9punkt - Die Debattenrundschau

Ihre Privatsphäre, ihre Religiosität, ihr Modestil

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
06.04.2019. Von der EU-Urheberrechtsreform profitieren zwar Medienkonzerne und die Kulturindustrie und vielleicht auch ein wenig deren Urheber, aber nicht die Urheber aus den neuen Medien wie Blogger, Self-Publisher oder Youtube-Journalisten, stellt heise.de fest. taz und NZZ erinnern an den Völkermord in Ruanda vor 25 Jahren - die französische Mitverantwortung ist immer noch nicht aufgearbeitet.  In der FR attackiert ein Modefachmann das "konservativ-feministische Lager", das die "Mündigkeit muslimischer Frauen" infrage stelle. Der Tagesspiegel warnt vor Referenden.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 06.04.2019 finden Sie hier

Urheberrecht

Ein Aspekt der EU-Urheberrechtsreform kommt im Grunde erst nach all den erbitterten Debatten und der Verabschiedung durchs Europäische Parlament ans Licht: Urheber, die in den modernen digitalen Formaten tätig sind, werden von den Ausschüttungen und Lizenzen, die die Reform vorsieht, grundsätzlich nicht profitieren. Wolfgang Tischer erläuterte neulich im Literaturcafé, dass Self-Publisher nicht in die VG Wort aufgenommen werden (unser Resümee). Friedhelm Greis wies gestern bei golem.de darauf hin, dass etwa Blogger ebenfalls nichts von den Leistungsschutzrechten bekommen werden (unser Resümee). Heute erzählt der Video-Journalist Johannes Börnsen, der für heise.de Berichte macht, die auf Youtube publiziert werden, dass er überhaupt nicht in die VG Bildkunst aufgenommen werden kann, weil dort nur die traditionellen Sender zugelassen sind: "Einerseits soll also Youtube in die Pflicht genommen werden, Geld an die Verwertungsgesellschaften zu zahlen, andererseits wird aber nicht anerkannt, dass dort eben jene Urheber, auf deren Seite sich die VG Bild-Kunst stellt, Material veröffentlichen? Und überhaupt: Warum mussten wir für unsere Youtube-Live-Sendung #heiseshow eine Rundfunklizenz beantragen, wenn Youtube gar kein Rundfunk ist?"
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Geschichte

Emmanuel Macron reist nicht zu den Gedenkfeiern, die in Ruanda des Völkermords an den Tutsi vor 25 Jahren gedenken, obwohl er eingeladen wurde, schreibt François Misser, in der taz. Die französische Komplizenschaft tritt durch neue Bücher ehemaliger französischer Offiziere immer mehr zutage: "Besonders umstritten: die französische Militärintervention 'Opération Turquoise' ab dem 22. Juni 1994, nach Monaten der internationalen Untätigkeit angesichts der Massaker in Ruanda. Da besetzte Frankreichs Armee den Südwesten Ruandas, während im Rest des Landes die Tutsi-Rebellenarmee RPF (Ruandische Patriotische Front) gegen das Völkermordregime auf dem Vormarsch war. Offiziell war dies eine 'humanitäre Intervention', um dem Morden ein Ende zu setzen. Tatsächlich schützte der französische Einsatz Hutu-Völkermordtäter vor vorrückenden Tutsi-Kämpfern und ermöglichte ihnen den geordneten Rückzug in das benachbarte Zaire."

Laut einer Meldung des Infosenders France24 hat Macron gestern angekündigt, die französischen Archive der Jahre 1990 bis 94 für Historiker des Völkermords zu öffnen.

"Nie wieder Ruanda", rief man, nachdem man dem Völkermord tatenlos zugesehen hatte. Aber danach kam Srebrenica. Und seitdem gibt es kaum Besserung, schreibt Fabian Urech in der NZZ: "Vieles spricht gar für eine weitere Zuspitzung: Seit 2010 hat sich die Zahl der weltweiten Kriegsopfer verdreifacht, die Zahl der Flüchtlinge verdoppelt, und jüngst kam eine Studie zum Schluss, dass in den letzten zwanzig Jahren allein in Afrika etwa fünf Millionen Kinder unter fünf Jahren an den Folgen bewaffneter Konflikte gestorben sind."

Seltsam, aber der Begriff des "Totalitarismus", der auch von westlichen Linken bis heute mit inniger Entschlossenheit bekämpft wird, findet doch immer auch wieder Verfechter, etwa Masha Gessen. Die taz bringt Gerd Koenens Laudatio auf die Autorin für den Leipziger Buchpreis, und er zeigt, wie sie den Begriff modernisiert: "Es geht bei dem 'Homo sovieticus' .. nicht um irgendeinen speziellen russischen Volkscharakter oder eine sonstige pauschale Zuschreibung. Sondern es geht im Kern um die mentalen Folgen dessen, was Russland im 20. Jahrhundert, nicht erst in der Stalin-Ära, sondern seit der Machteroberung der Bolschewiki 1917 und dem anschließenden mörderischen Bürgerkrieg, sich selbst angetan hat, sowohl physisch wie psychisch, soziologisch wie kulturell. Diese Geschichte, die fast jede russische Familie auf die eine oder andere Weise betrifft, ist intellektuell wie moralisch auch tatsächlich kaum zu 'bewältigen'."
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Gesellschaft

Auch die FR bespricht jetzt die Frankfurter Ausstellung "Contemporary Muslim Fashions". Und Manuel Almeida Vergara haut jetzt aber mal auf den Tisch: "In der internationalen Mode hat man begriffen, was im konservativ-feministischen Lager Deutschlands noch nicht angekommen ist: In einer freien Gesellschaft ist kein Platz für Stimmen, die die Mündigkeit muslimischer Frauen infrage stellen und so ihre Privatsphäre, ihre Religiosität, ihren Modestil kolonialisieren."
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Europa

In Berlin sollen Wohnungskonzerne enteignet werden. Engagierte Bürger werben für ein Volksbegehren, das Volk ist begeistert. Und die Deutsche Wohnen würde einen Riesenprofit machen, weil sie für Wohnungen, für die sie im Schnitt 30.000 Euro bezahlte, das Vielfache zurückbekommen würde, schreibt Caroline Fletscher im Tagesspiegel. Überhaupt sind Referenden ein äußerst gefährliches Instrument: "Der bloße Blick auf das britische Referendum zur Frage des Verbleibs der Insel in der Europäischen Union zeigt, wie manipulierbar und angreifbar das Volk in seinem Begehren sein kann." Es gibt aber ein Gegenbeispiel: "In der Schweiz, wo es seit Generationen Erfahrungen mit Referenden gibt, vertiefen sich die friedensgewohnten Demokraten in teils kiloschwere Papierstapel, ehe sie ihre Kreuzchen setzen. Mit Glück wenden sie das Desaster ab, dem öffentlichen Rundfunk den Garaus zu machen. Mit weniger Glück verabschieden sie ausländerfeindliche Regelungen, auch das ist schon vorgekommen." Die taz fragt in einem großen Hintergrundtext nach den Chancen des Berliner Volksbegehrens. Gestern äußerte sich der Chef der Deutsche Wohnen, Michael Zahn, in einem langen taz-Interview.
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