9punkt - Die Debattenrundschau

Die kleinen Bestechungen

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
15.11.2018. Theresa Mays Brexit-Kompromiss mit der EU ist von ihrem Kabinett abgesegnet. Dem Guardian graut jetzt nur noch vor dem Parlament. In der NZZ prangert Steven Pinker linken Kulturpessimismus an.  Die New York Times bringt eine aufwändige Recherche über das unzureichende Krisenmanagement bei Facebook. Reuters erzählt, wie China sein System der Überwachung der Bürger per Personalausweis nach Venezuela exportiert. In der Welt wendet sich der Gymnasiallehrer Rainer Werner gegen das Kopftuch in Schulen. Aktualisiert: und außerdem die neue Tellkamp-Debatte.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 15.11.2018 finden Sie hier

Ideen

Aktualisiert: Aha, Uwe Tellkamp verortet sich also doch. Er publiziert seinen jüngsten offenen Brief zwar in der Zeitschrift Sezession des rechtsradikalen Intellektuellen Götz Kubitschek, möchte aber nicht in die "rechte Ecke" gestellt werden - die Debatte lappte gestern Nachmittag in die überregionalen Medien über. Martin Eimermacher berichtet bei Zeit online, Tim Niendorf schreibt im FAZ.Net. Tellkamp hat sich geäußert, nachdem die Dresdner Autoren Hans-Peter Lühr und Paul Kaiser die Buchhändlerin Susanne Dagen (Kulturhaus Loschwitz, deutscher Buchhandlungspreis 2016) in einem offenen Brief in dem Dresdner Blättchen Elbhang-Kurier für ihre Veranstaltungsreihe "Mit Rechten lesen" attackiert hatten. Der Brief ist in Kubitscheks Sezession online gestellt. Tellkamp antwortet ihnen unter dem selben Link: "Wer ist es, der keinen Widerspruch verträgt? Oft habe ich den Eindruck, die politisch sich links oder bei den Grünen verortenden Tonangeber in weiten Teilen unserer Medien und unserer Kulturbranche sind es, nicht die paar rechten oder als rechts verschrienen Einmannunternehmen, die auf kleinen Blogs oder in kleinen Zeitschriften gegen die Wucht des Common sense anschreiben, wie ihn bei Themen wie Migration, Klimawandel, Europa, Trump Spiegel, Spiegel online, Zeit, Zeit online, Süddeutsche, selbst Bild, vertreten, FAZ und Welt mindestens gespalten, Focus, taz, Tagesspiegel, Berliner Zeitung, Redaktionsnetzwerk Deutschland, das Regionalzeitungen wie HAZ, LVZ und DNN beliefert, Hamburger und Dresdner Morgenpost, Sächsische Zeitung usw., von Talkshows und überhaupt dem ÖRR zu schweigen."
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Religion

Der grüne Berliner Justizsenator Dirk Behrendt will das Neutralitätsgesetz mithilfe des Antidiskriminierungsgesetzes aufweichen. "Hochproblematisch" findet das der ehemalige Berliner Gymnasiallehrer Rainer Werner in der Welt, denn: "Das Neutralitätsgebot als Ausdruck unserer säkularen Staatsverfassung soll verhindern, dass die am Schulleben Beteiligten ihre persönliche Agenda in die Schule tragen und die Schüler in ihrem Sinne manipulieren. Mädchen sind im islamischen Kulturkreis noch nicht gleichberechtigt. Für sie ist deshalb Bildung die beste Möglichkeit, familiäre Diskriminierungen hinter sich zu lassen und ein Leben in freier Selbstbestimmung führen zu können. Eine Lehrerin mit Kopftuch sendet das problematische Signal, nicht Bildung, sondern religiöse Identität stehe für eine Frau an erster Stelle."

Eine österreichische Seminarleiterin, die den islamischen Propheten Mohammed als pädophil bezeichnete, wurde vom Gericht wegen Herabwürdigung religiöser Lehren mit einer Geldstrafe belegt, der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat das Urteil bestätigt -  islamische Organisationen begrüßen das Urteil, schreibt der marokkanische Schriftsteller Kacem El Ghazzali in der NZZ  und sieht die Meinungsfreiheit bedroht. Ein Blasphemie-Artikel gehört nicht ins Strafgesetzbuch, meint er: "Irritierend ist, dass sich das Urteil des EGMR und die drakonischen Urteile gegen Schriftsteller, Aktivisten und religiöse Minderheiten in der islamischen Welt hinsichtlich der Argumentation kaum unterscheiden. Selbstredend hat das Gericht in Straßburg niemanden wegen Blasphemie zum Tode verurteilt, aber indirekt konzediert es, dass die sogenannte Beleidigung des Propheten bestraft werden solle. Wenn nun europäische Länder im Interesse des Respekts vor religiösen Gefühlen Urteile gegen die Meinungsfreiheit erlassen, wird das nicht nur das Leben von Freidenkern und religiösen Minderheiten in der islamischen Welt erschweren, sondern auch ihre Verfolgung legitimieren."

Weitere Artikel: Auch die evangelische Kirche muss sich dem Thema Missbrauch stellen, fordert Stephan-Andreas Casdorff im Tagesspiegel: "Bisher ist die Rede von rund 480 Fälle seit 1950. Experten dringen vor dem Hintergrund, dass diese Zahl für unglaubwürdig gehalten wird, auf eine zentrale Anlaufstelle, an die sich alle Betroffenen wenden können. Auch weil es, anders als bei der katholischen Kirche, bis dato noch keinen Versuch gab, sämtliche Taten zu erfassen und aufzuarbeiten."
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Europa

Nach fünf Stunden hatte die sturmumtoste Theresa May ihr Kabinett dazu gebracht, ihrem in Details noch nicht bekannten Brexit-Kompromiss mit der EU zuzustimmen (hier der Live-Ticker des Guardian). Dann musste sie allein vor die Mikrophone der Presse treten. Aber das große Tohuwabaho kommt erst noch und wird im Parlament stattfinden, schreibt Polly Toynbee im Guardian: "Nun beginnen das Zupfen an Rockärmeln, das Umschmeicheln noch des letzten Abgeordneten, weil es so gut für das Land ist, die kleinen Bestechungen. In die Enge gedrängt muss jeder einzelne sich nun zu seinen wahren Meinungen bekennen. Einige werden Prinzipien zeigen, andere nicht: Tories müssen sich ausrechnen, was besser ist, eine Zukunft mit Theresa May und ihrem Deal oder mit den Brextremisten in ihren Wahlkreisen. Und jeder Labour-Abtrünnige muss sich klar werden, ob die Partei vor Ort ihm vergibt, wenn er für die amtierende Regierung stimmt."

In er Türkei wird die Krise langsam auch im Stadtbild sichtbar, schreibt Bülent Mumay in seiner FAZ-Kolumne: "Die Einkaufszentren sind leer, die Schlangen vor den Supermarktkassen sind geschrumpft, selbst der Verkehr lichtet sich, weil Benzin so teuer geworden ist, alles deutliche Anzeichen der Krise. In den vom Palast kontrollierten türkischen Medien steht dazu freilich nichts."
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Gesellschaft

Die Medien stellen den Zustand der Welt schlechter dar als er ist, sagt der Psychologe Steven Pinker im großen NZZ-Interview mit Rene Scheu. Intellektuellen und Journalisten wirft er "Gleichheits-Obsession", Selbstüberschätzung und Mainstream vor: "In diesem Mainstream finden sich Elemente radikal linker Ideen, also ein grundsätzlicher Widerstand gegen alles Westliche, zusammen mit einem Kulturpessimismus, der sich bis zur Romantik zurückverfolgen lässt. Die Romantik war eine Reaktion auf Aufklärung und Fortschritt, sie betonte das Gleichgewicht statt die Dynamik, das Kollektiv statt das Individuum, den Nationalgeist statt die universale Vernunft, das angeblich einfache glückliche Leben statt den Wohlstand. Schopenhauer, Nietzsche, Spengler, Toynbee, Sartre, Adorno, Heidegger und all die Poststrukturalisten, die später kamen und sich auf diese Denker beriefen, waren auf ihre Weise echte Romantiker. Ihre Werke werden an den geisteswissenschaftlichen Fakultäten auch heute noch verschlungen. Kulturpessimismus ist in den Humanities sozusagen Programm."

Auch um die Integration scheint es nicht so schlecht zu stehen wie gemeinhin angenommen, meint zumindest Frank Kalter, Soziologe und Co-Direktor des Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM) in der FR. Jugendliche einer Alterskohorte unterscheiden sich vielmehr im Bezug auf soziale Ungleichheit, erklärt er. Dennoch gäbe es "Aspekte, in denen die Angleichung über die Generationen deutlich langsamer erfolgt. Hierzu zählen etwa Religiosität und bestimmte Wertvorstellungen. Auch bei der Freundschafts- und Partnerschaftswahl brechen die Barrieren zwischen Mehrheitsgesellschaft und einzelnen Gruppen nur allmählich auf."
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Internet

Die New York Times bringt eine aufwändige Recherche über das unzureichende Krisenmanagment bei Facebook, seit in vielen Ländern Vorwürfe von Manipulationen bekannt wurde - und die recherchierenden Journalisten machen von vornherein klar, dass der Fisch vom Kopf her stinkt: "Als sich herausstellte, dass die Macht von Facebook auch ausgenutzt werden konnte, um Wahlen zu beeinflussen und weltweit virale Propaganda und tödliche Hasskampagnen zu verbreiten, gerieten Zuckerberg und Sandberg ins Straucheln. Die beiden auf Wachstum zentrierten Chefs ignorierten Warnsignale und versuchten dann, sie vor der Öffentlichkeit zu verbergen. In kritischen Momenten der letzten drei Jahre wurden sie durch persönliche Projekte abgelenkt und gaben Sicherheits- und Richtlinienentscheidungen an Untergebene weiter, so aktuelle und ehemalige Führungskräfte."

Nicht nur der Perlentaucher (hier) auch Netzpolitik bittet seine Leser um Unterstützung. Anders als der Perlentaucher ist Netzpolitik gemeinnützig und verzichtet völlig auf Werbung. Im Brief an die Leser informiert das Magazin: "netzpolitik.org ist eine der wenigen Websites, auf denen man nicht merkt, ob der Adblocker aktiviert ist oder nicht. Denn es gibt keinen Unterschied. Dass wir auf Werbung verzichten, heißt auch: netzpolitik.org ist eine der wenigen Nachrichtenseiten ohne Tracking. Zwischen 80 und 300 Targeting-Cookies zählt Cookiepedia momentan auf den marktführenden journalistischen Websites. Hinter digitalen Werbeanzeigen steht heute ein komplexes Geflecht aus tausenden Firmen und automatisierter Datenverwertung. Selbst wenn sie es wollten - die Datenflüsse zwischen diesen Plattformen können die Verlage gar nicht kontrollieren."
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Medien

Hilja Müller porträtiert für die taz die philippinische Journalistin Maria Ressa, die für ihre Berichterstattung über den Drogenkrieg von Präsident Rodrigo Duterte den Knight International Journalism Award erhalten hat und daraufhin prompt mit Steuernachforderungen für ihr Magazin Rappler konfrontiert wurde. Die Philippinen, so Müller, sind für Journalisten eines der gefährlichsten Länder der Welt: "Dutzende Reporter sind in den vergangenen Jahren ermordet worden, weil sie dunkle Machenschaften oder politische Kungeleien der Reichen und Mächtigen aufzudecken versuchten. Die Anschläge verlaufen immer nach dem gleichen Muster: Unbekannte Vermummte geben von Motorrädern aus Schüsse ab und verschwinden ebenso schnell, wie sie aufgetaucht sind. Die Aufklärungsrate dieser Auftragsmorde ist beschämend gering."
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Politik

Im Interview mit der Zeit verteidigt Patrick Gaspard die von ihm geleiteten Soros-Stiftung gegen Kritik aus Ungarn und Amerika, sie mische sich mit ihrer Förderung einer offenen Gesellschaft in die inneren Angelegenheiten der Staaten ein: So redeten korrupte, erfolg- und perspektivlose Politiker, die einen Sündenbock suchten: "Ich glaube, dass sich die Angriffe sogar noch einmal verschärfen werden. Sie haben oft auch eine antisemitische Komponente. ... Da wird ein diskreditiertes und, wie ich eigentlich gehofft hatte, auch überholtes Stereotyp wiederbelebt. Es gab im amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf einen Wahlwerbespot, der George Soros, Lloyd Blankfein, den damaligen Chef der Investmentbank Goldman Sachs, und Janet Yellen, die damalige Präsidentin der Notenbank Federal Reserve, zeigte. Das Einzige, was die drei gemeinsam haben, ist ihre jüdische Herkunft."
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Überwachung

China exportiert sein Personalausweis-System, das durch Verknüpfungen mit Gesundheitswesen und Finanzen eine Menge Daten zur Überwachung der Bürger bereitstellt, nach Venezuela, berichtet Angus Berwick in einem viel retweeteten Reuters-Artikel. Der chinesische Telekom-Gigant ZTE implementiert das System : "Als Teil eines 70-Millionen-Dollar-Programms, das die 'nationale Sicherheit' erhöhen soll, hat Venezuela letztes Jahr ZTE engagiert um eine 'Vaterlandsdatenbank' zu erstellen und ein mobiles Bezahlsystem zu schaffen, für das die Karte benutzt werden kann... Die Vaterlandskarte bereitet Bürgern und Bürgerrechtsgruppen Sorgen, denn sie glauben, dass Präsident  Nicolás Maduro sie nutzen wird, um die Bevölkerung zu überwachen und die knappen Ressourcen für die treuen Anhänger zu reservieren."
Archiv: Überwachung
Stichwörter: China, Venezuela, Maduro, Nicolas