9punkt - Die Debattenrundschau

Dieser doppelte Wunsch des Volksgemüts

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
26.06.2018. Das Ergebnis der türkischen Wahlen schockiert die säkularen Türken. Am Wahlverhalten der Türken in Deutschland haben deutsche Politiker eine starke Mitverantwortung, schreibt Necla Kelek bei emma.deSeyran Ates attackiert im Tagesspiegel den Beirat des Instituts für islamische Theologie an der Humboldt-Uni, der ausschließlich aus konservativen Islamverbänden bestellt wird. Die gesamte deutsche Medienindustrie ruft in einem Appell ans EU-Parlament zu Uploadfiltern auf.  Die New York Times weist in einem großen Dossier nach, dass Baschar al-Assad sehr wohl die Stadt Duma mit Giftgas attackiert hat.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 26.06.2018 finden Sie hier

Internet

Die gesamte deutsche Medienindustrie, beziehungsweise deren Lobbyorganisationen - von der Allianz Deutscher Produzenten über den Bundesverband Deutscher Zeitungsverleger und die Deutsche Fußball-Liga GmbH bis hin zur VG Wort, sprechen sich in einem Aufruf ans EU-Parlament für die EU-Urheberrechtsreform und Uploadfilter aus, die die illegale Verbreitung urheberrechtlich geschützter Werke im Netz  verhindern sollen. Dafür müssen große und kleine Internetplattformen sämtlichen von Nutzern hochgeladenen Inhalte mt teuren Datenbanken abgleichen, die zugleich eine prächtige Maschinerie für Zensur von Inhalten bereitstellen. Im  Namen "aller Akteure der Kultur- und Medienwirtschaft" fordern sie von den EU-Abgeordneten: "Entscheiden Sie sich für die Zukunft einer vielfältigen, wirtschaftlich starken europäischen Kultur- und Medienlandschaft. Bestätigen Sie das Mandat des Rechtsausschusses." Als Gegengewicht werden nur die "Interessen global agierender Internetunternehmen" genannt, kleinere Unternehmen und Nutzer spielen in diesem Szenario überhaupt keine Rolle.
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Politik

Die New York Times präsentiert ein aufregendes Beispiel moderner journalistischer Recherche: Zusammen mit spezialisierten forensischen Diensten rekonstruierten die Journalisten die Szenerie in der syrischen Stadt Duma am 7. April und legen Beweise vor, dass das syrische Regime die Stadt mit Giftgas attackierte. Der Fundort einer Bombe auf einem Balkon eines Privathauses wurde als "virtual crime scene" rekonstruiert - unter anderem aus unabsichtlich geliefertem Beweismaterial in syrischen und russischen Videos der Szenerie. "Die wichtigsten Beweisstücke zeigen, dass die Bombe nicht gelegt worden war, wie die Behörden behaupteten, sondern dass sie von einem syrischen Hubschrauber abgeworfen wurde. Die Beweise zeigen auch, dass Chlorin-Gas im Spiel war. Und sie zeigen, wann es passierte, am Abend des 7. April, einem Zeitpunkt der mit Zeugenaussagen und Interviews von diesem Tag übereinstimmt."
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Stichwörter: Giftgas, Syrien, Syrienkrieg, Duma, Gas

Europa

"Das Ergebnis der Türkei-Wahlen hat viele säkulare Türkinnen und Türken schockiert", schreibt Necla Kelek bei emma.de. Das Wahlverhalten der in Deutschland lebenden Türken wundert sie nicht: "Wenn der Grünen-Vorsitzende Robert Habeck nach der Wahl davon spricht, dass dieses Wahlergebnis 'kaum ein Beispiel gelungener Integration' sei, dann ist das nur als Zynismus zu verstehen. Denn die AKP ist in Deutschland ja nur deswegen so stark, weil die Bundesregierung mit Unterstützung aller Parteien seit Jahrzehnten zulässt, dass über die Islam- und Moscheen-Verbände wie DITIB oder Milli Görüs systematisch eine Gegengesellschaft propagiert wird. Eine Gegengesellschaft, die sich inzwischen etabliert hat."

Und Erdogan setzt weiter auf die Moscheen, schreibt Daniela Wakonigg bei hpd.de: "Die Zahl sogenannter Imam Hatip-Schulen, religiöser Oberschulen, deren Bildungsziel neben dem Erreichen der Hochschulreife die Ausbildung zum Imam beziehungsweise islamischen Prediger ist, ist laut der US-amerikanischen Zeitung The New York Times von 450 Schulen landesweit im Jahr 2003 auf 4.500 Schulen heute angewachsen. Das Budget für religiöse Erziehung wurde laut New York Times allein in diesem Jahr um 68 Prozent erhöht. Ganz zu schweigen von der Entlassung unliebsamer Lehrer und dem Streichen der Evolutionstheorie aus dem Lehrplan."

Seyran Ates, Gründerin einer liberalen Moschee in Berlin, protestiert unterdessen im Tagesspiegel gegen die vom rot-rot-grünen Senat betriebene Besetzung des Beirats für das neue Institut für islamische Theologie an der Berliner Hmuboldt-Universität - dort sitzen ausschließlich Abgesandte der protürkischen oder -iranischen Moscheeverbände: "Man hätte den Beirat für viele andere Strömungen des Islam öffnen können und das Institut zu einem richtigen Leuchtturm des Denkens und Debattierens in der Islamischen Theologie machen können. Stattdessen ist man lieber den Drohungen der Islamverbände gefolgt, die den Verhandlungstisch bei einer solchen Öffnung des Beirates verlassen hätten. Diese Entscheidung ist auch ein politisches Signal an die liberalen Muslime in Deutschland, dass ihre Auffassung vom Islam auf der politischen Ebene keine Rolle spielt."

Den Katzenjammer der Opposition in der Türkei beschreibt auch Jürgen Gottschlich in der taz.

In der Welt legt Kay Hailbronner vom Forschungszentrums Ausländer- und Asylrecht der Universität Konstanz ermüdend detailliert dar, warum es legal ist, Asylsuchenden die Einreise (mit den dazugehörigen Grenzkontrollen) ins Bundesgebiet zu verweigern, wenn sie aus einem sicheren Drittstaat einreisen. Im letzten Drittel seines Textes kommt er dann darauf, dass das Ländern wie Italien gegenüber äußerst unfair sein könnte: "Zu Recht wird angeführt, dass Einreiseverweigerungen das Problem auf den Nachbarstaat und letztlich auf den Ersteinreisestaat verschieben. Allerdings nur kurzfristig. Denn Zurückweisungen an den Grenzen der reichen Zentrumsstaaten minimieren gleichzeitig auch den vielleicht wichtigsten pullfactor illegaler Migration: die guten Aussichten, nach der Ankunft an den europäischen Küsten ins Wunschland weiterreisen zu können."

In der Berliner Zeitung bringt Götz Aly die zwiespältige Haltung vieler Deutscher zur Flüchtlingsfrage auf den Punkt: "Laut Meinungsumfragen wünschen die meisten Deutschen Angela Merkel als Kanzlerin plus Grenz- und Abschiebemaßnahmen à la Seehofer. Die große Mehrheit will also, dass die Wortwahl in der Flüchtlingspolitik freundlich bleibt, die Praxis jedoch abweisend gestaltet wird. ... Wer eine harte Politik gutheißt, aber sein Gewissen schonen möchte, um sich als halbwegs guter Mensch zu fühlen, dem sind Lösungen willkommen, von denen man möglichst wenig sieht und hört. Ferne Lager erfüllen diesen doppelten Wunsch des Volksgemüts." Und keine Fotografen, bitte!

Der Fünf-Sterne-Bewegung kommt man mit der Charakterisierung als "populistisch" vielleicht nicht völlig auf die Spur. Spezifisch italienisch an der Partei ist wohl auch das esoterische  Denken, das sich in der Popularität sämtlicher Verschwörungstheorien manifestiert. Ein Unterstaatssekretär der Fünf Sterne bezweifelt die Mondlandung im Jahr 1969, ein anderer glaubt an "Chemtrails": Eric Jozsef berichtet in Libération: "Andere Parlamentsabgeordnete der Fünf Sterne haben an ein Komplott des 11. September, an die Illuminaten oder die Bilderberg-Gruppe, an die Existenz von 'Sirenen' oder an Chips geglaubt, die von der Obama-Regierung unter die Haut der Bürger implantiert wurden, um sie besser kontrollieren zu können. Im Lauf der letzten Monate sind einige der fantasievollsten Politiker aus verantwortlichen Posten entfernt worden, aber das Misstrauen gegenüber der Wissenschaft bleibt, denn sie steht unter Verdacht, ausschließlich im Dienst der multinationalen Konzerne zu stehen." Einen Fortschritt gibt es aber: Die Kritik des rechtsextremen Innenministers Matteo Salvini an der Impf-Pflicht wurde von der Fünf-Sterne-Gesundheitsministerin zurückgewiesen - und das obwohl auch diese Verschwörungstheorie bei den Fünf Sternen so beliebt ist.
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