9punkt - Die Debattenrundschau

Aufgedrängte Bereicherung

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
02.08.2018. The Intercept berichtet, dass der Suchmaschinenkonzern Google, der einst fürs offene Internet eintrat, seinen Markteintritt in China plant und dafür bereit ist, sämtliche Informationen, die nicht genehm sind, zu zensieren. The Daily Beast porträtiert den homosexuellen Aktivisten Hans How, der über die Schikanierung Schwuler in Malaysia spricht. Nicht nur Deutsche hindern Türken an der Integration, schreibt die Schauspielerin Sibel Kekilli in der Zeit. Die taz würdigt den ehemaligen Merkur-Herausgeber Kurt Scheel, der im Alter von siebzig Jahren gestorben ist.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 02.08.2018 finden Sie hier

Internet

(via turi2) Google plant in einem radikalen Bruch mit seiner bisherigen Politik eine Such-App in China, die die vom Regime gewünschte politische Zensur einhalten wird, schreibt Ryan Gallagher vom Online-Magazin The Intercept, dem geheime Google-Papiere vorliegen. "Von The Intercept eingesehene Dokumente mit dem Vermerk  'Google confidential' besagen, dass die Such-App von Google Websites die von der 'großen Internetmauer' gesperrt sind, automatisch filtern und blockieren wird. Wenn jemand sucht, werden verbotene Websites von der ersten Suchseite entfernt, statt dessen wird mitgeteilt, dass 'einige Ergebnisse aufgrund gesetzlicher Vorgaben entfernt wurden." Zu den gesperrten Seiten gehören etwa die BBC und die Wikipedia.
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Politik

Schwerpunkt Kulturelle Vielfalt

Tim Teeman porträtiert für The Daily Beast den malayischen homosexuellen Aktivisten Hans How, der heute im kalifornischen Exil lebt - sein Engagement in Malyasia wurde zu gefährlich: "Laut Human Rights Watch 'verbieten zahlreiche auf der Scharia basierende Gesetze und Verordnungen einem Mann, sich als Frau auszugeben', sexuelle Beziehungen zwischen Frauen und und zwischen Männern werden kriminalisiert. Auf 'Sodomie' stehen laut Paragraf 377A des Strafgesetzbuches Strafen bis zu 20 Jahre Gefängnis und Auspeitschen. Die meisten LGBT-Leute in Malaysia versuchen so 'unsichtbar wie möglich' zu bleiben, um nicht von der Polizei aufgespürt zu werden. 'Sie bleiben im Versteck. Es ist nicht sicher, rauszukommen.'"

Mit zahlreichen Beispielen erzählt Volker Seitz, ehemals deutscher Botschafter in Kamerun und Autor, in achgut.de vom Hexenglauben in Afrika, dem alle Außenseiter in den Gesellschaften und besonders natürlich Frauen zum Opfer fallen können: "Oft sind es erfolgreiche Frauen, die von Verwandten oder Geschäftskonkurrenten denunziert werden. Andere werden als Hexen gebrandmarkt, damit Verwandte an ihr Erbe kommen. Diese Frauen haben keine andere Wahl, als ihre Kinder und ihren Besitz zurückzulassen und zu fliehen. Manchmal müssen die Frauen sogar in abgelegene Hexendörfer ziehen, die es zum Beispiel in Ghana und Sambia gibt. In Ghana schneidet ein Fetisch-Priester einem Huhn den Hals an. Dann wirft er es im hohen Bogen von sich. Verendet das Tier auf dem Bauch, ist dies das endgültige Schuldurteil. Landet das Tier auf dem Rücken, ist die Frau unschuldig."

In der taz unterhält sich Maike Brülls mit Gizem Adiyaman und Lucia Luciano, die in Berlin Partys nur "für Frauen* und nicht-binäre Persons of Color" veranstalten und damit Erfolg haben. "Die Idee ist, einen Raum innerhalb von Hip-Hop zu schaffen, der sich Frauen* und genderqueeren Personen of Color widmet", sagt Adiyaman "Natürlich in allen Intersektionen dieser Identitäten. Wir buchen also keine cis-männlichen DJs, wir buchen nur unsere eigene Community. Muss ich als Frau das Sternchen vorzeigen?
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Europa

Im Feuilleton-Aufmacher der Zeit erzählt die Schauspielerin Sibel Kekilli von ihren Erfahrungen mit Rassismus im Alltag und in der Film- und Medienbranche. Zugleich sagt sie: "Auch von türkischer Seite wird es einem nicht leicht gemacht. Integriere ich mich zu stark, beschimpft man mich als die Ungläubige. Ich werde angegriffen, weil ich mich nicht bewusst auf die türkische Seite stelle und gegen die deutsche Seite schieße. 'Wenn du nicht für uns bist, bist du gegen uns.' So einfach ist das. Ich bin für die Türken zu deutsch, für die Deutschen nicht deutsch genug."

Frankreich
tut sich nach wie vor sehr schwer damit, Minderheiten anzuerkennen, sagt im SZ-Interview mit Nadia Pantel die französische Journalistin Rokhaya Diallo, die sich selbst als "féministe intersectionnelle et décoloniale" bezeichnet und im letzten Jahr eine Kontroverse auslöste, weil sie ein Sommercamp nur füt "Nicht-Weiße" organisierte: "Ich habe den Eindruck, dass die Toleranzschwelle sehr niedrig ist, wenn es darum geht, sich anzuhören, dass es im Land Rassismus gibt. Von Minderheiten erwartet man in Frankreich zunächst einmal Dankbarkeit und Zurückhaltung. Mir wird oft vorgeworfen, dass ich Frankreich immer kritisieren würde. Dabei ist es doch ein Zeichen dafür, dass man sich mit seinem Land identifiziert, wenn man es kritisiert."
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Gesellschaft

Im Zentrum der Overton-Theorie steht die Idee, dass es zu jedem gesellschaftspolitisch relevanten Thema eine gewisse Menge von Ansichten gibt, die die breite Mitte der Gesellschaft als akzeptabel ansieht - mit denen also Politik gemacht werden kann, erklärt Jens-Christian Rabe in der SZ. Durch Fakten und Logik, moralische Appelle, emotionale Ansprache und Fehler oder Desinformation lässt sich das Overton-Fenster allerdings verschieben, so Rabe weiter: "In Fragen der Einwanderung oder dem Umgang mit dem Islam hat sich bis tief in die bürgerliche Mittelschicht hinein schon manches verändert. Die Tatsache etwa, dass die Wochenzeitung Die Zeit jüngst unter der Überschrift 'Oder soll man es lassen?' eine halbe Seite ihres Politikteils einem Artikel widmete, der gegen die Rettung von Flüchtlingen in Seenot argumentierte, ist nur das jüngste Beispiel. Was für ein Triumph für die AfD und ihre Freunde. Nicht nur die 'Grenzen des Sagbaren', auch die Fenster des für die gesellschaftliche Mitte Akzeptablen sind heftig in Bewegung. Und zwar zügig Richtung rechts." Zuerst hatte Thomas Knüwer den Begriff in die Debatte um das Zeit-"Pro und Contra" eingebracht, unser Resümee.

Seit der Flüchtlingskrise erleben wir ein "68 von rechts", schreibt Markus Decker im Leitartikel der FR, aber immerhin mache sich zivilgesellschaftliche Gegenwehr breit - wenn auch spät: "Die Linksliberalen waren ja vielfach der Überzeugung, dass die parlamentarische Demokratie in der Substanz bis auf weiteres nicht mehr gefährdet sein würde. Plötzlich muss Selbstverständliches wie die Akzeptanz der Tatsache, dass im Grundgesetz von Menschenwürde und nicht von Deutschenwürde die Rede ist, wieder erkämpft werden. Auch gibt es nachvollziehbare Verunsicherung über den richtigen Umgang mit der Flüchtlingsfrage in allen Teilen der Gesellschaft. Und schließlich wird dem einen oder anderen vielleicht bewusst, dass die Grenzen der notwendigen 'political correctness' von links in der Vergangenheit womöglich dann und wann zu eng gezogen wurden. Zwischen legitim rechts und illegitim rechtsradikal oder rechtsextrem wurde nicht ausreichend unterschieden."
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Ideen

Jan Feddersen würdigt in der taz den Publizisten, politischen Liberalen und Filmkenner Kurt Scheel, der sich im Alter von siebzig Jahren das Leben genommen hat: "In den vielen Jahren als faktischer Chefredakteur des Merkur ...  hat er viel dafür getan, dass gewisse deutsche Vermieftheiten in der politischen Diskussion, sei es von rechts oder, besonders gern, weil mainstreamig, von links, nicht ohne Rüge davonkommen."

Die weltweite Flucht von Menschen ist eine "demografische Revolution" und groß angelegte Abschiebungen wären eine "ethnische Säuberung light",  schreibt der Historiker Michael Wolffsohn in der Welt. Wir brauchen keine Leitkultur, aber feste Regeln, fordert er: "Freiheit für alle, sofern das Leben eines jeden gesichert und das individuelle Glücksstreben nicht auf Kosten des Lebens oder der Freiheit des anderen verwirklicht wird. Das klingt verdammt einfach und ist verdammt schwer durchzusetzen. Dafür, und auf diesen universellen (nicht nur europäischen oder deutschen) Wertevorstellungen basierend, brauchen wir Regeln - auf Deutsch formuliert, in Deutschland angewendet und durchgesetzt. Unabhängig von Herkunft, Einkünften, Bildung und Religion. Der Staat hat als Staat diese Uraufgabe. Nimmt er sie nicht wahr, sind Chaos und Konflikte programmiert."

Wie Hefepilze fressen wir uns dem eigenen Ersticken entgegen, sagt der Historiker Philipp Blom in seiner von der Zeit online nachgereichten Rede zur Eröffnung der Salzburger Festspiele, in der er den Verlust der Werte der Aufklärung beklagt: "Auf dem ganzen Globus entstehen autokratische Staaten, werden längst überwunden geglaubte autoritäre Strukturen und nationalistische Identitäten zum Programm oder zur Praxis, verlieren Wahrheit und Wissenschaft an Verbindlichkeit, greift freiwillige Verdummung Rau. Vielleicht ist das einfach eine Reaktion auf die grundlegenden Veränderungen der Gesellschaft innerhalb von gerade einmal drei Generationen. Nach dem Fortschritt kommt der Rückschritt. Vor dreihundert Jahren war es einfach, an den Fortschritt zu glauben - heute beginnen die Nebenwirkungen des Fortschritts seine ursprüngliche Absicht zu überwältigen, und so kann sich Fortschritt selbst in sein Gegenteil verkehren. Vielleicht ist dies der Anfang vom Ende der aufklärerischen Gesellschaften. Nach uns der ethnische Pluralismus."

Weitere Artikel: Auf Seite 3 der SZ zeichnet Willi Winkler Klaus Brieglebs Verbindungen zu BND-Chef Reinhard Gehlen nach. Gehlen, vor allem mit Brieglebs Mutter Hildegard befreundet, hatte Anfang der Sechziger den Druck von Brieglebs Doktorarbeit über Friedrich Schlegel durch einen Zuschuss unterstützt.
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Medien

Nachdem das Bundesverfassungsgericht neulich die Rechtmäßigkeit der jetzigen Rundfunkgebühren besiegelt hat, stellt der Rechtsprofessor Hubertus Gersdorf  in der FAZ doch noch mal die Frage, "ob der Staat den Einzelnen zu einer Gegenleistungsabgabe heranziehen darf, wenn dieser den mit der Abgabe abzugeltenden Vorteil nicht in Anspruch nehmen möchte. Einer kürzlich veröffentlichten repräsentativen Umfrage zufolge würden 42 Prozent der Bevölkerung für ARD und ZDF nicht freiwillig zahlen. Für sie stellt das Angebot des öffentlich-rechtlichen Rundfunks eine aufgedrängte Bereicherung dar, auf die man nur allzu gerne verzichten würde ('Zwangsgebühr')." Man könnte eine Freiwilligkeit herstellen, so Gersdorf, wenn die Sender - wie jetzt schon die Privaten - verschlüsselt ausgestrahlt würden.

Außerdem: In der FAZ meldet Kerstin Holm, dass drei russische Journalisten, die in der Zentralafrikanischen Republik über russische Söldner recherchiert haben, ermordet worden sind - sie waren im Auftrag des Investigationszentrums ZUR des im Exil lebenden Kremlkritikers Michail Chodorkowskinach Afrika gereist.
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