9punkt - Die Debattenrundschau

Diese Schaumschläger

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
12.04.2019. Julian Assange sollte nicht wegen seiner Leaks ins Gefängnis gesteckt werden, meinen die meisten. Allzuviel zu befürchten hat er aber vielleicht nicht, wendet politico.eu ein. Die Verschiebung des Brexit gibt Zeit, das für die Brexiteers kalamitöse Buch "9 Lessons in Brexit" des ehemaligen britischen Botschafters in Brüssel Ivan Rogers zu lesen, findet die taz. Andreas Rödder erklärt im Freitag, wie ein heute moderner Konservatismus aussehen könnte.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 12.04.2019 finden Sie hier

Politik

Vor allem die Revolte der Frauen, die übrigens auch von den Erfolgen der algerischen Bewegung inspiriert war, hat es vermocht, einen der übelsten Diktatoren der Welt abzusetzen. Dominic Johnson erinnert in der taz an seine Verantwortung: "Kein lebender Herrscher der Welt hat so viele Menschenleben auf dem Gewissen wie Omar Hassan al-Bashir: Die zwei Millionen Toten des Südsudan-Befreiungskrieges, der 2005 nach über zwanzig Jahren Gemetzel und Hungersnöten mit der Einleitung der Unabhängigkeit dieses Landesteils zu Ende ging; die mindestens 300.000 Toten des Völkermordes in Darfur, wo regimetreue Milizen ab 2003 über Jahre hinaus systematisch missliebige Ethnien verjagten und umbrachten. Bashir war und ist der einzige Staatschef der Welt, den der Internationale Strafgerichtshof mit Haftbefehl sucht." Johnson ist allerdings skeptisch, ob auf die Absetzung al-Bashirs eine Demokratisierung folgen wird.

Julian Assange wurde gestern nach sieben Jahr Asyl in der Botschaft Ecuadors in London von dem Land fallen gelassen. Bei allem was ihm vorzuwerfen ist - die Wahlkampfhilfe für Donald Trump in erster Linie - verdient er für seine ursprünglichen Leaks der von Chelsea Manning gelieferten Daten nicht, bestraft zu werden, meint Bernd Pickert in der taz: "Es gibt Informationen, die zu veröffentlichen auch Regelbrüche rechtfertigt. Dafür gehört Julian Assange nicht ins Gefängnis, genauso wenig, wie Chelsea Manning je hätte einsitzen dürfen." Assanges Festnahme bedroht die freie Presse, meint auch Lisa Hegemann bei Zeit Online: "Wird Assange auf der jetzt bekannten Grundlage verurteilt, könnte sich ein Journalist oder eine Plattform künftig schon damit strafbar machen, dass sie eine Informantin nach mehr Dokumenten oder Belegen fragen."

Möglicherweise muss sich Assange trotz melodramatischer Warnungen von Kumpels wie Glenn Greenwald gar nicht allzuviel Sorgen machen, vermutet Jack Shafer in politico.eu: "Angesichts des breiten Spektrums möglicher Anklagen, die die Staatsanwälte erwogen haben, einschließlich des Spionagegesetzes, ist die Anklage vom Mittwoch ein schwacher Aufguss. Falls nicht noch stärkere Anklagen aus dem Justizministerium kommen, was laut Reuters möglich ist, könnte Assange das britische Auslieferungsverfahren nutzen, um der Verfolgung durch die amerikanische Justiz auszuweichen."

Assange hat gegen Kautionsauflagen verstoßen und muss dafür wie jeder andere mutmaßliche Straftäter zur Rechenschaft gezogen werden, entgegnet Peter Rasonyi in der NZZ, nicht an die Theorie glaubend, dass die 2010 in Schweden von zwei Frauen erhobenen Vergewaltigungsvorwürfe gegen Assange vom schwedischen Staat in die Welt gesetzt wurden, um ihn wegen Veröffentlichungen von Wikileaks an die USA auszuliefern.
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Gesellschaft

Zahlreiche Künstler und Wissenschaftler haben eine mit Blick auf die inzwischen eingestellten Ermittlungen gegen das Zentrum für politische Schönheit initiierte Petition gegen die Kriminalisierung politischer Kunst unterschrieben, meldet Zeit Online. Sie fordern unter anderem eine Entschuldigung von Thüringens Landesjustizminister Dieter Lauinger: Die Ermittlungen seien "'ein bedrohlicher Angriff auf die Meinungs- und Kunstfreiheit. Wir protestieren!', heißt es in der Petition, die von der Intendantin des Maxim-Gorki-Theaters, Shermin Langhoff, angestoßen wurde. Zu den Erstunterzeichnern des Briefs gehören der Musiker Herbert Grönemeyer, der Satiriker Jan Böhmermann, der Journalist Deniz Yücel, die Initiatorin des Holocaustmahnmals in Berlin, Lea Rosh, die Schauspielerin Katja Riemann, der Politikwissenschaftler Herfried Münkler und viele andere." Im Welt-Interview mit Per Hinrichs ordnet der ehemalige Richter am Bundesgerichtshof, Thomas Fischer die Ermittlungen juristisch ein.
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Ideen

Andreas Rödder, Autor des Essays "Konservatismus 21.0",  erklärt im Gespräch mit Michael Angele vom Freitag, wie ein heute moderner - religiös eher unmusikalischer, wie er zugibt - Konservatismus aussehen könnte, der vor allem in der hysterischen aktuellen Debatte eine Rolle spielen könnte: "So wie der liberale Konservatismus eines Hermann Lübbe auf die 68er reagiert hat, wäre es heute wichtig, eine liberal-konservative Gegenposition gegen die polarisierende Moralisierung rechts und links zu formulieren: gegen die Moralisierung des Eigenen aufseiten der politischen Rechten, wie sie sich in der AfD niederschlägt, und gegen die Moralisierung des Anderen durch eine Kultur des Regenbogens, deren Betreiben von Antidiskriminierung und Diversität, Gleichstellung und Inklusion Züge repressiver Toleranz gewonnen hat."

Der Merkur bringt Adam Toozes Laudatio auf den Essayisten Danilo Scholz, der jüngst den Heinrich Mann-Preis erhalten hat: "Der Ton in Danilos Essays ist nie schwerfällig, aber immer ernst. Die Einsätze sind hoch. Selbst in einer kleinen TV-Kritik geht es um die Qualität des öffentlichen Lebens, um die Literatur selbst. Und wie in einem Bürgerkrieg üblich, kann man nicht immer davon ausgehen, dass Gefangene genommen werden."
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Europa

Das Brexit-Spektakel ist nun bis zum Herbst verlängert. Ulrike Herrmann empfiehlt in der taz das Buch "9 Lessons in Brexit" des ehemaligen britischen Botschafters in Brüssel Ivan Rogers, der vor allem die dilettantischen Brexiteers attackiert. Einer seiner Kritikpunkte: "Brexit-Befürworter würden zwar permanent über 'Freihandel' schwadronieren, würden aber 'einen Handelsvertrag noch nicht einmal erkennen, wenn sie ihn in ihrer Suppe finden'. Mit ihren ahnungslosen 'Fantasien' müssten diese Schaumschläger nun gegen die Bürokratie in Brüssel antreten, zu deren Kernkompetenzen es gehört, weltweit Handelsverträge abzuschließen."

Durch die Verschiebung des Brexit hat sich laut einer Analyse von politico.eu, die einen Insider zitiert, im Grunde nicht viel verändert: "Die Frage ist immer noch, wie man einen Deal durch das Parlament kriegen soll." Martin Kettle ist sich dagegen im Guardian sicher, dass "die nationalistische Rechte die Schlacht um den Brexit verloren hat" und dass nun ein zweites Referendum kommen kann.

Die Populisten im Westen haben von Erdogan gelernt, sagt im Standard-Interview mit Dominik Kamalzadeh die türkische Autorin, Journalistin und Juristin Ece Temelkuran, die ein Buch über Populismus geschrieben hat. Dabei sei es unerheblich, dass westliche Populisten mehrheitlich antimuslimisch denken: "Die religiösen Aspekte sind nicht wesentlich für den Rechtspopulismus. Das dient nur als Werkzeug. Wenn es darum geht, an die Macht zu kommen, funktioniert jede Religion gut. Das Christentum genauso wie der Islam. (…) Sie ist nur eine Maske für konservative Werte, für die Identität des Beharrens - 'so wie wir leben'. Es ist nur der Leim, der das Wir zusammenhält."
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Religion

Auch auf Deutsch veröffentlicht der Corriere della Sera Joseph Ratzingers Aufsatz zum sexuellem Missbrauch in der Kirche, der der 68er-Bewegung zu verdanken sei: "Zu der Physiognomie der 68er-Revolution gehörte, dass nun auch Pädophilie als erlaubt und als angemessen diagnostiziert wurde. Wenigstens für die jungen Menschen in der Kirche, aber nicht nur für sie, war dies in vieler Hinsicht eine sehr schwierige Zeit." Allen anderen Historikern war bisher nicht aufgefallen, dass katholische Priester den Weisungen der 68er folgen. Mehr in der taz.

Bei einer Razzia in neun Bundesländern gegen vorgeblich humanitäre, vom Verfassungsschutz aber als "extrem salafastisch" eingestufte Vereinigungen, die unter anderem die Terrororganisation Hamas, den palästinensischen Ableger der Muslimbrüder unterstützen, wurde eine gefährliche Annäherung zwischen Salafisten und Muslimbrüdern auch in Deutschland festgestellt, berichtet Frank Jansen im Tagesspiegel: "'Ein Bündnis der beiden wäre der GAU', warnt ein hochrangiger Sicherheitsexperte. Er skizziert das extremistische Potenzial: Jüngere Islamisten mit Drang zur globalen Revolution treffen auf eine islamistische Mittelschicht, die Staat und Gesellschaft 'legalistisch' durchdringen will. Trotz oder gerade wegen unterschiedlicher Aktionsformen, offene Rebellion hier, leises Einnisten dort, schienen Salafisten und Muslimbrüder zu erkennen, dass sie voneinander profitieren könnten, meint der Experte. Die Salafisten würden lernen, wie man sich geschickter anstellt, um staatliche Repression zu vermeiden. Die Muslimbrüder bekämen Zugang zu jüngeren Leuten. Das Ziel beider islamistischen Spektren sei dasselbe: der Gottesstaat. Gemeinsam seien die beiden noch gefährlicher als jetzt schon jeder für sich."
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Geschichte

In einem epischen Zeit-Online-Interview mit Ron Ulrich erinnert sich Gabriel Bach, stellvertretender Ankläger im Prozess gegen Adolf Eichmann an seine erste Begegnung mit Eichmann, Einzelheiten aus dem Prozess und Hannah Arendt, der er falsche Berichterstattung und Fehleinschätzung vorwirft - etwa, wenn sie in der "Banalität des Bösen" schrieb, Eichmann sei ein "Hanswurst": "Er wusste, wovon er sprach. Ihm war noch immer der Stolz anzusehen, wenn er von seinen früheren Plänen berichtete. So erzählte er beispielsweise von seinem Befehl, dass die aus Ungarn deportierten Juden Postkarten an ihre Freunde schicken sollten. Und zwar bevor sie in die Gaskammern kamen. Auf den Postkarten sollten sie schreiben, dass sie sich in einem wunderschönen Ferienort befänden: 'Schöne Ausflüge, wenig Platz, also kommt so schnell wie möglich.'"
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