9punkt - Die Debattenrundschau

Dramatisch ausgedünnt

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
28.08.2018. Nach den Ausschreitungen in Chemnitz erkennt der Historiker Volker Weiß bei Zeit online ein besonderes Problem im "illiberalen Freistaat" Sachsen. Angela Merkel sollte nach Chemnitz fahren und sich ein Bild machen, meint die taz. In der New York Times staunt Josh Glancy, dass Jeremy Corbyns antisemitische Äußerungen eher nach Virginia Woolf als nach antikapitalistischen Widerstandsbewegungen klingen. Und kann der Papst den Verdacht, dass er Homosexualität für eine Sache der Psychiatrie hält, tatsächlich dementieren?
Efeu - Die Kulturrundschau vom 28.08.2018 finden Sie hier

Europa

Kaum wurden in Chemnitz ein Syrer und ein Iraker unter dem dringenden Verdacht verhaftet, bei einer Auseinandersetzung einen Menschen getötet zu haben, veranstalteten Rechtsextreme mobartige Ausschreitungen. Auf den Historiker Volker Weiß, der letztes Jahr das Buch "Die autoritäre Revolte" vorlegte, wirken die Vorfälle in Zeit online "wie ein Déjà-vu von Rostock-Lichtenhagen". Ein besonderes Problem erkennt er im "illiberalen Freistaat" Sachsen, dessen CDU-Führung das Problem des Rechtsextremismus kleinredet: "All das zeigt einmal mehr, wie wenig die Behauptung von der Realität gedeckt ist, die CDU hätte sich zu sehr liberalisiert und damit der AfD die Bahn geebnet. Die sächsische CDU war zu keinem Zeitpunkt liberal. Das strukturelle Problem, das der Konflikt zwischen Pegida und Polizei einerseits und Journalisten andererseits offenbart, wurde bereits in der Ära Biedenkopf geschaffen, als jede Entwicklung einer extremen Rechten im Land systematisch geleugnet wurde."

Was soll nun passieren? Anja Maier kommentiert in der taz: "Außer der Aufklärung und Ahndung begangener Straftaten wäre eine weitere Antwort auf diese Frage, dass Angela Merkel nach Chemnitz fährt. Dass ihr Innenminister nach Chemnitz reist. Ihr Justizminister. Dass sie sich vor Ort ein Bild machen, um daraus Schlüsse für ihr politisches Handeln zu ziehen. Und zwar selbst auf die Gefahr hin, sich im Schatten des Karl-Marx-Monuments in der Chemnitzer Innenstadt von hasserfüllten Sachsen anschreien lassen zu müssen."

Die Kehrseiten eines kommenden Einwanderungsgesetzes sind jetzt schon in den Ländern des Westbalkan zu sehen, schreibt Erich Rathfelder in der taz - in Form eines Braindrains gut ausgebildeter junger Menschen, die in Deutschland in medizinische und Pflegeberufe drängen. Für die Zurückgebliebenen ist das nicht so schön: "Wenn .. das Personal der einheimischen Krankenhäuser in Bosnien und Herzegowina und Serbien dramatisch ausgedünnt wird, wenn das ohnehin durch Finanzmangel gebeutelte staatliche Gesundheitssystem deshalb zusammenbricht, dann wird der Braindrain zu einem echten Problem für die zurückgelassene Gesellschaft. Die Jungen gehen, die Alten bleiben, die betreffenden Länder fallen weiter zurück."

Die Enthüllung der Rede, in der Jeremy Corbyn britische Zionisten beschuldigte, keinen Sinn für "englische Ironie" entwickelt zu haben, obwohl sie schon so lange in diesem Land lebten, ist für den Labour-Anhänger Josh Glancy, der in der New York Times schreibt, der Tropfen, der das Fass zum überlaufen bringt. Erstaunt ist er dabei, dass nicht die üblichen linken Klischees über Juden kamen: "Dies war der Antisemitismus von Virginia Woolf und Agatha Christie, T.S. Eliots 'glanzloser' Bleistein, der an seiner Zigarre zieht, Roald Dahl, der insistiert, 'dass es einen Zug im jüdischen Charakter gibt, der Feindseligkeit provoziert'. Diese Kommentare kamen eher aus dem hübschen Shropshire Manor House, in dem Corbyn aufwuchs, als aus den antikapitalistischen Widerstandsbewegungen, in denen er seinen Ruhm erwarb."
Archiv: Europa

Religion

Hier und dort wird in der deutschen Presse gemeldet, dass Papst Franziskus eine Äußerung zu Homosexualität zurückzieht. Die Äußerung selbst ist aber selten zitiert. Wer sie sich mit AFP (hier bei huffpo.fr) durchliest, fragt sich allerdings, was genau der Papst da zurückziehen will - allzu eindeutig liegt zutage, dass der Papst Homosexualität als "heilbar" ansieht: "'Es ist notwendig, das Alter der Menschen zu berücksichtigen', erklärte der Papst auf die Frage, was er zu den Eltern sagen würde, die die homosexuellen Orientierungen ihres Kindes bemerkten. 'Wenn es sich von Kindheit an zeigt, kann man noch viel tun, durch Psychiatrie, um zu sehen, wie die Dinge sind. Etwas anderes ist es, wenn es sich nach zwanzig Jahren manifestiert', sagte Jorge Bergoglio."

Papst Franziskus hatte sich zu dem Thema im Flugzeug auf der Rückkehr von seinem Irland-Besuch geäußert, der für die Kirche laut Hela Camargo y Martin von hpd.de eher enttäuschend ausfiel: "Knapp vierzig Jahre lang hatte kein Papst Irland besucht. Als Johannes Paul II. 1979 auf die Insel kam, konnte er beim Massengebet noch über eine Million Gläubige um sich scharen. Beim Besuch von Franziskus am vergangenen Wochenende waren es etwa 130.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Der Vatikan rundete großzügig auf 300.000 Gläubige auf. Von 500.000 interessierten Gläubigen war nach der Bestellung der Tickets im Juli dieses Jahres ursprünglich ausgegangen worden."
Archiv: Religion

Gesellschaft

Es stehen wieder Prozesse gegen Ärztinnen an, die Schwangerschaftsabbrüche durchführen und darüber auf ihren Websites informieren, berichtet Dinah Riese in der taz. Auch die Gießener Ärztin Kristina Hänel, die letztes Jahr aus diesem Grund zu einer Geldstrafe verurteilt wurde, hat einen Termin für ein Berufungsverfahren: "Hänel fühlt sich im Recht, aber anders als noch im November will sie keinen Freispruch mehr. 'Mit dem aktuellen Wortlaut des Paragrafen 219 a ist ein Freispruch eigentlich gar nicht möglich', sagt Hänel. 'Deswegen will ich zum Bundesverfassungsgericht.'" Bei der Bundesregierung, so Riese, scheint das Thema auf Eis zu liegen - zumindest bis die Bayern-Wahl gelaufen ist.

Guardian-Kolumnistin Polly Toynbee ist es unbegreiflich, dass Religion heute immer noch - und sogar steigend - so viel Respekt genießt. Missbrauchsskandale wurden inzwischen in praktisch allen religiösen Gemeinschaften bekannt. Entschuldigungen, wie sie der Papst jetzt in Irland abgegeben hat, reichen da einfach nicht mehr aus. Religiöse Gruppen müssen viel weniger respektiert und viel mehr kontrolliert werden, fordert sie. Und wozu brauchen wir eigentlich konfessionelle Schulen? "Bekennende Religion wächst auf der ganzen Welt - mit 84 Prozent - durch Demografie, nicht durch Konversion. Aber sie ist in Nordamerika und Westeuropa auf dem Rückzug, so Harriet Sherwoods Guardian-Umfrage unter jungen Erwachsenen. ... Obwohl weniger als 2 Prozent der Briten Gottesdienste besuchen und 70 Prozent der Jugendlichen des Landes keinen Glauben haben, hat unsere Staatskirche weit über ihre schwindende Größe hinaus Macht. Sie widersetzt sich jeder fortschrittlichen Veränderung wie der der gleichgeschlechtlichen Ehe und blockiert erfolgreich die Sterbehilfe, obwohl 80 Prozent der Bevölkerung sie seit Jahrzehnten unterstützt. Und keine Partei wagt es, konfessionelle Schulen abzuschaffen."
Archiv: Gesellschaft

Politik

Ein UN-Report ist erschienen, der die ethnischen Säuberungen in Burma zum Thema hat, wo Hundertausende von Rohingya Muslimen gefoltert, vertrieben und getötet wurden. Der Bericht macht erstmals sechs Hauptverantwortliche namhaft, berichtet die New York Times, darunter der oberste Militär des Landes und de-facto-Herrscher Min Aung Hlaing und sein Stellvertreter. Die UN kann wenig tun, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen, so die Times, "aber es gibt noch andere Mittel: Sanktionen, Reiseverbote, ein Einfrieren des Vermögens der genannten Personen. Die Europäische Union hat für diese Woche ein Treffen mit dem Team der Vereinten Nationen anberaumt; Anfang dieses Monats verhängten die Vereinigten Staaten Sanktionen gegen mehrere Sicherheitsbeamte und zwei Militäreinheiten in Myanmar".
Archiv: Politik

Internet

Gerade hat der "Project Debater", ein Roboter von IBM, einen Debattierwettbewerb gegen Menschen beim Publikum gewonnen. Und schon heißt es, der Computer könne auch das besser als der Mensch. Aber stimmt das wirklich? Oder haben wir unsere Ansprüche gesenkt, fragt sich Adrian Lobe in der NZZ. Mit Suchmaschinen oder "Sprachassistenten wie Alexa oder Siri muss man in Imperativen reden, sonst versteht das algorithmische System den Nutzer nicht. Das Denken wird dadurch formatiert und strukturiert. Man reflektiert nicht, wie man einen Gedanken entwickelt, sondern, wie man einen Themenkomplex auf ein paar Suchbegriffe oder Sprachkommandos herunterbricht, dass die Suche zu einem sinnhaften Ergebnis gelangt. ... Wenn man zu dem Schluss gelangt, dass die KI so gut argumentieren kann wie der Mensch, sagt das viel über unsere Debattenkultur aus - zum Beispiel, dass sie auf einem Niveau angekommen ist, auf dem die mathematische Formelhaftigkeit fast schon pathologisch ist."
Archiv: Internet