9punkt - Die Debattenrundschau

Enorm fruchtbarer Grund

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
08.05.2018. Im Guardian ruft Timothy Garton Ash europäische Politiker auf, endlich entschiedene Schritte gegen die Populisten in Polen und Ungarn zu unternehmen. Politico.eu porträtiert den Labour-Strippenzieher Jon Lansman, dem die Zukunft umso rosiger scheint, je schlechter es dem Land geht. Zeit online erzählt, wie sich die Katholische Kirche in Kroatien gegen die "Gender-Ideologie" wehrt. Und in Russland herrscht jetzt Führerkult, konstatiert Sonja Margolina in der NZZ.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 08.05.2018 finden Sie hier

Europa

In einem fulminanten Essay ruft Timothy Garton Ash im Guardian die Politiker und Institutionen der EU dazu auf, die entstehenden autokratischen Regimes in Polen und Ungarn viel aktiver zu bekämpfen als bisher. Zwar seien einige vielversprechende Maßnahmen unternommen worden, um diese Länder von Geldströmen abzuschneiden, die oft zu interner Klientelpolitik missbraucht werden. Aber vor allem sollte die Europäische Volkspartei endlich die ungarische Fidesz ausschließen: "Eine solche europäische Parteigruppe sollte an der Spitze einer europäischen Demokratisierung stehen. Aber sie hält an der Mitgliedschaft einer Partei fest, die nicht nur die liberale und pluralistische Demokratie daheim schleift, sondern ihren letzten Wahlkampf mit einer brüsselfeindlichen, fremdenfeindlichen Agenda bestritt, inklusive  Antisemitismus, der auf George Soros zielte... Die europäische Volkspartei toleriert Fidesz nicht nur, sondern unterstützt sie aktiv. Wie der Fidesz-Abgeordnete Joszef Szajer in einer Dank-Email (die an Politico geleakt wurde) schrieb, kam der EVP-Chef Manfred Weber 'nach Budapest, um unseren Wahlkampf zu unterstützen und fest an unserer Seite zu stehen.'" Weber ist ein CSU-Politiker.

Dankend hat die Stadt Trier sich von den chinesischen Orwellianern eine scheußliche Marx-Statue stiften lassen. Schon erstaunlich, wie der Marxismus die Kurve kriegt, schreibt Richard Herzinger in der Welt: "Musste man sich früher davor fürchten, dass die Kommunisten einem das Häuschen im Tessin oder in der Eifel wegnehmen würden, hätten sie in der Bundesrepublik einmal das Sagen, bietet die aktuelle chinesische Variante des Marxismus-Leninismus jedem die Aussicht, sich noch ein paar mehr davon dazuzukaufen, sofern er sich am Siegeszug des dort herrschenden staatsgesteuerten Turbokapitalismus beteiligt. Das erleichtert es doch ungemein, an dem Vordenker der Weltrevolution auch die guten Seiten zu sehen..."

Tom McTague porträtiert für politico.eu den Labour-Strippenzieher Jon Lansman, der die Momentum-Gruppe gründete und als maßgeblich für den Erfolg Jeremy Corbyns gilt. "Schlechte Nachrichten sind gute Nachrichten für Labour, glaubt er - und er sieht eine Menge schlechte Nachrichten: gesunkener Lebensstandard, unbezahlbare Wohnungen, Studiengebühren von 9.000 Pfund. 'Dies ist ein enorm fruchtbarer Grund', sagt er,  'ich glaube, die Zukunft ist rosig für uns.'" Unter Lansman sei Labour zur größten Partei Europas aufgestiegen, so McTague. Und vor 2015 waren die meisten bei Labour über sechzig, jetzt sind sie in den Zwanzigern.

In Kroatien plädiert die Bischofskonferenz wie die Akademie der Wissenschaften und Künste gegen die Verabschiedung der Istanbuler Konvention, die Gewalt gegen Frauen bekämpfen will, erzählt die Autorin Ivana Sajko auf Zeit online: Das sei alles nur "Gender-Ideologie" und stehe der kroatischen Bildungs- und Erziehungstradition entgegen. "Ende März folgte eine sehr große ultrakonservative Versammlung in Zagreb, um den Druck auf die Regierung zu erhöhen, die im Begriff war, die Istanbuler Konvention ratifizieren zu lassen. Aus allen Landesteilen kamen Busse in die Hauptstadt und die katholischen Vereine, die die Demonstration organisiert hatten, boten danach - als Bestandteil des Ausflugs - einen Besuch bei Ikea an. ... Die Bischöfe jedoch unterstützten diese Versammlung mit den Worten, die Kirche akzeptiere 'die Kolonisierung' nicht, 'welche in die Anthropologie eindringt, auf der die Identität aufgebaut wird'."

Archiv: Europa

Geschichte

Morgen, am 9. Mai, feiert Russland wieder seinen Sieg im 'Großen Vaterländischen Krieg', der inzwischen die "Oktoberrevolution als Legitimationsmythos des Einparteistaats ersetzt" hat, schreibt Sonja Margolina in der NZZ. Vor diesem geschickt genutzten Erinnerungshorizont konnte Putin seine Kriege auf der Krim, im Donbass und Syrien in Wählerstimmen ummünzen: "In diesem Jahr steht die Feier im Zeichen der Wiederwahl Wladimir Putins als 'Siegespräsident', dessen Inauguration am 7. Mai stattgefunden hat und in der diesjährigen Militärparade auf dem Roten Platz ihren Höhepunkt erreichen soll. Damit erhält Putin die höheren Weihen. 'Bisher war Putin unser Präsident und konnte ausgetauscht werden', ließ die Chefredaktorin des Propagandasenders RT, Margarita Simonjan, kurz nach den Wahlen verlautbaren. 'Nun ist er unserer Führer. Und wir lassen nicht zu, dass er ausgewechselt wird.'"

Ebenfalls in der NZZ erinnert der Osteuropahistoriker Fabian Thunemann mit Blick auf Russland daran, dass Diktaturen selten durch Unruhen gestürzt werden: Viel erfolgreicher sind Verschwörungen.
Archiv: Geschichte

Ideen

Hannah Bethke war für die FAZ dabei, als der Soziologe Bruno Latour in Berlin sein terrestrisches Manifest gegen die Umweltzerstörung vorstellte. Jetzt ist ihr unwohl: "Für das Ausmaß der Umweltverwüstung macht Latour die 'Minus-Globalisierung' verantwortlich, die in der Welt eine einzige Sichtweise durchsetzen wolle, anstatt die Gesichtspunkte in einer 'Plus-Globalisierung' zu vermehren. Die Modernisierungsverlierer blieben auf diese Weise auf der Strecke und suchten Schutz in einer negativen Übersetzung des Lokalen, das Identität 'innerhalb nationaler und ethischer Grenzen verspricht'. Latour plädiert demgegenüber für eine Rückbesinnung auf ein Lokales, das die Welt nicht ausschließt, aber die Verbundenheit mit dem Boden ermöglicht. ... Er prägt Begriffe, die klingen, als stammten sie aus anderen Sphären, und doch transportieren sie den Blick auf eine Krise, aus der es vielleicht keinen rettenden Ausweg mehr gibt."
Archiv: Ideen

Medien

Noch ist der Skandal um das Das Institut für Rundfunktechnik (IRT) nicht ausgestanden, schreibt Axel Weidemann in der FAZ. Dem Institut, das den öffentlich-rechtlichen Sendern untersteht, wird vorgeworfen, dass es fahrlässig auf Patenteinnahmen in Höhe von Hunderten von Millionen Euro verzichtet habe. Es hat gegen gegen einen Patentanwalt geklagt, der ihm 60 von 200 Millionen Euro zurückzahlte. Aber da ist noch die italienische Firma Sisvel, mit der das Institut kooperierte und das sich wehrt. Weidemann insistiert, dass das Institut weit früher als behauptet von den Millioneneinnahmen wusste: "In welchem Umfang der Münchner Patentanwalt und Sisvel von den IRT-Patenten profitierten, hätte, Dokumenten zufolge, die dieser Zeitung vorliegen, seit dem Jahr 2002 im Institut und beim Bayerischen Rundfunk bekannt sein müssen. Diesbezüglicher Schriftverkehr lag im Übrigen 2002 auch einer Justitiarin des WDR vor."
Archiv: Medien