9punkt - Die Debattenrundschau

Das Wort Schmetterling

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
30.05.2018. Schön, dass die Kanzlerin zur Gedenkfeier für den Solinger Brandanschlag kommt. Aber man sollte sich auch daran erinnern, dass die deutsche Politik damals mit Zweidrittelmehrheit den Grundgesetzartikel 16, 'Politisch Verfolgte genießen Asyl', praktisch abgeschafft hat, meint Jürgen Gottschlich in der taz. Im Guardian fürchtet Antonella Rampino, dass die italienische Koalition der doppelten Populisten gestärkt aus Neuwahlen kommt und einen Regimewechsel anstrebt. Die Zeit diskutiert auf drei Seiten über genderisierte Sprache. Der russische Journalist Arkadi Babtschenko ist gestern ermordet worden, der Guardian berichtet.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 30.05.2018 finden Sie hier

Europa

Der russische Journalist Arkadi Babtschenko (mehr hier) ist in Kiew ermordet worden. Nach den Morden an Daphne Caruana Galizia und Jan Kuciak ist es die dritte regelrechte Exekution von Journalisten in Europa in diesem Jahr: Babtschenko lebte in Kiew, weil er in Russland nach seiner Berichterstattung über Tschetschenien Bedrohungen ausgesetzt war. Bisher gibt es bei Spiegel online nur die nackte Tickermeldung. Der Guardian berichtet etwas ausführlicher. Im Guardian hatte Babtschenko vor einem Jahr erzählt, warum er nach Kiew zog.

Es ist ein zivilisatorischer Fortschritt, dass Angela Merkel 25 Jahre nach dem Brandanschlag in Solingen zur Gedenkfeier kommt - Helmut Kohl sagte seinerzeit noch, er habe keine Lust auf "Beileidstourismus". Es hatte damals fünf Tote gegeben. Aber Jürgen Gottschlich erinnert in der taz daran, dass die Politik ihr damaliges Einknicken bis heute nicht rückgängig machte, denn im Kontext der damaligen Flüchtlingsdebatte wurde "der Grundgesetzartikel 16, 'Politisch Verfolgte genießen Asyl', praktisch abgeschafft. Eine Koalition aus CDU/CSU, SPD und FDP änderte mit einer Zweidrittelmehrheit das Grundgesetz und schob mit dem Grundgesetzartikel 16 a dem Asylversprechen so viele Vorbehalte unter, dass es für einen Flüchtling kaum noch möglich war, in Deutschland Asyl zu beantragen."

In einer Reportage für Zeit online erzählt Vanessa Vu, welche Wunden der Anschlag vor allem bei den Älteren bis heute hinterlassen hat, aber auch, dass die Stadt Solingen ihre Antidiskriminierungsarbeit seitdem stark ausgebaut hat: "Schulen behandeln den Brandanschlag in jeder Jahrgangsstufe. Zu den Jahrestagen gibt es Aktionen und Gedenkminuten, Schüler besuchen den Tatort. Der Achtklässler Merth* findet das 'cool'. Er besucht die Geschwister-Scholl-Gesamtschule in Solingen, stammt aus einer kurdischen Familie. Wenn Mitschüler rassistische Sprüche oder Witze rissen, würden die Lehrer das ernst nehmen. 'Bei ein- oder zweimal kann man noch sagen, das ist nur Spaß, aber wenn die nicht aufhören damit, dann klären das die Lehrer', sagt Merth. So grausam der Anschlag war, die neue Generation wächst heute in einer Stadt heran, die die Aufarbeitung ernst nimmt."

Außerdem zum Thema Solingen: Ebenfalls auf Zeit online schreibt Sebastian Weiermann über die ungute Rolle des Verfassungsschutzes bei dem Brandanschlag in Solingen. Fatal findet es Sascha Lehnartz in der Welt noch heute, dass die Deutschen nach dem Anschlag so wenig Solidarität mit den Opfern gezeigt haben: Solingen war "vor allem ein Trauma für Zuwanderer, die das Gefühl nicht loswurden, sie hätten selbst die Opfer sein können. Diese Menschen haben wir in der Not alleingelassen. Auch nach Solingen hat ihnen kaum jemand das Gefühl vermittelt, dazuzugehören. Dass viele Deutschtürken heute den Falschen für 'ihren Präsidenten' halten, ist daher auch eine Folge deutscher Gleichgültigkeit. Wie heißt es so schön: Integration ist keine Einbahnstraße."

Die italienische Koalition der doppelten Populisten könnte gestärkt aus Neuwahlen hervorgehen, schreibt Antonella Rampino im Guardian. Danch könnten diese Parteien einen Regime-Wechsel anstreben - unter anderem, indem sie verfassungsmäßig festgeschriebene Prozeduren unterlaufen. Die Koalition "will das Parlament neutralisieren, indem es Abgeordneten unmöglich macht, Parteien zu wechseln, obwohl diese Freiheit in der Verfassung festgeschrieben ist. Bereits geltende unpopuläre Gesetze sollen einer Art Screening durch Referenden unterworfen werden.  Das gleiche soll für internationale Verträge gelten, also auch für alle Schritte, die Italien zu einem Teil der EU und der Eurozone machten, obwohl ein Infragestellen von Verträgen in Artikel 75 der Verfassung ausgeschlossen wird."

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Ideen

Italien sollte uns allen Vorbild sein - was die Höflichkeit angeht, fordert Daniele Muscionico in der NZZ: "Es herrscht im verbalen Miteinander in Italien zwar körperliche Nähe, doch sie geht einher mit rhetorischem Respekt und Formen, auf die Verlass ist. Etikette ist das nicht, es ist weit mehr; es ist extrovertierte Menschenliebe am Zügel des Geistes."
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Stichwörter: Höflichkeit

Politik

Ostafrika war jahrhundertelang das riesige Einzugsgebiet des arabischen Sklavenhandels. Nun breitet sich auch dort der Islamismus aus, berichtet Dominic Johnson in der taz: "Mosambiks Norden ist mehrheitlich muslimisch. Vor der Kolonisierung gehörte er zum arabischen Händlerreich Sansibar, das Ostafrika über den Indischen Ozean mit Oman auf der Arabischen Halbinsel verband. Sansibar gehört heute zu Tansania, aber die gesellschaftlichen Verbindungen entlang der Küste des Indischen Ozeans sind eng geblieben. So reicht auch der Einfluss radikaler kenianischer und somalischer Prediger, die aus Sudan oder Saudi-Arabien einen in Ostafrika früher nicht heimischen radikalen Islamismus mitgebracht haben, bis nach Tansania, die Komoren und eben auch Mosambik."
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Gesellschaft

Auf drei Seiten diskutiert das Zeit-Feuillton die geschlechtergerechten Sprache, Binnen-I, *-Sternchen, _Unterstrich. Reicht das generische Maskulinum, das Frauen bekanntlich mitmeint? Oder wie wäre es mit einem generischen Femininum, Herr Professorin? Marie Schmidt, die in ihrem Artikel fast durchweg das generische Maskulinum benutzt, fordert dennoch genaueres und gerechteres Sprechen und nennt die Vorwürfe gegen die gendergerechte Sprache wohlfeil: "Ja, sie ist kompliziert und sie spielt mit Wörtern und Grammatik. Ja, sie ist moralisch, denn sie enthält eine Botschaft darüber, wie man die Welt und Gesellschaft haben möchte. Und ja, sie führt in Widersprüche. Aber all das gilt für die herkömmliche Sprache auch. Es fällt uns nur nicht so auf, wir haben uns daran gewöhnt. Und an geschlechtergerechte Sprache werden wir uns auch gewöhnen. Schön werde sie nie sein, sagten die Gegner. Aber rau und kantig ist Sprache eben bisweilen. Versuchen Sie mal, elegant das Wort 'Schmetterling' zu sagen."

Ulrich Greiner warnt dagegen vor Sprachzensur und hässlichen Verrenkungen, und fürchtet, dass Verbote alles nur noch schlimmer machen. Aber eigentlich gibt er den Kampf schon verloren und eigentlichen auch den 200 Gender-Professuren eine Mitschuld: "Da nun das bemitleidenswerte generische Maskulinum unter Sexismusverdacht geraten ist, gibt es keine Unschuldsvermutung mehr, und das 'Gendern' nimmt seinen Lauf." Ronald Düker begutachtet in einem dritten Text die Suche nach Lösungen bei Duden-Redaktion, Rechtschreibrat und Sprachwissenschaftlern,Hilfestellung geben der Duden "Richtig Gendern" oder der Leitfaden "Was tun?" der AG Feministisch Sprachhandeln. Vielleicht wären hier aber nicht nur die LinguistInnen gefragt, sondern vor allem die LiteratInnen?

Volker Breidecker schreibt in der SZ über ein Frankfurter Symposion zum Thema "linker Antisemitismus" - wo er nach Berichten von Teilnehmern feststellen musste, dass es nach wie vor höchst aktuell ist: "Unter dem massiven Druck, stets und ständig seine Haltung gegenüber Israel bekennen zu müssen, trauen sich junge Jüdinnen und Juden in studentischen und anderen politischen Zirkeln offenbar nicht mehr, sich angstfrei zu ihrem Jüdischsein zu bekennen."
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Internet

Wer geglaubt hat, er entkomme dem Tracking der Adserver oder von Google Analytics, wenn er den anonymen Modus von Firefox oder Chrome benutzt, hat sich leider geirrrt, legt der Webdesigner und Programmierer Dylan Curran im Guardian dar. Man wird genauso erkannt und mit personalisierter Werbung beschossen wie sonst auch: "Das ist der Schlüssel - nur andere Leute, die dasselbe Gerät benutzen, können die Aktivität im anonymen Modus nicht sehen. Das heißt nicht, dass niemand diese Aktivität sieht. 'Incognito' funktioniert so: Stell dir vor, du kaufst dir ein neues Handy. Du rufst deine Freunde und Familie an und schickst ihnen SMS. Dann stellst du das Handy auf die Werkseinstellungen zurück. Deine Anrufe und SMS werden nun nicht mehr auf dem Telefon erscheinen, aber sehr wohl auf denen deiner Freunde und Familienmitglieder."
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Kulturpolitik

Die Monopolkommission, die die Bundesregierung in Wettbewerbsfragen berät, empfiehlt die Abschaffung der Buchpreisbindung, berichtet u.a. der Tagesspiegel mit der dpa. Kulturministerin Monika Grütters hat das schon mal weit von sich gewiesen: "'Die Empfehlung der Monopolkommission macht mich fassungslos', sagte Grütters laut Mitteilung. Sie unterhöhle die jahrelangen Bemühungen der Bundesregierung, den unabhängigen Buchhandel und die Verlage als Garanten der literarischen Vielfalt zu schützen. Sie werde sich weiterhin mit aller Kraft für den Erhalt der Buchpreisbindung einsetzen, sagte die Politikerin."
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Religion

In staatlichen Institutionen und bei ihren Vertretern hat das Kreuz nichts zu suchen. Kopftuch oder Kippa auch nicht, meint Thomas Ribi in der NZZ mit Blick auf den bayerischen Kruzifixbeschluss. "Entscheidend ist, dass sich der Staat nicht mit einem religiösen Symbol identifizieren darf, egal mit welchem. Als liberaler Verfassungsstaat ruht seine Autorität nicht auf einer Religion oder einer Weltanschauung. Im Gegenteil, er bezieht seine Legitimation gerade daraus, dass er zu den 'letzten Fragen', den Fragen nach Herkunft, Wesen und Sinn unserer Existenz also, keine Stellung bezieht. Der Staat soll Frieden und Freiheit schützen, Ordnung gewährleisten und das Zusammenleben der Menschen regeln, soweit das notwendig ist. Mehr nicht."

Der deutsche Arzt und Theologe Manfred Lütz verteidigt im Interview sein Buch über die Geschichte des Christentums, dem von Kritikern vorgeworfen wird, es sei zu schönfärberisch. Und spielt es nicht womöglich den Falschen in die Hände? "Barmherzigkeit, Toleranz und Internationalität sind natürlich nicht exklusiv christlich, aber im Christentum sind sie gewissermaßen 'erfunden' worden. Wenn sich dann politische Strömungen auf das christliche Abendland berufen und gleichzeitig 'Deutschland, Deutschland über alles' rufen, dann haben die nicht einfach eine falsche Meinung. Sie sind schlicht nicht informiert."

Zeit online und andere Zeitungen berichten heute alle über die Ergebnisse einer europaweiten Umfrage des Pew-Instituts, wonach in Deutschland 12 Prozent keinen Juden als Familienangehörigen tolerieren würde und 33 Prozent keinen Muslim. Besonders ablehnend anderen Glaubensgruppen gegenüber waren die Katholiken. Die Studie zeigte aber ganz generell, "dass Menschen christlichen Glaubens ablehnender sind als Menschen ohne Konfession. Das gilt unabhängig davon, ob es sich um praktizierende Christinnen und Christen handelt oder um solche, die entweder nie oder sehr selten zum Gottesdienst gehen."

Weiteres: Die SZ hat bei bayerischen Museums- und Hochschuldirektoren herumgefragt, wer das Kreuz schon aufgehängt hat. Einerseits möchte man es ja gern verstehen, aber andererseits ist Christian Geyers heutiger theologischer Aufmacher des FAZ-Feuilletons vielleicht eher etwas für Fachleute: "Ambivalenzkompetenz gilt als Gebot der Stunde. Aber wer sich den zitternden Rezeptoren von Haut und Haar verschreibt, kommt in peinliche Verlegenheiten, und zwar nicht nur in der Theologie."
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