9punkt - Die Debattenrundschau

Millionenfache Ichs

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
23.11.2018. Heute übergeben Bénédicte Savoy und Felwine Sarr ihren Bericht zur Restitution afrikanischer Kunst an Emmanuel Macron - sie fordern eine fast totale Rückgabe und stoßen damit bisher kaum auf kritische Reaktionen. Eine wirkliche Debatte ist zu dem Bericht aber noch nicht entbrannt: Die Welt drängt zunächst auf Entschlüsselung der Objektbiografien. Laut Tagesspiegel äußert sich Hermann Parzinger von der Stiftung Preußischer Kulturbesitz eher skeptisch. Außerdem: Wie geht's weiter mit der SPD? Was macht die AfD mit ihren Millionen? Und das Klima mit Gender?
Efeu - Die Kulturrundschau vom 23.11.2018 finden Sie hier

Kulturpolitik

Heute übergeben Bénédicte Savoy und Felwine Sarr ihren Bericht zur Restitution afrikanischer Kunst an Emmanuel Macron - sie fordern eine fast totale Rückgabe und stoßen damit in der Öffentlichkeit bisher kaum auf kritische Reaktionen. Eine wirkliche Debatte ist zu dem Bericht aber noch nicht entbrannt.

Le Monde äußert sich in einem Leitartikel vorsichtig kritisch zu dem Bericht von Savoy und Sarr, dem die Zeitung "Maximalismus" vorwirft: "Es besteht kein Zweifel daran, dass die Kolonialzeit ein Synonym für Unterdrückung und Ausbeutung war. Dass jedes einzelne Objekt automatisch als Produkt eines Raubs betrachtet wird, mag dennoch vereinfachend erscheinen, schon allein wegen der häufigen Aufträge, die afrikanische Künstler von europäischen Sammlern erhielten."

Die Restitution von Kolonialkunst ist überfällig, meint Marcus Woeller in der Welt - befürchtet aber die nächste ideologische Debatte: "Denn Reinwaschung von europäischer Schuld ist auch durch die so generös proklamierte Rückgabe nicht möglich. Unrecht ist geschehen, unabhängig davon, ob die Artefakte nun in Europa bleiben, ob sie an Museen in Afrika übergeben werden, ob sie wieder in rituelle Zusammenhänge rückgeführt werden können oder in den Kunsthandel gelangen, der von den Restitutionen zweifellos profitieren würde. Sinnvoll ist, was viele europäische Museen (wenn auch mit jahrzehntelanger Verspätung) betreiben und bestenfalls gemeinsam mit den Herkunftsländern vorantreiben müssen: die Entschlüsselung der Objektbiografien. Darin müssen ehemalige Kolonialisten wie Frankreich oder Deutschland investieren - als ethische Wiedergutmachung."

Im Tagesspiegel vermisste Nicola Kuhn am Donnerstagmorgen bei dem in Dahlem eröffneten Symposium zum Thema "Vertagtes Erbe? Vergangenheit und Gegenwart des Kolonialismus" klare Worte von Hermann Parzinger. Eher skeptisch äußerte er, "dass man 'die erzählerische Kraft der Objekte' miteinander teilen müsse. An welchem Ort dies zuallererst zu geschehen habe, daran lässt er jedoch keine Zweifel, erst die deutschen Museen, dann die afrikanischen Partner. Savoys und Sarrs 'Neue Ethik der Beziehungen', so der Untertitel ihres Berichts, stellt genau diese Hierarchie in Frage. Frankreich, die Grande Nation, kann hier echte Größe beweisen."

Paul Starzmann sammelt indes ebenfalls im Tagesspiegel Stimmen, die nun ein klares Signal aus Deutschland fordern. Aber: "Wie im Oktober aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine Grünen-Anfrage hervorging, hat die Bundesregierung nicht einmal einen Überblick, wie viel Raubkunst und Leichenteile aus früheren Kolonien die Deutschen bis heute in Museen und Privatsammlungen horten." In der FAZ kommentiert Jürg Altwegg das Ausmaß des Raubs und der Restitution. Es geht um nicht weniger als die Zukunft Afrikas und das Schicksal Europas, meint er.

Auch in Dänemark gibt es eine Restitutionsdebatte, berichten Anaïs Kien und Séverine Cassar im französischen Radiosender France Culture. Und die geht so: "Nach sieben Jahrhunderten Kolonisierung nutzte Island die Besetzung der Kolonialmacht Dänemark durch die Nazis und erklärte seine Unabhängigkeit. Da es kaum über Baudenkmäler verfügt, blieb Island nur ein einziger Schatz: die Sagas, jene Geschichten der skandinavischen und Wikingerwelt, die von anonymen isländischen Autoren zusammengetragen wurden und heute die Erforschung der germano-skandinavischen Vorstellungen und Lebensweisen im Mittelalter erlauben und bis heute die Fantasie anregen. Da dies natürliche nationale Schätze sind, wurden die Manuskripte sofort zum Gegenstand von Rückgabeforderungen, auf die die dänischen Behörden mit den aus dieser Art postkolonialem Konflikt bekannten Argumenten reagierten: Island habe nicht die Kompetenz zur Erhaltung und Präsentation der Dokumente, und dänisches Kulturgut sei nicht veräußerbar." Der einstündige Bericht gehört zu einer vierteiligen Serie von France Culture zum Thema Restitution - ach, würden deutsche Sender auch mal sowas machen!
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Internet

Richard Gingras, Chef von Google News zeigt im Gespräch mit Alexander Armbruster von den Wirtschaftsseiten der FAZ, wie diplomatisch man drohen kann. All jenen, die nach dem europäischen Leistungsschutzrecht aus irgendwelchen Gründen nicht bei Google gelistet sind oder sein wollen wollen, macht er folgende Rechnung auf: "Nach Einschätzung von Deloitte liegt der wirtschaftliche Wert eines Zugriffs zwischen 4 und 8 Eurocent. Da es also hier und heute um beträchtlichen Wert geht, möchten wir sicherstellen, dass jeder Publisher unabhängig von seiner Größe weiterhin die Möglichkeit hat, vom Traffic und der Auffindbarkeit zu profitieren, welche die Google-Suche und Google News bieten."
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Politik

Die SPD war nie "links", erklärt der Journalist und Autor Jost Kaiser, der auch Bücher über Helmut Schmidt verfasste, heutigen Sozialdemokraten in der Welt. Das Kerngebiet der SPD war immer der Arbeiter, ihr Problem der Opportunismus, meint er, etwa mit Blick auf die Flüchtlingsfrage: "Ein sozialdemokratischer Malocher hätte gesagt: Ja, ihr könnt kommen. Was Verfolgung ist, wissen wir. Aber benehmt euch bitte - und geht arbeiten. Statt sich so aufzustellen, hat die SPD den Fehler gemacht, Probleme mit Flüchtlingen (die ja erstaunlich gering sind) verschweigen zu wollen, bis Andrea Nahles sagte: 'Nicht alle können kommen.' Das warf nur eine Frage auf: War die SPD bis dahin anderer Meinung? Meinen die Sozialdemokraten also diese Vergangenheit, wenn sie 'wieder' linker werden wollen?"

Ähnlich argumentiert Welt-Redakteur Thomas Schmid in seinem Blog - auch wenn er statt von "Opportunismus" vom Wunsch der SPD, "reputierlich" zu sein, spricht. Den Verdienst der SPD, dem Arbeiter die Tür zum Fortschritt geöffnet zu haben, würdigt er ebenfalls, aber: "Diese kleinen Leute gibt es heute nicht mehr. Diejenigen, die einst kleine Leute waren, empfinden sich heute nicht mehr als solche, nicht mehr als Viele unter Vielen. Aus dem Wir sind millionenfache Ichs geworden. Und darauf werden sie nie wieder verzichten. Diese Ichs brauchen gewiss einen politischen Advokaten. Der darf aber - anders als die kaiserliche Sozialdemokratie - nicht mehr als Beschützer, als gütiger Vater auftreten. Er dürfte die gesellschaftliche Zersplitterung nicht beklagen, er müsste von ihr als einem Grundtatbestand ausgehen."
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Europa

Die illegalen Parteispenden an die AfD sind ein Skandal, aber ein kleiner, wenn man ihn mit den Abermillionen vergleicht, die die AfD vom Staat bekommt, weil sich schon die traditionellen Parteien hier prächtig ausstaffiert haben. Malene Gürgen, Christian Jakob und Sabine am Orde setzen in der taz ihre verdienstvolle Recherche zur Finanzierung der AfD und ihrer Bundestagsfraktion fort und zeigen, wie sich die AfD -  allein im Bundestag ! - eine riesige Infrastruktur zusammenbaut: "An die 200 Millionen Euro können die 92 Abgeordneten und die Fraktion der AfD im Laufe der Legislaturperiode vor allem für Personal ausgeben - ein riesiger rechter Stellenmarkt, finanziert mit Steuergeldern. Fast 500 MitarbeiterInnen hat die AfD seit ihrem Einzug in den Bundestag eingestellt, knapp 400 arbeiten derzeit für sie. Die Recherche zeigt: Nach wie vor haben etliche Abgeordnete kein Problem damit, Menschen mit einem extrem rechten Hintergrund zu beschäftigen. Im Oktober fanden sich in den Biografien von 58 MitarbeiterInnen und neun Abgeordneten der AfD insgesamt 125 Verbindungen zu Gruppen der extremen oder Neuen Rechten." Allerdings berichten die Autoren auch, dass sich die AfD selbst von einigen rechtsextremen Mitarbeitern getrennt hat, wohl aus Angst vor Überwachung durch den Verfassungsschutz.

Der türkische Kulturmäzen Osman Kavala sitzt seit einem Jahr ohne Anklage in Untersuchungshaft, erinnert im Tagesspiegel Susanne Güsten. Für sein Engagement, eine Erinnerungskultur zu schaffen, wird er von Erdogan als "Terroristenhelfer" beschimpft: "Das mag anderswo als lobenswert und unanstößig erscheinen, doch in der Türkei ist es politischer Sprengstoff, sagt die Bürgerrechtlerin Eren Keskin: 'Osman Kavala und seine Vereine bemühen sich um eine Aufarbeitung der Vergangenheit, und das macht dem Staat Angst', sagte Keskin unserer Zeitung in Istanbul. Pluralismus und kulturelle Vielfalt passten nicht zur nationalistischen Ideologie der Türkei. Keskin spricht von einer 'verlogenen Staatsideologie', die durch eine vorurteilsfreie Aufarbeitung der Geschichte in Frage gestellt würde."
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Gesellschaft

Auch die Klimapolitik muss komplett umgekrempelt werden und ohne dass Gender-Expertinnen wie sie mitbestimmen, soll gar nichts mehr gehen, fordert Linda Ederberg von "GenderCC - Women for Climate Justice " im Gespräch mit Patricia Hecht von der taz: "Alle Vertragsstaaten sollen Gender in die nationalen Pläne zur Umsetzung der Klimaziele integrieren, das muss also auch bundesweit passieren. Auch wenn es um nationale Gesetze geht, müssen Gender-ExpertInnen und Frauengruppen konsultiert werden, außerdem soll ein Bewusstsein für geschlechtsspezifische Diskriminierung geschaffen werden. Wir als GenderCC kämpfen dabei für einen transformativen Ansatz: Nicht nur soll Ungleichheit nicht verstärkt werden, sondern die Maßnahmen sollen bestehende Strukturen aufbrechen und Diskriminierung verringern - hin zu einer geschlechtergerechten Gesellschaft."

Frederik Schindler berichtet in der taz über eine den Antideutschen nahestende Gruppe namens "Ehrlos statt Wehrlos", die sich in Berlin-Neukölln gegen Verbrechen im  Namen der Ehre und frauen- und schwulenfeindliche Taten wenden will, die meist von jungen Männern mit muslimischen Hintergrund ausgingen: "Die Kritik von Ehrlos statt wehrlos richtet sich ..  hauptsächlich an Linke und Liberale. Hier herrsche bei der Beurteilung von Gewalt ein Doppelstandard... In Neukölln sei die Gewalt geprägt von männlichen Kleingruppen, die einem kollektivistisch und repressiv geprägten Ehrbegriff anhingen."

Weiteres: Edith Kresta interviewt ebenfalls für dien taz den Genetiker Mark Stoneking, der über den Unsinn der Ahnensuche per Gentest aufklärt. Und Gina Thomas zeichnet in der FAZ die erbitterten ideologischen Auseinandersetzungen zwischen Fleischessern und Veganern und Vegetarieren in Großbritannien nach.
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