9punkt - Die Debattenrundschau

Modell Morgenröte

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
07.05.2019. Der Guardian und Bellingcat berichten, dass China die Moscheen der Uiguren zerstört. Die Agentur Reuters freut sich, dass zwei Journalisten, die zur Ermordung von Rohingya recherchierten, aus dem Gefängnis entlassen wurden. Erst die Osteuropäer haben ihn zu einem überzeugten Westler gemacht, schreibt Stephan Wackwitz in der taz. Aber die Demokratie in Tschechien ist alles andere als ungefährdet, erzählt die tschechische Autorin Radka Denemarková in der SZ.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 07.05.2019 finden Sie hier

Europa

Erst die Osteuropäer haben ihn zu einem überzeugten Westler gemacht, schreibt Stephan Wackwitz in einem Essay für die Europawahlen-Sektion der taz und erinnert an die Mitteleuropa-Debatte vor dem Mauerfall, als Autoren wie Milan Kundera oder György Konrad auf die Sprengkraft der demokratischen Idee hinwiesen: "Für diese östliche Sicht auf Europa sind westdeutsche Linke und Liberale unglücklicherweise blind, weil sie die derzeitigen Regierungen Polens oder Ungarns für das eigentliche, sein wahres Gesicht zeigende Mittelosteuropa halten (als könnten die Polen und Ungarn diese Regierungen nicht auch wieder abwählen). Und weil ihnen das Gefühl dafür fehlt, dass die osteuropäische Demokratie nicht erst seit gestern bedroht ist - vor allem durch den übermächtigen russischen Nachbarn."

Recep Tayyip Erdogan will die Kommunalwahl, die er in Istanbul verloren hat, annullieren und wiederholen lassen. Die Wahlbehörde, die das ursprüngliche Ergebnis akzeptiert hatte, hat den Neuwahlen bereits zugestimmt, berichtet Hasan Gökkaya auf Zeit online. "Und jetzt? Die Welt wird in Erdoğan endgültig einen gnadenlosen Machthaber sehen, der vor nichts zurückschreckt. Die Opposition wird sich darin bestätigt fühlen, dass er die Demokratie missachtet. Die mehr als vier Millionen Menschen in Istanbul, die den CHP-Kandidaten Ekrem İmamoğlu zum Bürgermeister gewählt hatten, werden den Glauben an faire Wahlen in der Türkei endgültig verloren haben."

Rüdiger Wschenbart macht im Standard einen interessanten Ausflug in hundert Jahre österreichische Fremdenfeindlichkeit, die ganz besonders lange und furchtbare Traditionslinien hat. Ein Vorläufer der heutigen AfD-Politiker war Georg von Schönerer (1842-1921): "Schönerer war nicht nur deutschnational, Antisemit und ein Aktionist gegen Pressefreiheit und Medien. Insbesondere in der sogenannten Nationalitätenfrage, welche die Monarchie zunehmend zerrissen hatte, lief Schönerer zur Hochform auf. Als in Böhmen und Mähren - die ja zu Österreich gehörten - Beamte neben deutschen auch noch tschechische Sprachkenntnisse nachweisen sollten, legte Schönerer monatelang den Reichsrat lahm." Schönerers blaue Kornblume ist bis heute Wahrzeichen der blauen Bewegung, erläutert Wischenbart. Und Ironie der Geschichte ist, dass der heutige FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache Nachfahre jener Tschechen ist, die Schönerer einst bekämpfte!

Wogegen die Demokraten in Osteuropa kämpfen, zeigt ein Interview, das Alex Rühle für die SZ mit der tschechischen Autorin Radka Denemarková geführt hat. Sie sprechen über über den Druck auf den Direktor der Nationalgalerie Prag, Jiri Fajt, und die Stimmung unter Andrej Babis im allgemeinen: "Seit drei Jahren habe ich das Gefühl, dass manche wieder die Mauer zwischen Ost und West errichten möchten. Es gibt noch immer eine mentale Grenze, und sie verläuft auch durch Deutschland. In Tschechien gibt es kaum Flüchtlinge. Doch wenn in Dresden Pegida-Demonstrationen gegen Ausländer abgehalten wurden, waren viele Tschechen dabei. Das Modell von Viktor Orbán in Ungarn, 'wir gegen die anderen', haben die übrigen Visegrád-Staaten übernommen."

Populismus und Impfskepsis werden durch ähnliche Gefühle angetrieben, schreibt Jonathan Kennedy bei politico.eu, Misstrauen und Feindseligkeit gegenüber Eliten und Experten. Darum gelte in den westeuropäischen Ländern: "Je größer der Anteil der Bevölkerung, der bei den Wahlen zum Europäischen Parlament 2014 für populistische Parteien gestimmt hat, desto größer der Prozentsatz der Menschen, die sagen, dass sie Impfungen nicht für wichtig halten. Portugal hat bei den letzten Europawahlen nicht für populistische Parteien gestimmt und hat die geringste Zahl von Impfskeptikern. Auf der anderen Seite ist Italien führend bei der Skepsis gegenüber Impfungen und der Unterstützung populistischer Politiker."
Archiv: Europa

Gesellschaft

Wer hinter jedem schwarzen Gesicht Blackfacing wittert, sollte seine Koordinaten überprüfen, meint Sarah Pines in der NZZ mit Blick auf die Schuhe von Katy Perry, die als rassistisch verunglimpft wurden (Bild im Text): "Das schwarz geschminkte Gesicht aus Highschool-Jahrbüchern spielt klar auf Herrschaftsverhältnisse an und ist nichts anderes als rassistisch. Aber die Perry-Schuhe und die Gucci-Pullover? Der Reflex, bei roten, aufgeworfenen Lippen sofort an 'Schwarze' zu denken, ist nicht Ausdruck von politischer Rücksicht, sondern von umgekehrtem Rassismus. Dahinter steckt der Blick des Klansmanns - oder des Weißen in der Minstrel-Show."
Archiv: Gesellschaft
Stichwörter: Blackfacing, Rassismus, Gucci

Medien

Die beiden Reuters-Journalisten Wa Lone, 33, und Kyaw Soe Oo, 29, die zu einem Massaker im Rahmen der Vertreibung der Rohingya recherchiert hatten und dafür ins Gefängnis gesteclte worden waren (unser Resümee vom September letzten Jahres), sind im Zug einer Generalamnestie as dem Gefängnis entlassen worden, melden Simon Lewis und Shoon Naing bei der Presseagentur: "Die Frauen der Reporter hatten im April einen Brief an de Regierung mit Bitte um Begnadigung geschickt, naicht, wie sie sagen, weil sie irgendetwas Falsches getan hätten, sondern weil es ihnen erlauben würde, zu ihren Familien zurückzukehren."
Archiv: Medien
Stichwörter: Myanmar, Rohingya, Reuters

Ideen

"Das 21. Jahrhundert hat den Ideologien den Ton abgedreht. Jede große Idee mutet jetzt an wie Lenin, der aus dem Plattenspieler - Modell Morgenröte - krächzt", schreibt der weißrussische Schrifsteller Viktor Martinowitsch auf Zeit online. "Durch Mikrotargeting kann nun jedem Facebook-Nutzer genau das versprochen werden, was er will. Dieses neue Niveau der Lüge übertrifft alle bisherigen. Von Politik, wie wir sie noch vor 50 Jahren dachten, wird bald nichts mehr übrig sein. Wenn die Religion im 20. Jahrhundert noch von mehr oder weniger echten Ideen abgelöst wurde, so tritt an ihre Stelle jetzt reiner Populismus. Die Präsidentschaftswahlen in der Ukraine (und zuvor die Präsidentschaftswahlen 2016 in den USA sowie die Parlamentswahlen 2017 in Tschechien und 2018 in Italien) haben deutlich gemacht: Es ist egal, was du versprichst, solange du das versprichst, was von dir erwartet wird. Der Versprechende selbst muss jung sein, straff und so weit wie möglich einem Gott ähneln, wie ihn sich die alten Griechen vorstellten."

Droht uns ein neuer Faschismus? Ist er gar schon da? "Mit dem Wort 'Faschismus' ist nicht viel gewonnen. Aber wer Faschismus sagt, möchte daran erinnern, dass die Bewegungen, die Regime, die heute Demokratien und demokratische Entwicklungen zerstören, nichts radikal Neues sind, dass sie Vorbilder haben", meint Arno Widmann in der FR. "Alain Finkielkraut, der vor ein paar Wochen von Gelbwesten attackiert wurde, weil er Israel verteidigt, erklärte dem Zeit-Korrespondenten Georg Blume: 'Wir befinden uns nicht auf dem Rückweg in die dreißiger Jahre. Wir erleben einen anderen Antisemitismus, der umso gefährlicher ist, weil er sich nicht anklagen lässt. Denn er kommt im Namen der Unterdrückten, der Entrechteten und einer leidenden Menschheit daher.' Finkielkraut irrt. Auch der frühe Nationalsozialismus erklärte sich als eine Bewegung der Unterdrückten und Entrechteten. Die Nazis betrachteten die Deutschen als Opfer des Versailler Systems. Sie wussten: Man muss sich als Opfer fühlen, um zur äußersten Gewalt greifen zu können.
Archiv: Ideen

Politik

Die chinesischen Verbrechen gegen die muslimische Minderheit der Uiguren nehmen immer größere Dimesnionen an. Der Guardian und die Internetrechercheure von Bellingcat haben herausgefunden, dass zahlreiche Moscheen beschädigt oder ganz dem Erdboden gleichgemacht wurden: "Mit Hilfe von Satellitenbildern haben der Guardian und der Open-Source-Analayst Nick Waters von Bellingcat die Stätten von hundert Moscheen und Schreinen überprüft, die zuvor von früheren Bürgern der Region, Forschern und mit open-source-Mapping-Tools identifiziert wurden. Von 91 Stätten sind 31 Moscheen und zwei große Schreine, darunter der Iamam-Asin-Komplex, zwischen 2016 und 2018 schwerwiegend beschädigt worden. 15 Moscheen und beide Schreine scheinen vollständig oder fast vollständig geschleift worden zu sein."

Mortaza Rahimi, ein im deutschen Exil lebender afghanischer Journalist, fürchtet in der taz, dass Trumps Amerika mit den Taliban verhandelt und dass dabei die in den letzten Jahren mühsam errungenen Rechte der Bevölkerung - besonders der Frauen - schlicht geopfert werden: "Afghanen wünschen sich Frieden in ihrem zerstörten Land, aber nicht um jeden Preis. Es gibt rote Linien, die nicht überschritten werden dürfen. Wir wollen einen Frieden mit Gerechtigkeit. Das heißt, die Menschen, die seit Jahren für die Morde an den Afghanen verantwortlich sind, müssen bestraft werden. Wenn der Frieden keine Gerechtigkeit bietet, werden sich die beteiligten Parteien wie die Überlebenden der Kriegsopfer persönlich rächen, was die Gewalt in dem Land fortsetzen wird."

Arne Perras glaubt in der SZ den Beteuerungen des Sultans von Brunei nicht, dass er Homosexuelle nun doch nicht steinigen lassen wolle (unsere Resümees), denn er hat das Scharia-Recht in seiner beschwichtigenden Rede zum Beginn des Ramadan ja nicht abgeschafft: "Zu Hause will Bolkiah als oberster Wächter des Islam gelten. So hofft er, radikal-islamistischen Gruppen, die künftig vielleicht gegen ihn rebellieren könnten, erst gar keine Angriffsfläche zu bieten."
Archiv: Politik