von Athen und Jerusalem in der abendlänsischen Philosophie.
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Medien

Im Interview mit Felix Simon in der NZZ kennt der frühere Guardian-Chefredakteur Alan Rusbridger auch keinen schnellen Weg aus der Krise der Medien. Aber er weiß, dass der Bedeutungsverlust der Zeitung nicht nur ökonomische Ursachen hat: "Der wirtschaftliche Aspekt ist offensichtlich der dringlichste. Wir sehen uns mit einem sehr komplizierten Bild konfrontiert, und es wird kein einziges Modell geben, das für jedes Medienhaus funktioniert. Die wirtschaftliche Bedrohung hängt mit der Frage zusammen, ob die Menschen dem Journalismus noch vertrauen. Warum wollten Menschen bisher informiert sein? Weil ihnen dies half, eine bessere Gesellschaft zu schaffen. Aber glauben die Leute das immer noch? Oder fühlen sich die Menschen machtlos? Es gibt mittlerweile so viele Gründe, warum der Journalismus kriselt. Und es wird eine Menge gedanklicher Arbeit erfordern, um all dies anzugehen. Wir haben bisher viel zu wenig darüber nachgedacht, was die Öffentlichkeit eigentlich von uns erwartet."

In der deutschen Mediencommunity wurde dagegen einem Artikel von SZ-Onlinechefin Julia Bönisch im Journalist applaudiert, der sehr clever, aber vielleicht auch ein bisschen höhnisch die effiziente Taktung von Redaktionen in ein feministisches Projekt ummünzt: "Für manche Kolleginnen und Kollegen in der Branche bin ich ein Affront. Frau, Onlinerin, noch keine 40 - damit stehe ich für fast alles, was unbequem und lästig ist: für Veränderung, für Digitalisierung, für einen Generationenwechsel, der auch Frauen an die Spitze bringt. Das nervt viele, und das kann ich verstehen. Wenn ich mir vorstelle, ich wäre ein Journalist, Mitte 50, und würde jetzt bemerken, dass vieles von dem, was ich kann und weiß, nicht mehr wichtig ist: Ja, das wäre unangenehm." Dabei hat ihr Projekt wenig mit Gleichstellung zu tun: "Die Redaktionsleitung, die sich ausschließlich über Inhalte definiert, gehört zunehmend der Vergangenheit an. Stattdessen tritt eine neue Generation in die erste Reihe, die sich viel mehr als Manager und Produktchef definiert, die nicht mehr nur in Formaten und Texten, sondern in Workflows und Prozessen denkt."
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Kulturpolitik

Anna Valeska Strugalla erinnert in der taz daran, wie in den siebziger Jahren über die Rückgabe von Kolonialkunst debattiert wurde. Als der Direktor des Bremer Überseemuseums Herbert Ganslmayr eine moralische Verpflichtung der Museen ansprach, wurde ihm rüde geantwortet: "'Dieser Kollege ist wirklich ein Brechmittel', so machte der Leiter des Staatlichen Museums für Völkerkunde in München, Andreas Lommel, seinem Ärger über den Bremer 'Querulanten' Luft. Selbstgewiss schrieb er: 'Wenn Objekte den Afrikanern zurückgegeben werden müssten, dann müssten alle Europäer (…) und vor allem die Sowjetunion etwas zurückgeben. Auf die Sowjetunion ist immer Verlass: Sie wird nichts zurückgeben. Die anderen Völker, Chinesen, Japaner, stellen solche dummen Anfragen nicht. Sie kaufen entweder zurück oder freuen sich über die Werbewirkung der im Ausland gezeigten Gegenstände.'"
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Politik

In der FAZ spricht die Schriftstellerin Ayelet Gundar-Goshen Israel das Recht ab, auf dem Mond zu landen: "Bevor wir das Firmament berühren, zwischen den Himmelskörpern wandeln, haben wir noch ein paar Dinge hier auf unserer nahöstlichen Erde zu regeln."
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Gesellschaft

Im Tagesspiegel lästert Sidney Gennies über den Craftbeer-Hype, der natürlich aus den USA übernommen wurde, wo es als eine Art Notwehr gegen die ungenießbare Konzernplörre erfunden wurde. Ist in Deutschland mit seinen vielen kleinen und guten Brauereien völlig überflüssig, meint Gennies. Und: "Dass es mit dem Handwerk (Ausnahmen soll es geben!) nicht so weit her ist, sieht man an zweierlei. Erstens: am Trend, einigen Kreationen Früchte, Kräuter, Gewürze oder andere Zutaten beizumischen, die dem Reinheitsgebot zuwiderlaufen, um Geschmack ins Bier zu kriegen. Zweitens: daran, dass die Mehrheit der Craftbiere IPAs sind, 'India Pale Ales'. Die schmecken zwar aufgrund ihres hohen Hopfenanteils nach Seife, was man mögen muss, sind aber mit wenig Aufwand zu brauen, weil sie zu den obergärigen Bieren gehören."
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Stichwörter: Craft Beer