9punkt - Die Debattenrundschau

Eine bestimmte Perspektive auf Zugehörigkeit

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
04.09.2018. Selbst gutwillige Deutsche kapieren nicht, dass Rechtsextremisten nicht "Ausländer" angreifen, und offenbaren damit den strukturellen Rassismus im Land, schreibt Max Czollek bei Zeit online. In der SZ fühlt sich der Autor Klemens Renoldner an die Dreißiger erinnert. Reuters stellt noch einmal die große Reportage der beiden Journalisten aus Myanmar online, die sie für sieben Jahre ins Gefängnis brachte. Es gibt zwei Eliten in den westlichen Ländern, eine links, eine rechts, beobachtet die Financial Times.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 04.09.2018 finden Sie hier

Europa

Auf Zeit online wundern den Lyriker Max Czollek die Ausschreitungen in Chemnitz überhaupt nicht. Dass die Deutschen immer noch ein Volk von Rassisten und Faschisten sind, weil sie den Nationalsozialismus nicht aufgearbeitet hätten, war ihm offenbar auch vorher klar: "Bis in die größten Medien hinein werden die Angriffe von Chemnitz als Attacken 'gegen Ausländer' bezeichnet, so als wäre Staatsbürgerschaft plötzlich wieder etwas, über das in Deutschland die äußersten Rechten entscheiden. Ich würde dagegen sagen, der rechte Mob attackiert ein Viertel der deutschen Bevölkerung. So viele haben nämlich das, was im Beamtendeutsch des Statistischen Bundesamtes als Migrationshintergrund bezeichnet wird. Sind das etwa keine Deutschen? Die Rede von den angegriffenen 'Ausländern' ist ein Indiz dafür, dass eine bestimmte Perspektive auf Zugehörigkeit nicht irgendwo an den rechten Rändern verortet werden kann, sondern tief in der öffentlichen Wahrnehmung verankert ist. So konnte sich Horst Seehofer, immerhin Innenminister dieser Bundesregierung, nur nach Zögern eine halbherzige Verurteilung der Übergriffe in Chemnitz abringen."

Der österreichische Schriftsteller und Direktor des Stefan-Zweig-Centres in Salzburg, Klemens Renoldner, fühlt sich derzeit stark an die dreißiger Jahre erinnert, bekennt er im Gespräch mit der SZ: "Zweig beschreibt, dass die Feinde der Demokratie mit Lügen und Angst operieren, mit Gegnerschaft, Feindbildern, um Wahlen zu gewinnen. Lügen und Angst - das sind die beiden Pole, mit denen auch heute operiert wird. Zurzeit wird eine Lügengeschichte inszeniert: dass Europa von einer gesteuerten Masseneinwanderung und von einem terroristischen Islam bedroht ist, der unsere Lebensform und Kultur auslöschen will. Das ist die große Propagandalüge: Alle Länder schließen ständig irgendwelche Grenzen, lassen Leute im Meer ertrinken, und die Zahlen zeigen, dass von Masseneinwanderung und einer Bedrohung Europas durch Flüchtlinge keine Rede sein kann. Europa wird vielmehr bedroht von rabiaten autoritären Politikern."

Weitere Artikel: Auf suedeutsche.de stellen Verena Mayer und Jens Schneider den Berliner Dramaturgen Bernd Stegemann vor, der Sahra Wagenknechts Sammlungsbewegung #Aufstehen maßgeblich mit unterstützt. Ziemlich verrückt, aber dennoch lesenswert findet in der NZZ Rene Scheu das "Terrestrische Manifest" des französischen Soziologen Bruno Latour, der eine Art "Ökosozialismus für das 21. Jahrhundert" predigt: "Abermillionen von Erd-Akteuren, vom Baum bis zum Bazillus, sollen eine politische Stimme erhalten und sich in einem Parlament der Dinge versammeln." Und Dunja Ramadan bespricht auf sueddeutsche.de Aladin El-Mafaalanis Buch "Das Integrationsparadox".
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Gesellschaft

Frankreich liebt seine Debatten über die Orthografie fast noch mehr als Deutschland - völlig zurecht, denn die französische Rechtschreibung ist wegen der vielen Homophone (Wörter, die gleich gesprochen aber unterschiedlich geschrieben werden) und komplizierter Regeln der Horror sämtlicher Schüler, die sehr viel mehr Zeit mit solchen Fragen verbringen als in anderen Sprachen. Nun will Belgien die unverständlichen Regeln zur Anpassung des Passé composé beim Hilfsverb Haben ändern - und Libération antwortet mit einem genialen Titel.

Es gibt in den westlichen Ländern zwei Eliten, schreibt Simon Kuper in der Financial Times, der sich auf Untersuchungen Thomas Pikettys bezieht. Beide wachsen. Die eine ist die kulturelle Elite, die durchaus auch bessere Einkommen vorzuweisen hat und heutzutage eher links wählt, die andere die Wohlstandselite, die rechts wählt: "Leute mit Reichtum (einige von ihnen besitzen einfach ihr eigenes Haus) sind viel vorhersehbarer rechts. 'Reichtum ist eine stärkere Determinante für das Wahlverhalten als Einkommen", schreibt Piketty... Wie die gebildete Elite ist auch die wohlhabende Elite weiter gewachsen. Die Einkommen mögen stagniert haben, aber Erben sind so zahlreich wie nie zuvor. Familien haben über 73 Jahre lang Vermögen gehortet. Immer mehr Menschen erben Häuser. Sowohl die britischen als auch die amerikanischen Aktienmärkte verzeichnen seit Mai Rekordstände." Hier der Link zur Piketty-Studie als pdf-Dokument.

Nicht nur in Bangladesch, auch am oberen Ende der Modeindustrie wird nach Strich und Faden ausgebeutet, schreibt Stefanie Marsh im Guardian nach der Lektüre eines Buchs der Soziologin Giulia Mensitieri, die die Arbeitsbedingungen  in den teuren Pariser Modehäusern untersucht hat. Ergebnis: Freie Nachwuchsdesignerinnen werden sehr oft nicht in Geld bezahlt, sondern in "Vouchers", die dazu führen, dass sie mit Prada-Täschchen rumlaufen und Fast Food essen müssen: "Mia konnte es sich nicht leisten, ein Zimmer zu mieten, also wohnte sie bei einem Freund hinter einem Paravent in der Küche. 'Manchmal hatte sie kein Geld für ihre Telefonrechnung. Sie hat jeden Tag McDonald's gegessen. Sie wusste nie, wann sie für einen Job bezahlt würde und wie viel sie bekommen würde. Zum Beispiel gab ihr eine sehr große Luxusmarke für eine Woche einen Gutschein über 5.000 Euro, den sie in ihrer Boutique ausgeben konnte.' Ja, Mia hätte die Sachen verkaufen können (und unter den Modeschaffenden gibt es einen vitalen Markt für den Wiederverkauf von Luxusgütern). Aber Mensitieri weist darauf hin, dass Arbeiten in der Mode bedeutet, in einer ständig aktualisierten Uniform mit schönen, teuren Kleidern und Accessoires gesehen zu werden - bezahlt durch Gutscheine wie den, den Mia statt eines Gehalts erhalten hat."
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Politik

In Myanmar sind zwei Journalisten wegen ihrer Recherchen zu Regierungsmassakern an Rohingya zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt worden. Die engen Grenzen der Demokratisierung des Landes sind damit deutlich geworden, schreibt Sven Hansen in der taz: "Myanmars Generäle haben das einst hohe Ansehen der Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi erfolgreich für sich nutzen können, um die westliche Sanktionspolitik zu beenden. Die Demokratie-Ikone hat sich seitdem mit einer Machtbeteiligung begnügt, bei der sie vor allem erfolgreich eingebunden ist. Denn seit sie die De-facto-Regierungschefin ist, hat sie noch nie direkt die Militärs kritisiert, geschweige denn versucht, deren Macht zu brechen." Über die Journalisten Wa Lone und Kyaw Soe Oo und den Prozess gegen sie berichtet aus Yangon Verena Hölzl.

Bei Reuters findet sich die zuerst im Februar publizierte große Reportage, an der Wa Lone und Kyaw Soe Oo mitarbeiteten, über das Massaker an zehn Rohingya-Männern vor genau einem Jahr: "Aneinander gefesselt beobachteten die zehn muslimischen Gefangenen der Rohingya, wie ihre buddhistischen Nachbarn ein flaches Grab aushoben. Bald danach, am Morgen des 2. September, waren alle zehn tot. Mindestens zwei von ihnen waren von buddhistischen Dorfbewohnen mit Hacken ermordet worden. Der Rest wurde von Soldaten erschossen, sagen die Dorfbewohner, die das Grab ausgehoben hatten." Diese Reportage, so Reuters, war die erste, in der buddhistische Bürger und Soldaten im Gespräch die Morde bestätigten. Mit Fotos wurden die zehn Ermordeten von ihren Verwandten in Flüchtlingscamps von Bangladesch identifiziert.
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