9punkt - Die Debattenrundschau

Mit Meilenstiefeln unterwegs

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
13.03.2019. Heute findet in Berlin die Kulturministerkonferenz statt, in der über Restitution von Kolonialkunst verhandelt werden soll. Die Welt begrüßt die Konferenz und ihre gemeinsame Erklärung als Etappe in einem Prozess der Bewusstwerdung. Im Tagesspiegel erklärt Katja Lange-Müller, warum sie die Petition "Schluss mit dem Gender-Unfug" unterzeichnet hat. Die taz beschreibt die Abschottung des Internets in Russland, während Russland in anderen Ländern wie Frankreich laut politico.eu gern ein möglichst offenes Netz hat, um Fake News zu verbreiten.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 13.03.2019 finden Sie hier

Internet

Klaus-Helge Donath, der mit Andrei Soldatow, Autor des Buchs "The Red Web - The Kremlin Wars on the Internet" gesprochen hat,  erzählt mehr über das autonome Internet, das Russland sich unter dem Namen Runet schaffen will (unser Resümee). Es wird nicht nur lückenlos kontrolliert, sondern ist auch regional abschaltbar. Passiert ist das schon in Inguschetien, nachdem es dort Proteste wegen eines Streits mit Tschetschenien gegegeben hatte: "Aktivisten und Journalisten berichteten, bis die Verbindungen plötzlich verschwanden. Alle drei in Inguschetien tätigen Mobilfunkunternehmen hatten ihre 3G- und 4G-Verbindungen auf Wunsch des Geheimdienstes ausgeschaltet, sagt Andrei Soldatow. Die Livestreams der Reporter brachen ab. Zwei Wochen nahm der Geheimdienst die Republik auf diese Weise vom Netz. Zwar konnte nicht alles lückenlos abgeschaltet werden, der Probelauf sei dennoch als Erfolg gewertet worden, meint Soldatow."

Anderswo bevorzugt Russland ein offenes Internet. Nicholas Vinocur stellt in politico.eu eine ausführliche Studie der NGO Avaaz vor, die Fake News bei den Gelben Westen untersuchte - mit schockierenden Ergebnissen: Als gefälscht entlarvte Nachrichten wurden auf Facebook über hundert Millionen mal geteilt: "Die Studie unterstreicht auch auch die beispiellose Popularität der RT-Berichterstattung über die Bewegung auf Youube. Die Videoberichte der kremlunterstützten Nachrichtenagentur sammelten mehr als 20 Millionen Besucher auf der Google-eigenen Plattform - mehr als doppelt so viele wie Le Monde, L'Obs, France 24, Le Figaro und huffpo.fr zusammen." Die Studie kann man hier als pdf-Dokument herunterladen.

Außerdem: In der FAZ verteidigen einige Lobbyisten und Lukas Schneider von den Grünen nochmal Uploadfilter mit dem Argument, dass das EU-Urheberrecht als Maßnahme gegen die großen Internetkonzerne zu verstehen sei.
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Europa

Nach dem das kleinere Übel, Theresa Mays Deal, nun wieder im Unterhaus gescheitert ist, bleibt nurmehr eine Auswahl von Sackgassen und Katastrophen auf dem Weg Britanniens aus der EU, schreibt Rafael Behr im Guardian. Flöten gegangen ist nebenbei auch das Bild Britanniens als eines Horts konservativen Pragmatismus: "Britannien pflegte einst das Bild eines nüchternen, gesetzestreuen und realistischen Euroskeptizismus. Die Sichtweise, die es in die Geschäfte der EU einbrachte, die lakonische Distanz zu kontinentalen Anflügen von Föderalismus wurden oft auch von anderen Mitgliedsstaaten geschätzt. Sie waren Teil eines kulturellen Mixes. Aber dieser Charakterzug ist in einem Orkan eines romantischen Nationalismus untergegangen, der jedes rationale Bedenken beiseite wischt und praktische Einwände als einen Mangel an Patriotismus verurteilt."
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Ideen

Janne Knödler berichtet in der SZ über einen Streit im akademischen Milieu um die Einladung von "Provokateuren und umstrittenen Figuren wie Thilo Sarrazin oder Götz Kubitschek" zu universitären Diskussionsveranstaltungen. Dass man ihnen kein Forum bietet, findet sie ganz in Ordnung, könne man ohne die zwei doch viel besser über Meinungsfreiheit diskutieren als mit ihnen: "Die Demokratie, scheint man sich einig zu sein, muss Dissens, Debatte und Streit aushalten. Und doch gehört es zu einem aufgeklärten Diskurs, seine Grenzen zu verhandeln." Die Frage für Knödler scheint vor allem zu sein, wie man sich der Debatte mit den "Provokateuren" entziehen kann, ohne sich den Vorwurf einzuhandeln, man entzöge sich der Debatte.

Dass der Rechtsradikalismus in Deutschland zugenommen hat, bezweifelt Klaus Theweleit in einem sehr langen Gespräch mit dem Freitag über Gewalt, Attentäter Männer- und Frauenangst doch sehr. Zu gut erinnert er sich an die Sprüche von Arbeitern und Politikern wie Dregger oder Strauß in den 60er Jahren: "Es gibt heute weniger Leute, die so sind. Das war in den 50ern und 60ern die absolute Mehrheit, bis in gewerkschaftliche Kreise. Bei SPD-Arbeitern war der Italiener-Hass auch da. Fußball war da die Rettung, für mich jedenfalls. Damit wurde man auf der Baustelle akzeptiert. Und konnte reden."
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Politik

Der Politologe Rachid Ouaissa spricht mit Jannis Hagmann von der taz über die Lage in Algerien, nachdem Präsident Bouteflika erklärte, nicht mehr neu kandidieren zu wollen: "Das Volk will eine mit dem Regime verhandelte Transition, so wie in Polen Ende der achtziger und Anfang der neunziger Jahre. Ein radikaler Bruch, wie es in der DDR der Fall war, könnte in Algerien chaotisch verlaufen. Aber das Regime will eine gelenkte Transition, einen Wandel, den es selbst diktiert. Das ist auch der Inhalt des Briefs von Montagabend: Wir sagen, wie es weitergeht. Genau das aber will das Volk nicht."

Auch Martin Gehlen hat in der Zeit nicht viel Hoffnung, dass sich die Lage in Algerien zum Besseren wendet: Es werde wohl "zu einem zähen Tauziehen kommen zwischen den Kräften der Beharrung, die von dem miserablen Zustand Algeriens glänzend profitieren, und den Vertretern der Jungen und Frustrierten, die eine Öffnung, Demokratisierung und Umverteilung der Ressourcen fordern. Die Modernisierer jedoch sitzen am kürzeren Hebel, denn die Zeit läuft gegen sie. ... Und so könnten die Reformkräfte am Ende des Jahres vor der Wahl stehen, sich mit kosmetischen Novellierungen an einzelnen Grundgesetzartikeln abzufinden, um endlich den Weg frei zu machen für die Wahl eines Nachfolgers von Bouteflika - oder sich damit abzufinden, dass dieser doch noch länger im Amt bleibt."

Emma.de bringt ein paar Hintergrundinformationen zum Fall der Menschenrechtlerin Nasrin Sotoudeh, die zu einer Gefängnisstrafe von 33 Jahren und 148 Peitschenhieben verurteilt wurde (unser Resümee). "Die 55-jährige Anwältin verteidigt schon seit Jahrzehnten vor allem Frauen, die sich gegen die Zwangsverschleierung und für ihre Rechte einsetzten. Bereits 2010 war sie zu elf Jahren Gefängnis und Berufsverbot verurteilt worden. Sie wurde jedoch nach drei Jahren überraschend freigelassen und durfte auch wieder ihren Beruf ausüben."
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Kulturpolitik

Heute findet in Berlin die Kulturministerkonferenz statt, in der über Restitutionen von Raubkunst verhandelt werden soll. Dass der Entwurf, über den diskutiert werden soll, im Vorfeld mehrfach abgeändert wurde, wie die FAZ kürzlich kritisierte (unser Resümee), findet Swantje Karich in der Welt ganz in Ordnung: "Der Kolonialismus wird als 'Verbrechen gegen die Menschlichkeit' bezeichnet, eine Definition, die unmittelbar mit den Verbrechen im Nationalsozialismus verknüpft ist. In einer zweiten Version ist diese Bezeichnung verschwunden - und auch die Verantwortung Deutschlands eingeschränkt. Diese Debatte aber lenkt von etwas viel Wichtigerem ab: Unabhängig davon, wie die Erklärung am Ende aussehen wird, ist eine gemeinsame Erklärung schon ein Verdienst, weil es einen Prozess der Bewusstwerdung auf einem noch sehr unbestellten Feld in Gang setzt: Was ist der Kolonialismus für Deutschland? Wie wollen wir uns zu ihm verhalten?"

Raphael Gross, Chef des Deutschen Historischen Museums, begründet in der FAZ, warum er eine Rückgabe der Säule von Cape Cross, eines Markzeichens des Kolonialismus, an Namibia befürwortet - obwohl Namibia wohl keinen Rechtsanspruch auf die Rückgabe hätte: "Für eine Rückgabe sprechen aber ethische und politische Überlegungen. Der wichtigste Gesichtspunkt für die Frage nach der Rückgabe ist für das DHM seine Haltung zur historischen Aufarbeitung der deutschen Kolonialgeschichte in Namibia. Insbesondere geht es in diesem Fall um die Auseinandersetzung mit den an verschiedenen Bevölkerungsgruppen Namibias verübten Verbrechen gegen die Menschheit ('crimes against humanity')."
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Gesellschaft

Im Tagesspiegel erklärt die Schriftstellerin Katja Lange-Müller, warum sie die Petition "Schluss mit dem Gender-Unfug" unterzeichnet hat: Allein die Prämisse, Geschlechterungerechtigkeit entstehe durch die der deutschen Sprache eigenen "Geschlechtswörter", hält sie für Unsinn: "Sämtliche 'Wortbildungslehren beschreiben das Ergebnis der Ableitung von Substantiven mit dem Suffix 'er' aus Verben (Bäcker aus backen) als 'Person, die jene vom Verb bezeichnete Tätigkeit ausübt'. Von Männern ist beim Nomen Agentis nicht die Rede. Bäcker als Maskulinum bezeichnet ebenso wenig ausschließlich Männer wie Person als Femininum ausschließlich Frauen bezeichnet. So ist das im Deutschen,' schreibt der keiner unsachlichen Polemik verdächtige Linguist Peter Eisenberg. Wollen wir unsere Sprache und deren grammatikalische Substanz nicht erst einmal richtig verstehen, ehe wir es gestatten oder erdulden, dass allzu aktivistische Streiterinnen und Streiter für die absolute und damit illusorische Gendergerechtigkeit - Politsoziologinnen und Politsoziologen, Firmenchefinnen und Firmenchefs, Amtsschimmelstuten und -hengste - sie (in wessen Sinne eigentlich?) reformieren oder eher deformieren?"
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Überwachung

Bilder von uns, die im Internet und sozialen Medien kursieren sind die Rohmasse zur Entwicklung von Algorithmen zur Gesichtserkennung, warnt Olivia Solon bei NBC News: "Die Gesichter dieser Leute werden ohne ihre Einwilligung verwendet, um eine Technologie voranzubringen, die genutzt werden kann, um sie zu überwachen. Besondere Sorgen müssen sich Minderheiten machen, die zum Ziel von Profilierungen werden können, sagen Experten und Anwälte. 'Die ist das schmutzige kleine Geheimnis der KI-Trainigsprogramme' sagt der Rechtsprofessor Jason Schultz von der New York University. 'Forscher greifen einfach nach allen Bildern, die sie finden.'"
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