9punkt - Die Debattenrundschau

Nicht die allergeringste Bohne

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
26.04.2018. Der bayerische Kruzifixbeschluss löst erstaunlich wenig säkulare Empörung aus. Der Bund für Geistesfreiheit München kündigt immerhin Widerstand an. Die taz macht auf das Netzwerk "Agenda Europe"aufmerksam, das der katholischen Kirche nahesteht und seine Ansichten über Abtreibung und Homoehe in Ländern wie Kroatien oder Slowenien bereits durchsetzen konnte. Die Zeit bringt zwei Seiten über das kommende Humboldt-Forum, dessen Hierarchie-Struktur aber schwer zu verstehen ist. In Frankreich wird weiter über den "neuen Antisemitismus" gestritten.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 26.04.2018 finden Sie hier

Religion

Der Kruzifixbeschluss des bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder ist schamlos, unchristlich und dient allein der Ausgrenzung, so weit sind sich die Zeitungen einig. Söder hat verfügt, das Kreuz müsse künftig im Eingang aller bayerischer Amtsstuben hängen - allerdings nicht als religiöses Symbol, so Söder, sondern als kulturelles. Das ist "Ketzerei", wie Söder das Kreuz zum "religiösen Hirschgeweih" degradiert, meint dazu Heribert Prantl in der SZ.

Erst als mit der Europäischen Union eine wirklich säkulare Institution für die Friedenssicherung in Europa zuständig wurde, begannen die 70 Jahre Frieden, den die christliche Religion ihren Anhängern nicht schenken konnte, erinnert der ehemalige The European-Herausgeber Alexander Görlach im Tagesspiegel und fügt hinzu: "Religion spaltet mehr, als dass sie eint. Unsere freiheitliche Rechtsordnung betrachtet den Menschen als Gegenstand des Rechts, ungeachtet seiner Herkunft, Religion und anderer Merkmale. Das sollten Konservative, die sehr häufig glühende Europäer sind, zu Markte tragen und nicht das Kreuz zur Schau stellen. So verhelfen sie dem Narrativ eines starken, freien Europas zu neuer Blüte. Das ist es, was an Europa überall in der Welt bewundert wird, seine Friedensordnung und sein Wohlstand. Nicht seine Religion."

Im Bekenntnis zu Land, Religion und Ideen ziehen die Deutschen immer den Schwanz ein, klagt indes Katholikin Birgit Kelle in der Welt enttäuscht darüber, dass die Religion nun doch nicht zurück ist. Sie sieht das Problem Europas nicht in einer "stetigen Islamisierung", sondern vielmehr in einer "grassierenden Entchristlichung".

Der Beschluss zeigt auch die unklaren Verhältnisses von Staat und Kirche in Deutschland, schreibt Christian Rath in der taz. Zwar hatte das Bundesverfassungsgericht 1995 gegen das Kreuz in bayerischen Klassenzimmern entschieden - aber der Beschluss hatte kaum Folgen. Die Kreuze hängen da immer noch und werden nur abgehängt, wenn sich Eltern beschweren. "Wenn nun im Eingangsbereich von bayerischen Landesbehörden Kreuze aufgehängt werden, ist eine Widerspruchslösung weder vorgesehen noch praktikabel, schließlich wird eine Eingangshalle meist nur kurz passiert. Für die bayerische Regierung ist eine Widerspruchslösung aber auch nicht notwendig, da das Kreuz hier ja kein Glaubenssymbol sei, sondern nur ein 'Bekenntnis zu den Grundwerten der Rechts- und Gesellschaftsordnung'." Im Namen des christlichen Abendlands spricht man in Bayern zur Not sogar dem Kreuz seinen religiöse Symbolik ab.

Und der Bayerische "Bund für Geistesfreiheit München" kommentiert laut hpd.de: "Der neue Ministerpräsident schlägt gleich die richtigen Nägel ein und will eine 'Staatsreligion' wieder fest verankern, obwohl in der Verfassung (Art 142, 1) zu lesen ist, dass keine Staatskirche besteht. So ganz sicher ist er sich seiner Sache wohl nicht, denn er hat sich im Vorfeld rechtlich abgesichert und den 'neutralen' Eingangsbereich der Dienstgebäude für seine Kampagne gewählt, um den zu erwartenden Klagen den Wind aus den Segeln zu nehmen."

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Europa

Patricia Hecht stellt in der taz einen Bericht des "Europäischen Parlamentarischen Forums für Bevölkerung und Entwicklung" (EPF) vor, der die Aktivitäten des ultrakonservativen Netzwerks "Agenda Europe" untersucht. Es handelt sich um eine Einflussorganisation, die der katholischen Kirche nahe steht und die Verhütung, Abtreibung und Homoehe als Teufelszeug betrachtet: "Das Beunruhigende: Neben dem schnellen und professionellen Aufbau des europaweiten Lobby-Netzwerks und mehr als einem Dutzend politischer Initiativen in den einzelnen Ländern erzielte die Bewegung bereits konkrete politische Erfolge - vor allem in Ländern, in denen der Kampf um Antidiskriminierungsrechte noch eher am Anfang steht. So trieb die kroatische Mitgliedsorganisation 'Im Namen der Familie' das Referendum zur traditionellen Ehe in Kroatien 2013 voran, Ehe gilt dort nun als Einheit von Mann und Frau. In Slowenien wurde 2015 ein Referendum zur Einführung der gleichgeschlechtlichen Ehe mithilfe des Netzwerks blockiert, schreibt EPF."

Auch in Frankreich wird heftig über den "neuen Antisemitismus" gestritten. Dem Soziologen Farid Laroussi stößt in Le Monde das "Manifest gegen den neuen Antisemitismus", das einige Intellektuelle vor ein paar Tagen im Parisien veröffentlichten (unser Resümee) sehr sauer auf: "Eine derartige intellektuelle Niedertracht ist nicht nur ungenau, sondern versteckt in Wahrheit die grassierende Ideologie der Islamophobie, die seit dreißig Jahren provoziert und die Nation zerreißt, indem sie die eine Gruppe gegen die andere ausspielt."

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Internet

Wie wichtig Facebook seine deutschen Nutzer und die deutsche Öffentlichkeit nimmt, zeigt sich an der der Übersetzung der neuen "Community Standards", die Sascha Lobo in seiner Spiegel-online-Kolumne inhaltlich ok, aber sprachlich katastrophal findet - so viele krasse Übersetzungsfehler findet er: "Sollte das wichtigste Dokument von Facebooks Reaktion auf die Krise automatisch per 'Bing Translate' übersetzt worden sein? Oder vom Sohn des Fliesenlegers von Mark Zuckerberg, der 1996 im College zwei Jahre Deutschunterricht hatte? Denn so wirkt es. Kann es wirklich sein, dass ein Digitalkonzern mit einem Jahresumsatz höher als die Unternehmenswerte von Lufthansa, RWE und Commerzbank zusammen sich nicht die allergeringste Bohne um die Korrektheit der Übersetzung seiner Community-Standards schert?"

Ebenfalls in Spiegel online die Meldung, dass Facebook sein Krisenquartal mit einem Rekordgewinn überstanden hat.
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Kulturpolitik

Die Zeit bringt im Feuilleton zwei Seiten zum Humboldt Forum und hat dafür auch Hermann Parzinger, Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, und Kulturstaatsministerin Monika Grütters interviewt. Parzinger scheitert bei dem Versuch, dem Leser die Konstruktion der künftigen Hierarchie zu erklären. Monika Grütters macht aus ihrer Unzufriedenheit über diesen "Amtshabitus", der alles verkompliziert und verlangsamt, kein Hehl: "Der Bund investiert immerhin jährlich 130 Millionen in diese Stiftung. Wir fragen uns: wie ist das mit den Besucherzahlen? Wie ist das Angebot an Ausstellungen? Wie gut sind Service und Besucherorientierung?"

In einem nebenstehenden Artikel ist Moritz Müller-Wirth nur mäßig begeistert vom designierten neuen Intendanten Hartmut Dorgerloh, der zudem nur Zugriff auf die Sonderausstellungen habe. Wie soll das Forum da als ganzes funktionieren? Dennoch hofft er auf noch eine neue zusätzliche Ebene, die die schärfste Kritikerin des Humboldt Forums besetzen soll: Benedicte Savoy, die, wenn es nach Grütters geht, für den "Umgang mit Kulturgütern aus kolonialem Kontext" zuständig sein soll. Sollte Grütters es wirklich gelingen, Savoy "'an zentraler Stelle' einzubinden, an einer Stelle also, die zwingend inhaltlichen Zugriff auf alle bespielbaren Flächen haben müsste, dann hätte sie den strukturellen Lapsus der Forums-Struktur mutig korrigiert".

Und in einem dritten Zeit-Artikel plädiert Viola König, ehemalige Leiterin des ethnologischen Museums in Berlin, dafür, peu a peu "den gesamten Bestand zurückzugeben", womit sie auf einer Linie mit Savoy liegt. (615 Millionen Euro wird das Forum mindestens kosten, dazu kommt ein Etat von jährlich 60 Millionen Euro für den Betrieb. Da fragt man sich schon, ob eine gute Internetadresse nicht ausgereicht hätte, das Material für die Rückgabe vorzuführen.)
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Gesellschaft

Alles schreit nach Identität, schreibt Thomas Steinfeld in der SZ und stellt fest, dass sich Linke und Rechte in ihrer reaktionären Suche nach Volkszugehörigkeit ziemlich nahe stehen: "Die Entscheidung, das dunkelhäutige Kind einer Immigrantenfamilie zur Kulturministerin zu machen, weil es das dunkelhäutige Kind einer Immigrantenfamilie ist, (zeugt) weniger von Toleranz und Weltläufigkeit als von einer Wiederkehr der Rassenlehre unter neuen, möglicherweise umgekehrten Voraussetzungen. Jede und jeder ist dann, gerade weil sie oder er sich gegen die 'Norm' (weiß, männlich, alt) emanzipieren soll, erst recht auf die ethnische Herkunft, auf das Geschlecht und auf das Alter verwiesen. Weltoffenheit, Bildung, Aufklärung hatten bedeutet, jeden Menschen zu achten, unabhängig von seiner Hautfarbe, seinem Geschlecht, seinem Glauben oder seinem Atheismus." (Leider klappt das nur so selten.)
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Medien

Die von Reporter ohne Grenzen vorgelegte Rangliste der Pressefreiheit 2018 zeigt: JournalistInnen in Europa sind zunehmend medienfeindlicher Hetze ausgesetzt. Angesichts von mehr als 150 in Europa seit 1992 ermordeten Journalisten, jüngst etwa Daphne Caruana Galizia und Jan Kuciak, und allein 220 inhaftierten Journalisten im Jahr 2017, fordert die Menschenrechtskommissarin des Europarats, Dunja Mijatović in der SZ die Mitgliedsstaaten des Europarats auf, die Gesetzgebung zum Schutz von Journalisten zu ändern: "Die Parlamente müssen Gesetze verabschieden, die Journalisten schützen und sie vor unzulässigem Druck bewahren. Beleidigung und Verleumdung sollten als Straftatbestände abgeschafft und nur mit verhältnismäßigen zivilrechtlichen Sanktionen belegt werden können. Und das Recht sollte Strafen für jene vorsehen, die Beleidigungsklagen missbrauchen, um Journalisten zum Schweigen zu bringen. Darüber hinaus müssen es Gesetze, die sich mit Desinformation, Terrorismus oder Sicherheitsfragen befassen, vermeiden, die Freiheiten und die Sicherheit von Journalisten einzuschränken."
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