9punkt - Die Debattenrundschau

Taktik der Könige

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
22.03.2019. Aufgeschoben ist nicht aufgehoben. Der Guardian tröstet sich: "Nicht der Brexit erzeugte die Krise in unserer Politik, sondern die Krise machte den Brexit möglich." In der Welt erklärt Philippe Lançon von Charlie hebdo, warum er die radikale Linke in Frankreich für so fatal hält. Die Debatte um die EU-Urheberrechtsreform geht vielstimmig weiter. In der Berliner Zeitung spricht Boualem Sansal über die Krise in Algerien.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 22.03.2019 finden Sie hier

Europa

Nun gibt es wieder einen leichten Aufschub für den Brexit. Bis zum 12. April darf Theresa May noch versuchen, ihren Deal durchs Unterhaus zu bekommen. Schafft sie das, wird der Brexit bis zum 22. Mai verschoben. Die EU hat die Kontrolle über die Fristen übernommen, heißt es in den Medien. Und Gary Younge tröstet sich in einem Leitartikel für den Guardian: "Nicht der Brexit erzeugte die Krise in unserer Politik, sondern die Krise machte den Brexit möglich. Diese Krise ist keineswegs nur britisch. Seit dem wirtschaftlichen Crash von 2008 haben die meisten Länder des Westens den Verlust von Wählern, die Schwächung der Mainstream-Parteien, einen Aufstieg von Identitätspolitik und Frömmelei, Protest und eine nicht mehr funktionierende Politik erlebt."

Im Welt-Gespräch mit Ute Cohen erklärt der Journalist Philippe Lançon, der das Charlie-Hebdo-Attentat schwer verletzt überlebte und mit "Der Fetzen" aktuell ein Buch zum Thema vorgelegt hat, warum man vom Krieg der Attentäter gegen den Westen sprechen sollte und weshalb er der extremen Linken in Frankreich Verachtung und Undifferenziertheit vorwirft: "Die extreme Linke hat die Vision einer strahlenden Zukunft, deren Preis allerdings die Eliminierung des Gegners wäre. Das hat sie mit der extremen Rechten gemein. Ständig ist bei der Linken die Rede von Gewalt gegenüber den Armen, der Macht des Staates und der Reichen. Ich leugne nicht, dass es all das gibt, aber Gewaltpropaganda ist keine Lösung. Das ist das Gerede einer Sekte, das sind Trunkene, besoffen von ihrer eigenen Ideologie. Darauf reagiere ich sehr empfindlich, eben weil ich mich links verorte. Charlie Hebdo übrigens ist nur in puncto Laizismus und Ökologie dezidiert links: Und natürlich in Sozialreportagen über Frankreich. Charlie ist ganz bestimmt nicht Teil jener Linken, die ein Verständnis für die Islamisten hat."

In der NZZ spannt der polnische Lyriker Tadeusz Dabrowski einen großen Bogen, um vom Attentat auf den Danziger Bürgermeister Pawel Adamowicz bis zur "Depression" des "postnihilistischen" Westens zu kommen und schließlich die Wurzel allen Übels auszumachen: das Internet. Das Virtuelle lasse Identitäten verschwimmen und führe zu Realitätsverlust und Aggression, meint er: "All die Persönlichkeiten, die in uns wohnen, wie auch die Personen, die wir im Netz sein können, kommunizieren nicht mehr miteinander, wissen mitunter nicht einmal voneinander. Das Internet saugt das Reale auf, es lässt uns agieren wie Figuren in einem Computerspiel. Ob Stefan W., der Mörder von Pawel Adamowicz, ein Psychotiker ist oder ein ganzer normaler Internet- und TV-Nutzer, müssen die Gutachter klären. Ungeachtet dessen wurde auch er vom Virtuellen aufgesaugt, das sich in seinem Kopf und auf der Bühne der Danziger Wohltätigkeitsveranstaltung aktualisierte und zum Realen wurde."
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Urheberrecht

Die Freischreiber machen auf Artikel 12 der europäischen Urheberrechtsrform aufmerksam, die nächste Woche durchs Parlament  gehen soll. Er stellt jene Zustände bei den Verwertungsgesellschaften her, gegen die Martin Vogel erfolgreich geklagt hatte (seine Artikel im Perlentaucher): "In der öffentlichen Wahrnehmung dominiert die Debatte um Artikel 11 und 13. Dabei wird übersehen, dass vor allem Artikel 12 einer Enteignung von Autoren, Kreativen und anderen Urhebern gleichkommt. So ist darin eine pauschale Beteiligung von Verlagen an den Einnahmen aus Verwertungsrechten vorgesehen. Sowohl der Bundesgerichtshof als auch der Europäische Gerichtshof haben jedoch geurteilt, dass diese Einnahmen ausschließlich den Urhebern zustehen."

"Wir brauchen ein ganz neues Urheberrecht", ruft die Science-Fiction-Autorin Sina Kamala Kaufmann im Tagesspiegel: "Der Kern dessen, was Wikipedia, Open Source und Creative Commons ausmacht - also das Kollaborative und das Miteinander - sollte nicht die Ausnahme der Regel sein, sondern der ideelle und technische Standard. Für Bildung, Wissenschaft und Kunst, für eine offene Gesellschaft. Um das, was sich hinter der ideell-gesetzlichen Konstruktion des geistigen Eigentums verbirgt, auch zu erhalten. Alles andere ist alt-kapitalistischer, besitzstandswahrender Irrsinn."

Supersauer ist dagegen Thomas Thiel in der FAZ, die sich in dieser Debatte mal wieder durch gnadenlose Propaganda auszeichnete: "Die Evangelisten des Immateriellen hatten vom Internet keinen blassen Schimmer. Sie sahen nicht die Machtstruktur, es ging ihnen um die Erfüllung von Konsumansprüchen. Die Verachtung geistiger Leistung, die damit heranwuchs, ist noch das kleinere Übel. Das größere ist die Manipulation des Bewusstseins, die Umformung des Gemeinwesens in ein vom Silicon Valley aus gesteuertes User-Heer und die Zerstörung der Strukturen, die einen klaren Verstand ermöglichen." Und "dass die Politik ihre Selbstabschaffung betreibt, wenn sie sich von den Konzernen die Regeln aufzwingen lässt, muss ihr in den vergangenen Tagen klargeworden sein", schreibt er noch. Er meint die einen Konzerne, den anderen darf die Politik ruhig gehorchen.
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Ideen

Maxim Billers kürzlich in der Welt geäußerte Kritik an "Linksrechtsdeutschen", also jenen, die links reden, aber rechts handeln, (Unser Resümee) trifft einen wunden Punkt, schreibt in der SZ die Schriftstellerin Jagoda Marinic, die der politischen und kulturellen Elite eine Verweigerung des Diskurses vorwirft: "Auch Verlage und Medien nähern sich in ihren Strukturen nicht der Diversität des Publikums an, das sie erreichen könnten. Man betrauert den eigenen Bedeutungsverlust, statt für die Öffnung in den eigenen Reihen zu sorgen und so neue Debatten und Blickwinkel zu integrieren und neue Zielgruppen zu erschließen. Die Populisten wettern, 'die Medien' stünden zu weit links. Wie kann es dann sein, dass die Quoten von Mitarbeitern mit Migrationsgeschichte sich auch dort im einstelligen Bereich befinden?"
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Politik

Palästinenser im Gaza-Streifen protestieren, und es wird auf sie geschossen. Aber seltsamerweise berichtet keiner drüber. Ach so, das könnte daran liegen, das nicht die Israelis, sondern die Kämpfer der Hamas schießen, vermutet Bret Stephens in der New York Times. Die Hamas will Proteste gegen ihr Korruptionsregime einfach nicht zulassen. Und "niemand sollte sich von der Spärlichkeit der westlichen Berichterstattung überraschen lassen: Es würde eine bequeme Erzählung über den israelisch-palästinensischen Konflikts nur behindern, die besagt, dass die Israelis nicht nur die Hauptunterdrücker, sondern die einzigen sind. Das speist sich aus der größeren progressiven Fiktion, dass die großen Verbrechen der Nachkriegswelt diejenigen sind, die der Westen am Rest der Welt verübt hat. Viel schlimmer waren die Verbrechen nicht westlicher Potentaten - Mao Zedong, Pol Pot, Saddam Hussein, Fidel Castro, Idi Amin, Nicolás Maduro - an ihren eigenen Völkern."

Im Gespräch mit Stefan Brändle von der Berliner Zeitung spricht der algerische Schriftsteller Boualem Sansal über das enorme politisch-militärische Regime hinter Abdelaziz Bouteflika, die Erfolgschancen der Demonstranten, die er bei etwa fünfzig Prozent sieht, und die Taktik der Regierung, eine freie Presse in Grenzen zuzulassen: "Den Hofnarren reden zu lassen ist eine alte Taktik der Könige. Die Pressefreiheit, von der Sie sprechen, hat die Dinge in Algerien nie um ein Jota verändert. Sie freut nur die westlichen Beobachter. In Wahrheit werden die Medien von einem ranghohen Vertreter des Präsidialamtes kontrolliert. Er legt die Grenzen fest, die nicht zu überschreiten sind, und bestimmt, wie weit die Kritik gehen darf. Die Pressefreiheit wird auf tausend Arten eingeschränkt - etwa durch die Verteilung der Werbung auf die 'guten' Titel, aber auch durch Prozesse und sehr hohe Bußgelder."

Seit dem Attentat von Christchurch blühen in den chinesischen sozialen Netzen wie Weibo Hassposts gegen Muslime, stellt Tony Lin in einem interessanten Hintergrund für die Columbia Journalism Review fest: "Es fehlen Verständnis und Akzeptanz für eine Eindämmung von Hate Speech gegen ethnische Gruppen oder Minderheiten, und die westliche Idee 'politischer Korrektheit' wird tendenziell abgelehnt - nur bei Themen wie der taiwanesischen oder tibetanischen Unabhängigkeit herrscht große Vorsicht. Auch Posts über Umerziehungslager der Regierung für die uigurische Minderheit sind extrem heikel und würden strenge Strafen wie die Löschung von User-Accounts nach sich ziehen."

Für die NZZ ist Knut Henkel nach Guatemala gereist, um sich mit dem Schriftsteller Arnoldo Galvez Suarez über die Situation in dessen Heimatland zu unterhalten. Bis heute seien Diktatur und Bürgerkrieg nicht aufgearbeitet, sagt Suarez: "'Bestes Beispiel dafür ist die Tatsache, dass der Bürgerkrieg im Geschichtsunterricht in den Schulen keine Rolle spielt.' 22 Jahre nach dem formellen Ende des Bürgerkriegs und 30 Jahre nach dem Beginn der Friedensverhandlungen ist das eine schwer zu begreifende Tatsache. Sie trägt dazu bei, dass Guatemala bis heute ein polarisiertes Land ist: auf der einen Seite die Opfer und diejenigen, die für Aufklärung und Strafverfolgung eintreten, auf der anderen die Täter, die auch nach dreißig Jahren noch an den Schalthebeln der Macht sitzen."
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