9punkt - Die Debattenrundschau

Im Namen historischer Gerechtigkeit

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
05.12.2018. Die französische Regierung hat die Erhöhung der Dieselsteuer kassiert. Nun ist es an den "Gelben Westen", Verantwortung zu zeigen, schreibt Bernard-Henri Lévy in Le Point. Pascal Bruckner verzweifelt in der NZZ am linken Konservatismus. Le Monde analysiert die Forderungen der Bewegung: zwei Drittel seien links. Und die restliche Hälfte rechts... Die Islamkonferenz repräsentiert nur eine Minderheit der Muslime, meint die Alewitin und Rapperin Reyhan Şahin alias Lady Bitch Ray in der SZ. Der Medientheoretiker Erhard Schüttpelz veröffentlicht in einem Blog der Uni Köln eine scharfe Attacke auf den Bericht von Bénédicte Savoy und Felwine Sarr.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 05.12.2018 finden Sie hier

Europa

Nachdem die französische Regierung ein Moratorium für die Dieselsteuererhöhung verkündet hat, haben auch die "Gelben Westen" eine Verantwortung, findet Bernard-Henri Lévy in Le Point - unter anderem die, sich loszusagen "von Intellektuellen wie Luc Ferry oder Emmanuel Todd, die unterstellen, dass es vielleicht 'kein Zufall' sei, dass die Randalierer so leicht bis zum Arc de Triomphe vordringen konnten, um dort einzudringen und Verwüstungen anzurichten - sie führen diese Bewegung in die schlimmste aller Fallen, das Verschwörungsdenken." Lévy findet sogar einen historischen Vorläufer, den Syndikalisten Pierre Bietry, der vor 1914 für einen "Gelben Sozialismus" focht, bevor er nach rechts abwanderte.

Es ist Emmanuel Macrons bisher dunkelste Stunde, kommentiert nicht nur Matthew Karnitschnig in politico.eu: "Die letzten Tage haben gezeigt, was von Macrons Vision geblieben ist. Ob's um die Benzinsteuer geht, die Pläne für eine europäische Digitalsteuer oder die geplante Reform der Eurozone, Macron hat nur wenige seiner Vorschläge verwirklichen können." Sehr ernst auch der Kommentar der FAZ-Korrespondentin Michaela Wiegel: "Das Rückzugsmanöver, das die Regierung am Dienstag eingeleitet hat, wird wie ein Menetekel auf allen weiteren Reforminitiativen Emmanuel Macrons lasten. Es braucht jetzt einen Überschuss an Optimismus, in dieser Entwicklung nicht den Anfang vom Ende des europäischen Hoffnungsträgers zu sehen."

Immerhin zirkulieren nun zwei Dokumente mit Forderungen der "Gilets jaunes" (hier und hier): Der Mindestlohn soll 1.300 Euro betragen, das Maximalgehalt 15.000 Euro, die Mindestrente 1.200 Euro. Statt Benzinsteuern zu erheben, sollen Häuser isoliert werden, damit die Bewohner Geld sparen. Abgeordnete sollen ein "Median-Gehalt" bekommen. Die Austeritätspolitik soll beendet werden, Verlegungen industrieller Fertigung ins Ausland sollen verhindert werden. Le Monde analysiert die Papiere und kommt zu dem Ergebnis: Zwei Drittel der Forderungen entsprechen den Forderungen des linksradikalen Präsidentschaftskandidaten Jean-Luc Mélenchon. Und die Hälfte der Forderungen entspricht den rechtsradikalen Forderungen Marine Le Pens...

Die Franzosen haben Macron gewählt, weil sie den alten Rezepten der Rechten und der Linken nicht mehr trauten. Jetzt aber schlagen sie in einer Kombination aus Selbsthass und Arroganz lieber alles kaputt als Veränderungen zuzulassen, seufzt der französische Philosoph Pascal Bruckner in der NZZ. "Im Prinzip wäre diese Scheu vor dem Neuen 'konservativ' zu nennen. Nun hat der französische Konservatismus aber eine erstaunliche Eigenheit: Er drückt sich immer in der Sprache der Revolution aus. Dieses Paradox ist durch die Position der Linken in Staat und Medien zu erklären: Seit 1945 hat sie dem Land in kulturellen Belangen den Stempel aufgedrückt und ihre Art des Denkens und Argumentierens durchgesetzt. So fungiert sie gewissermaßen als Über-Ich der Republik. Die Linke ist die Instanz, der man immer Rechenschaft ablegen muss; wer immer in Frankreich handeln oder legiferieren will, muss sich an ihrer ideologischen Richtschnur messen lassen, und keine Rede findet Gefallen, wenn sie nicht mit einer soliden Verdammung des Marktes anhebt und die Kraft der Revolution betont. Das führt zu der seltsamen Situation, dass sich heute dezidierte Fortschrittsfeinde, die einzig für die Wahrung ihrer alten Interessen kämpfen, eine Rhetorik der Bewegtheit und Bewegung borgen."

Leicht fremdelnd berichtet der noch recht frischgebackene NZZ-Korrespondent Benedict Neff über Berlin: "Berlin ist auch nicht eine Stadt der Jugend, wie es immer heißt. Es verhält sich eher so: Viele Vierzigjährige haben hier ihr Leben nach dem Studium einfach nicht angepasst; ihr Lebensrhythmus bleibt maßgeblich bestimmt von Berauschung und Ausnüchterung."
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Gesellschaft

Die Islamkonferenz repräsentiert nur eine Minderheit der Muslime, meint die muslimische Alewitin und Rapperin Reyhan Şahin alias Lady Bitch Ray in der SZ und zählt auf, wessen Stimme alles fehlt: queere und antipatriarchale Stimmen sowie die Stimmen jener, die den Begriff Muslim nicht auf sich beziehen (damit sind aber offenbar nicht Nicht-Muslime gemeint). Ob diese tatsächlich "die Mehrheit der hier lebenden Menschen muslimischen Backgrounds" stellen, wie Sahin behauptet? Von Islamkritikern möchte sie sich zwar auch abgrenzen, aber sie wünscht sich für die Zukunft eine ideologiekritische Lesart des Korans. Und: "Es braucht Konzepte gegen Antisemitismus, Antialevismus, den Hass von Türken gegen Kurden, gegen den innerislamischen Rassismus gegen schwarze Musliminnen und Muslime. Es braucht die Auseinandersetzung mit dem Rechtspopulismus und dem antimuslimischem Rassismus in der Mehrheitsgesellschaft und den Umgang mit der Islamkritik."

Das "Denunziationsportal" soko.chemnitz.de des Zentrums für politische Schönheit sorgt immer noch für Diskussionen. Im Tagesspiegel findet Lorenz Maroldt die Aktion völlig in Ordnung. Da bekommt jemand mal die eigene Medizin zu schmecken, meint er: "Mit der Chemnitz-Aktion reagiert das Zentrum für politische Schönheit einmal mehr auf die ausbleibende Empörung dort, wo sie geboten wäre. AfD-Politiker rufen Schüler dazu auf, ihre Lehrer im Internet zu denunzieren, falls die sich abfällig über die Partei äußern. Der Satiriker Schlecky Silberstein und seine Mitstreiter erhalten nach einem Satire-Video über den Wahnsinn von Chemnitz Hausbesuch von einem AfD-Abgeordneten, der ihr Klingelschild abfilmt. Das Video mit den Adressendetails kursiert kurz darauf im Netz, Morddrohungen sind die Folge. Der Internetpranger des ZPS wirft diese Hetzmethoden mit Schlingensief'scher Wucht auf die Rechten zurück."

Auf Zeit online hält Tobias Haberkorn die Aktion für "doppelt anmaßend und wahrscheinlich auch in zweierlei Hinsicht illegal: Das Künstlerkollektiv hat ohne berechtigtes Interesse Daten über Dritte gesammelt und ausgewertet; damit verstößt es wohl gegen die Datenschutzgrundverordnung. Und es ist im Begriff, diese Daten an die Arbeitgeber der ausgewerteten Menschen weiterzugeben. ... Es ist davon auszugehen, dass viele Betroffene auf Unterlassung klagen werden. Und anders als bei früheren Aktionen wird sich das Zentrum für Politische Schönheit nur schwer mit dem Argument der Kunstfreiheit gegen diese Klagen wehren können: Anonyme Rechtsextreme sind als Personenkreis sicher interessant. Personen öffentlichen Interesses sind sie nicht. Ihre Denunziation gegenüber dem Arbeitgeber ist keine künstlerisch wertvolle oder ironische Schmähung."

Im Interview mit der FR verteidigt Philipp Ruch vom Zentrum für politische Schönheit seine Aktion: "Denunziation ist ein Begriff, der ohne staatliche Gewalt keinen Sinn ergibt. Die Soko Chemnitz bietet zwar der sächsischen Polizei eine Kooperation an, aber darauf gehen die zu unserer großen Überraschung nicht ein. Kunst verfügt über keine Hausmacht, außer vielleicht die Macht der Poesie und Doppelbödigkeit. Wir sind kein diktatorischer Staat, der seine Bürger drangsaliert. Wir sind vielleicht eine NGO, die etwas kompromissloser für die Menschenrechte kämpft als die großen player in diesem Land. Was will man denn bei uns denunzieren? Wo ist unsere Zwangsgewalt? 'Denunziation' gewinnt erst seine schreckliche Bedeutung vor der Möglichkeit der Gnadenlosigkeit totalitärer Gewalt."
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Medien

Paul Farhi attackiert in der Washington Post den Guardian, der berichtet hatte, dass es ein Treffen von Paul Manafort, einem Wahlkampfmanager Trumps, und Julian Assange in der äquatorischen Botschaft in London gegeben habe (unser Resümee) - bisher habe der Guardian keine Beweise vorgelegt: "Die Zeitung sagt, Manafort habe die Botschaft dreimal besucht, zum letzten Mal im März 2016, als er sich vierzig Minuten lang mit Assange unterhalten haben soll. Sie beschrieb Manafort als 'lässig gekleidet, als er die Botschaft verließ mit sandfarbenen Chinos, eine jacke und einem hellen Hemd'. Aber die Story nennt nicht das genaue Datum des Treffens."
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Kulturpolitik

Eine der schärfsten Kritiken des Savoy/Sarr-Reports zur Rückgabe afrikanischer Kunst findet sich in dem Blog "Wie weiter mit Humboltds Erbe", das an der Uni Köln betrieben wird. Autor ist der Siegener Medientheoretiker Erhard Schüttpelz, der den Bericht von Bénédicte Savoy und Felwine Sarr als eine Auslöschung von Geschichte und historischer Auseinandersetzung angreift: "Dies ist nicht ein Bericht über geplünderte Kunst, sondern über die Plünderung von Museen im Namen historischer Gerechtigkeit." Unter anderem wirft Schüttpelz den Autoren vor, dass es "keine Bewertung anthropologischer Museumsarbeit gibt, keine Geschichte der anthropologischen Museumsarbeit, es gibt nicht einmal eine Anerkennung, dass eine solche Arbeit in anthropologischen Museen geleistet wurde. Sie ignorieren die Arbeit, die für ihr eigenes Unternehmen entscheidend war und behandeln sie als nicht existent.  Das ist keine Geschichte, sondern eine Philosophie der Geschichte; keine Philosophie der Geschichte (weil diese mehr Beweise braucht), sondern die Erlösung aus der Geschichte: ein Argument für ahistorische Erlösung. (...) Wie steht es um hundert Jahre Arbeit über und gegen Kolonialismus in der Anthropologie? Um all die Akten, die die alte koloniale Maschinerie dokumentieren? Um eine Anerkennung der Arbeit, die für das historische Gedächtnis der Menschheit geleistet wurde?" Schüttpelz verweist auch auf die Reaktion einiger Museumsdirektoren (darunter Hartmut Dorgerloh) im Art Newspaper.

Für Jörg Häntzschel (SZ) ist anthropologische Museumsarbeit und Provenienzforschung schlicht Drückebergerei, ein Spiel auf Zeit. Statt zu forschen, sollten die Museen erst einmal ihre Bestände öffentlich machen: "Für die Mehrzahl der Objekte bedient man sich hierzulande noch der Karteikarten und Inventarbücher, die teils über hundert Jahre alt sind. Viele Museen können nicht genau sagen, wie viele Stücke sie besitzen. Digitale Inventare umfassen oft nur Teile der Sammlungen und bestehen nur aus Übertragungen der alten Karteikarten. Öffentlich einsehbar ist bislang so gut wie nichts. Berlin mit 70.000 von 500.000 Objekten ist die Ausnahme. Nicht nur das: Ein Teil der Bestände in den Museen ist überhaupt nicht inventarisiert." Dass dies noch nicht geschehen ist, schreibt Häntzschel mit der Direktorin der sächsischen Völkerkundemuseen, Nanette Snoep, einer "Angst vor Kontrollverlust" bei deutschen Kuratoren und Direktoren zu.

Inzwischen hat Emmanuel Macron die ersten geraubten Kunstwerke zurückgegeben, berichtet Martina Meister in der Welt: "Benin war der erste afrikanische Staat, der Restitutionsforderungen an Frankreich stellte. Er ist der erste, der die eingeklagten Werke jetzt zurückerhalten wird. Die Rückgabe ist eine Kulturrevolution, deren Ausmaß sich die wenigsten klarmachen. In einer Presseerklärung von Emmanuel Macron hieß es Ende vergangener Woche feierlich: 'In Einklang mit den bereits eingeleiteten Vorgehensweise (…) hat der Präsident der Republik entschieden, unverzüglich die 26 von der Regierung des Benin geforderten Werke zurückzugeben, die General Dodds nach den blutigen Schlachten von 1892 als Kriegsbeute aus dem Palast Béhanzins entwendet hat.'"
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Wissenschaft

In der NZZ ist der Philosoph Otfried Höffe froh, dass die internationale Gemeinschaft der Wissenschaftler mit Empörung auf den Tabubruch des chinesischen Biophysikers He Jiankui reagiert hat, der ins Erbgut zweier Mädchen eingriff, um sie gegen HIV zu immunisieren. Doch alle Kritik daran gebe noch keine Antwort auf die Frage, ob es schlimme Krankheiten gibt, bei denen das in Zukunft erlaubt sein könnte: "Selbst wenn man diese Frage bejaht, darf man sich drei Anschlussfragen nicht versperren. Erstens: Wer stellt die Positivliste der Krankheiten auf, die zu solchen medizinischen Massnahmen berechtigen - und wer verhindert, dass die Liste immer länger wird? Zweitens: Wer kontrolliert die Durchsetzung und sorgt dafür, dass die getroffenen Vereinbarungen weltweit eingehalten werden? Drittens: Darf man zulassen, dass die Technologie, wie zu erwarten ist, kommerzialisiert und damit zu einem Privileg weniger Menschen wird, die sie sich leisten können?"
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Ideen

Die rechtspopulistischen und -extremen Bewegungen und Parteien in Europa sind nicht einfach nationalistisch, sondern versuchen sich immer mehr zu vernetzen, schreibt Mark Lilla in der New York Review of Books: "Journalisten haben Steve Bannons Bemühungen, europäische populistische Parteien und Denker unter das Dach einer Bewegung zu bringen, als ein bloßes Eitelkeitsprojekt behandelt. Aber er liegt mit seinen Instinkten wie in Amerika auf der Höhe der Zeit. (...) In so unterschiedlichen Ländern wie Frankreich, Polen, Ungarn, Österreich, Deutschland und Italien werden Anstrengungen unternommen, um eine kohärente Ideologie zu entwickeln, um Europäer in ihrer Wut über Einwanderung, Wirtschaftsabbau und soziale Liberalisierung zu bestärken und diese Ideologie dann zu nutzen, um zu regieren. Es ist Zeit, diesen Ideen einer neuen rechten Volksfront Aufmerksamkeit zu widmen."
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