9punkt - Die Debattenrundschau

Liebe zum Meister

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
16.05.2018. In Le Monde sieht der  bulgarische Politologe Ivan Krastev die populistischen Bewegungen der Gegenwart als eine Art Replik von 1968. Bei Zeit online unterhalten sich die Autorinnen Deborah Feldman und Mirna Funk  über Antisemitismus in Deutschland. In der SZ schildert die Extremismusforscherin Julia Ebner, wie Rechtsextreme auf ihre eigenen sozialen Netze ausweichen. Die FAZ druckt ein Kapitel aus Michael Angeles biografischem Porträt über Frank Schirrmacher ab.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 16.05.2018 finden Sie hier

Europa

Gergely Marton, ehemals Redakteur bei der ungarischen Tageszeitung Nepszabadsag, die dann eingestellt wurde, heute bei  HVG, kommentiert in der taz die Meldung vom Umzug der Open Society Stiftung von Budapest nach Berlin: "Folgen hat das Ganze vor allem für die beiden Städte. Die eine bekommt hochqualifizierte Fachkräfte, die für eine bessere Welt arbeiten, die andere verliert sie. Die eine Stadt baut ihre Position als freier und kreativer Treffpunkt einer neuen internationalen Elite aus, die andere droht endgültig zu einer Hauptstadt des Illiberalismus zu mutieren. Berlin ist zum Zufluchtsort geworden - nur so lässt sich dies in beiden Städten verstehen."

Seit bald 200 Jahren hatte man in Dänemark keinen Wolf gesehen. Nun sind die Wölfe zurückgekehrt, und neulich wurde ein Wolf von einem Lokalpolitiker in Ulfborg illegal abgeschossen. Der Wolf wird zu einem Thema für die Populisten, schreibt die dänische Autorin Dorthe Nors im Guardian: "Am folgenden Tag besuchten Reporter den Supermarkt von Ulfborg. Einige West-Jütländer erklärten, sie befürworteten den Vigilantismus nicht, aber der Wolf müsse gehen. Eine Gruppe älterer Frauen nahm kein Blatt vor den Mund: Der Schütze sei ein Held und die restlichen Wölfe sollten alle gefangen, auf einen Lastwagen geladen und nach Kopenhagen gebracht werden. Es geht hier um das Verhältnis zwischen Peripherie und Zentrum. Wenn der Wolf ein deutsches Tier gewesen wäre, hätte man ihn nach Berlin transportieren müssen, und ein Wolf, der kürzlich in Belgien gesichtet wurde, hätte bald in einem Wagon Richtung Brüssel gesteckt."

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Politik

Susanne Knaul von der taz lässt sich auf die Hamas-Version der Ereignisse am Gaza-Streifen nicht ein: "Die islamistische Hamas hätte das Blutvergießen aufhalten können, und sie kann die Not der Bevölkerung unmittelbar lindern. Schließlich gab es das Angebot von Ägypten, die Lieferung dringender Güter zu ermöglichen, darunter Medikamente und Öl für die Stromversorgung - unter der Voraussetzung, dass die Proteste gestoppt werden. 'Dieses Angebot ist nicht, was wir wollen', war der einzige Kommentar des Hamas-Führers Ismael Hanijeh, als er mit leeren Händen aus Kairo zurückkam." Hier Susanne Knauls Bericht.

Richard Herzinger schildert in der Welt den politischen Hintergrund: "Die Aktionen der Radikalislamisten sind auch Symptom einer wachsenden Panik, die sie angesichts ihres rapide schwindenden Rückhalts in der arabischen Welt ergreift. Namentlich Saudi-Arabiens junger Kronprinz Mohammed bin Salman macht kaum mehr einen Hehl daraus, dass er die Geduld mit dem militanten Gebaren der Palästinenser verloren hat und einen raschen Friedensschluss mit Israel wünscht."
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Medien

Es ist interessant zu sehen, wie die FAZ auf Michael Angeles Porträt über den ehemaligen FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher reagiert. In der SZ gab's bereits einen forciert wirkenden Verriss. Und manches in dem Buch - etwa das Kapitel über Schirrmachers sehr aktive Rolle in der Wulff-Affäre - dürfte manchen in der FAZ-Redaktion nicht so genehm sein. Aber man reagiert elegant und druckt schlicht ein Kapitel vorab (Erscheinungstermin des Buches ist am Freitag). Das Kapitel erzählt von Schirrmachers früher Stefan-George-Begeisterung, die ihn zum Post-George-Kreis um Wolfgang Frommel in Amsterdam führte und ihn eine Zeitlang zu einem verzückten Jünger werden ließ: "Über Blicke wird in den Briefen, die Schirrmacher an Frommel schickt, geschwiegen. Immerhin, Schirrmacher ist von der ersten Begegnung mit Frommel so gebannt, dass er ein Gedicht im Stile Stefan Georges schreibt, es trägt den Titel 'Liebe zum Meister' und beschwört Täter und Geschick, Seelen und Sein."

Recep Tayyip Erdogan hasst die Medien seit Beginn seiner politischen Karriere, schreibt Bülent Mumay in seiner FAZ-Kolumne. Nun kontrolliert er über 90 Prozent der Medien und lässt der Opposition im Wahlkampf keine Chance auf Berichterstattung: "Als kürzlich CHP-Kandidat Muharrem Ince eine seiner größten Kundgebungen abhielt, was glauben Sie, wurde da live auf CNN Türk, dem Kanal, der auf Regierungswunsch hin den Besitzer wechselte, gesendet? Irgendein Erdogan, den man gerade zu fassen bekam. Der Staatspräsident absolvierte gerade kein Programm, aber das von seinem Sohn Bilal Erdogan ausgerichtete Bogenschützen-Festival wurde live auf CNN Türk übertragen."

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Kulturpolitik

Der Tagesspiegel meldet die einstimmige Berufung von Hartmut Dorgerloh zum Generalintendanten des Humboldt-Forums im Schloss. Dogerloh, bisher Generaldirektor der Preußischen Stiftung Schlösser und Gärten, wird als "bestens vernetzt" gelobt, was wohl bedeuten soll, dass er sich exzellent in den komplexen Hierarchien der Institutionen auskennt, die das Humboldt Forum bespielen werden. Damit sind die Leitungsstellen alle besetzt. Einziger Schönheitsfehler: Es "wurden ausschließlich Männer in die Leitung des Humboldt-Forums berufen. Einzige Frau ist Lavinia Frey, die das Programm als Leiterin der 'Humboldt Forum Kultur GmbH' inhaltlich mitgestaltet."
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Ideen

Der bulgarische Politologe Ivan Krastev sieht die populistischen Bewegungen der Gegenwart in Le Monde als eine Art Replik von 1968 mit umgekehrten Vorzeichen. Die Stärke der 68er sei es gewesen, nicht nur die Gesellschaften verändert zu haben, sondern sich auch selbst angepasst zu haben. "Die heute wesentliche Frage ist nicht, ob die populistische Welle unsere Gesellschaften verändern wird - das hat sie bis zu einem gewissen Grad schon getan - sondern ob die europäischen Gesellschaften und Institutionen es schaffen, die extreme Rechte zu verwandeln und deradikalisieren, so wie sie es mit der extremen Linken 1968 getan hatte."
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Stichwörter: Populismus, Krastev, Ivan, 68er

Religion

Mateja Meded, aufgewachsen im ehemaligen Jugoslawien, hat generell keine gute Meinung von Religionen, deren giftigen Einfluss sie in der eigenen Familie beobachten konnte, wie sie im Zeit-Blog schreibt: "Ich würde gern die Heilige Schrift umschreiben: Am Anfang schuf Gott den Mann, und dann, aus seiner Rippe, die Frau. Und da erschien Nebel, und heraus kam noch eine Frau und sie erschuf sich eigenhändig ein Schwert und rammte es Gott in den Bauch und sprach: 'Mich hat eine Frau erschaffen und nicht du. Und nun mach Platz und nimm deine Stockholmsyndrom-Frauen mit, denn jetzt kommen wir. Und wir bauen eine neue Welt, die auf Selbstliebe, Empathie und Sensibilität beruht und in der die Natur und die Tiere verehrt werden.'"
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Stichwörter: Meded, Mateja, Jugoslawien

Gesellschaft

Im Gespräch mit dem Zeit Magazin versuchen die in Berlin lebenden jüdischen Autorinnen Deborah Feldman und Mirna Funk den Antisemitismus in Deutschland zu fassen. Mirna Funk glaubt nicht an eine Zunahme von Antisemitismus, denn der sei in Deutschland "strukturell" immer dagewesen und äußere sich jetzt nur offener. Deborah Feldman würde dagegen gern weniger generalisieren: "Antisemiten denken, Juden sollten sich immer so verhalten, wie es von ihnen erwartet wird: am besten unterwürfig, denn durch die Existenz und die Politik Israels sollen sie sich selbst delegitimiert haben. Sobald jemand aus einer Minderheit aufsteigt, wird er für die Mehrheitsgesellschaft zum Feind. Er soll Opfer bleiben, jemand, von dem keine Bedrohung ausgeht. Die dunklen Stellen können wir da beheben, wo wir aufhören, eine allgemeine These auf ein einzelnes Individuum anzuwenden."

Das Einschießen auf große soziale Netzwerke wie Facebook oder Youtube hat auch Nachteile, erkennt die Extremismusforscherin Julia Ebner in der SZ. Extremistische kleine Netzwerke wachsen nach, um den Ausgesperrten eine Plattform zu bieten. Und sie sind viel weniger kooperationsbereit als Facebook: "Das Netzwerk Gab entfernte in der Vergangenheit weder antisemitische Verschwörungstheorien noch hetzerische Posts gegen Migranten oder Gewaltaufrufe gegen etablierte Medienhäuser. Hatreon hat sich als neonazistisches Pendant zu Crowdsourcing-Plattformen etabliert und sogar Dating-Apps gibt es mittlerweile für weiße Nationalisten: WASP Love zum Beispiel präsentiert sich als Tinder-Ersatz mit dem Motto 'Erhalte dein Erbe'. Die von Identitären entwickelte Applikation Patriot Peer zur internationalen Vernetzung von Patrioten steht kurz vor dem offiziellen Launch."
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