9punkt - Die Debattenrundschau

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Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
25.04.2018. Die Bayern behaupten, das Kreuz sei kein christliches Symbol und dürfe darum in bayerischen Ämtern hängen. Die Welt wertet das als Zwangssäkularisierung des Kreuzes. Ebenfalls in der Welt ahnt Necla Kelek, warum auch die Islamfunktionäre weiter gut bedient werden: Es könnten sonst die überholten Privilegien der Kirchen in Frage gestellt werden. Politico.eu erklärt, warum Facebook im Kampf um Abtreibungsrechte in Irland keine Rolle spielt: Er wird in den alten Medien geführt. Netzpolitik stellt ein neues Bündnis gegen EU-Leistungsschutzrechte für Presseverlage vor. Wir erleben eine Krise der Erinnerungskultur, fürchtet der Zeithistoriker Martin Sabrow im Tagesspiegel.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 25.04.2018 finden Sie hier

Religion

Mit einer populistischen Geste ersten Ranges hat CSU-Chef Markus Söder verfügt, dass bayerische Dienstgebäude ab 1. Juni mit einem Kreuz ausgestattet werden, berichtet süddeutsche.de. Das Neutralitätsgebot missachte das nicht, so Söder in seiner Begründung: "Ausdrücklichen Symbolwert haben sollen die Kreuze, die künftig in allen Behörden der bayerischen Staatsverwaltung im Eingangsbereich hängen werden. Söder beteuerte, diese sollten kein religiöses Symbol des Christentums sein, sondern ein 'Bekenntnis zur Identität' und zur 'kulturellen Prägung' Bayerns. 'Das Kreuz ist nicht ein Zeichen einer Religion', sagte er. 'Das ist kein Verstoß gegen das Neutralitätsgebot.'"

In der Welt findet Lucas Wiegelmann die Entscheidung gut, weil sie der "pseudo-neutralen Religionsfeindlichkeit" im Land entgegentrete, durch die Begründung aber entwertet: "Der Verdacht drängt sich auf, statt eines Bekenntnisses zu mehr Christentum in Deutschland samt entsprechenden Konsequenzen (Nächstenliebe, Toleranz, auch offene Spiritualität und Frömmigkeit) solle hier lediglich ein beliebiges Zeichen der Selbstvergewisserung und potenziellen Abgrenzung von anderen Kulturen gesetzt werden: ein Bayern- und Deutschlandlogo. Das wäre kein Gewinn an Christentum, sondern eine Zweckentfremdung und Zwangssäkularisierung seines wichtigsten Symbols."

Das Bundesverfassungssgericht hatte bezüglich von Kreuzen in bayerischen Klassenzimmern allerdings schon mal ganz anders entschieden - hier der Link zum Urteil von 1995, der auf Twitter kursiert: "Die Anbringung eines Kreuzes oder Kruzifixes in den Unterrichtsräumen einer staatlichen Pflichtschule, die keine Bekenntnisschule ist, verstößt gegen Art. 4 Abs. 1 GG." (Der EuGH hat das allerdings später wieder für zulässig erklärt, vorausgesetzt, andere Religionen würden nicht diskriminiert und dürften ihre Symbole auch zeigen, mehr hier. Willkommen Kopftuch in deutschen Amtsräumen!)

Und für die NZZ will der Physiker Hans Widmer Wissenschaft und Glaube versöhnen. Denn auch wenn der Mensch noch so viel wisse, habe er grundsätzlich ein Bedürfnis nach Transzendenz. Um dieses zu befriedigen, rät Widmer zu einer flexiblen Religiosität, die wissenschaftliche Erkenntnisse nicht leugnet: "Nur muss sich der Gläubige mit der Quintessenz von allem Glauben bescheiden, nämlich im Gebot der Liebe zu handeln und sich in der Gnade Gottes aufgehoben zu fühlen. Verzichtet er darauf, 'unbefleckte Empfängnis', 'leibliche Himmelfahrt' und dergleichen wörtlich zu nehmen, tritt er weder mit unabweisbaren wissenschaftlichen Erkenntnissen noch mit Andersgläubigen in Konflikt."
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Gesellschaft

Wenig Hoffnung macht sich Necla Kelek in der Welt, dass Angela Merkel eine klarere Integrationspolitik führt. Eher fürchtet sie, dass Merkel in einer vierten "Islamkonferenz" den "Islamfunktionären geben wird, was sie verlangen". "Konfliktvermeidung durch Zugeständnisse ist die Richtlinie wieder mal dieser Politik. Auch wird wohl zukünftig befürchtet, dass die überholten Privilegien der Kirchen verfassungsrechtlich infrage stehen, wenn die Islamverbände nicht gleich behandelt werden."

Regina Mönch ist in der FAZ immer noch überzeugt, dass beim Thema muslimischer Antisemitismus an Berliner Schulen zu viel beschwichtigt wird: "Während offiziell immer noch so getan wird, als habe man die Lage im Griff, empfinden viele, nicht nur die jüdischen Gemeinden, dass es spürbar schlimmer wird. Soll man denen zurufen: Falsch erlebt, denn laut Statistik gibt es so gut wie keinen muslimischen Antisemitismus, der sich rabiat und gewalttätig äußert? Jüdische Familien, auch wenn sie nicht religiös leben, melden ihre Kinder jedenfalls immer öfter in einer der wenigen jüdischen Schulen an, weil sie in staatlichen um ihre Sicherheit fürchten."
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Europa

Die britische Historikerin Alex von Tunzelmann erklärt den Lesern der New York Times den britischen "Windrush-Skandal" - die schlechte Behandlung von Immiranten aus der Karibik in Großbritannien, die als Briten seit 1958 als Arbeitskräfte auf die Insel gekommen waren, aber von den Behörden des Landes oft abgewiesen wurden, wenn sie nicht alle Papiere beibringen konten. Der Skandal flammte in just dem Moment auf, in dem Britannien seinen Commonwealth wiederbeleben will, um die Folgen des Brexit abzumildern: "Der Windrush-Skandal offenbart die komplexe Realität von Britanniens Beziehung zu seinen früheren Kolonien. Jene, die heute das Commonwealth preisen, sollten sich zunächst mit seiner Vergangenheit auseinandersetzen, bevor sie allzuviele Hoffnungen in seine Zukunft setzen."

Facebook versucht, im Wahlkampf um das irische Abtreibungsreferendum neue Transparenzmaßnahmen einzuführen, schreiben Sarah Wheaton and Mark Scott bei politico.eu. Aber die Betreiber der "Save the 8th"-Kampagne gegen das Recht auf Abtreibung sind sowieso nicht interessiert: "Der nach wie vor hohe Konsum traditioneller Medien, die Abhängigkeit von Wählern ohne Tech-Affinität und der mangelnde Erfolg beim Micro-Targeting in Facebook in so einem kleinen Land könnten die schlimmsten Gefahren digitaler Manipulation und Online-Lügen, die bei Wahlen in anderen Ländern zur Norm geworden sind, fernhalten."
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Geschichte

Wir erleben eine Krise der Erinnerungskultur, meint der Zeithistoriker Martin Sabrow im Tagesspiegel. Und mit der AfD habe das am wenigsten zu tun: "Die Würde des Erinnerungsbegriffs hat sich abgenutzt, die Kommerzialisierung und Banalisierung der Auseinandersetzung mit historischen Lasten zeigt sich allenthalben. KZ-Souvenirs und Auschwitz-Selfies sind bekannte Phänomene geworden. Das Holocaust-Mahnmal in Berlin ist eine Touristenattraktion, die für Erschütterung und Entspannung gleichermaßen zur Verfügung steht. Die Auseinandersetzung mit dem nationalsozialistischen Zivilisationsbruch hat es zu einer Ästhetik des Grauens gebracht, die die Filmmusik von 'Schindlers Liste' bei den Olympischen Winterspielen in Südkorea zur Choreografie deutscher Eiskunstlauf-Olympioniken erklingen lässt. Der Schrecken ist vom Stigma zum Standortfaktor geworden."

Der Politologe Wolfgang Kraushaar liest für den Aufmacher des SZ-Feuilletons kritisch die Bücher zu 1968 von Heinz Bude, Gretchen Dutschke und Christina von Hodenberg, deren Hauptthesen er nicht teilt. Sein Resümee: "Selbst ein halbes Jahrhundert nach 1968 gibt es immer noch keine Möglichkeit, die damalige Rebellion auf einen Nenner zu bringen. Jeder Versuch, für sie eine monokausale Deutung oder gar Erklärung anzubieten, dürfte ihrer Vielschichtigkeit wegen zum Scheitern verurteilt sein. ... Diese Bewegung war aber in ihrem Kern auch etwas völlig Neuartiges. Ihre Akteure wollten ja nicht einfach wie noch die Arbeiter- oder Gewerkschafts-, die Friedens- oder Ostermarschbewegung durch ihren Protest Interessen verfolgen und bestimmte Ziele erreichen. Nein, sie wollten sich dabei auch selbst entwickeln, verändern, manche sogar 'befreien'. Es ging 1968 zugleich auch immer um die Bewegten selbst, um ihre Bedürfnisse, ihre Wünsche, ihre Träume - in einem emphatischen Sinne um Subjektivität."

In der NZZ erzählt Wei Zhang, wie geschickt der Amateurhistoriker Fan Jianchuan mit seinem "Jianchuan-Museumscluster" im chinesischen Chengdu die offizielle Geschichtsschreibung korrigiert. So stelle er in einer Halle zur Vertreibung der japanischen Invasoren (1937-1945) nicht nur den Anteil der kommunistischen Soldaten aus, sondern auch den der nationalistischen Kuomintang-Armee: "Fan Jianchuans verdienstvoller Vorstoß in historische Tabuzonen befriedigt nicht zuletzt die Bedürfnisse des chinesischen Publikums nach dem Kitzel des tendenziell Verbotenen. Die klug ausbalancierte Aufmerksamkeit kompensiert zumindest ansatzweise klaffende Lücken in der verordneten historischen Erinnerung, vermeidet aber gleichzeitig die offene Konfrontation mit dem Wahrheitsmonopol der Partei. Der Erfolg von Fan Jianchuans Großmuseum scheint auch der Partei eingeleuchtet zu haben, er wurde bereits beauftragt, in Chongqing ein staatliches Museum aufzubauen."
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Medien

(Via turi2) Eine Gruppe von fünf Bundesländern, teils CDU-, teils SPD-geführt, denkt darüber nach, die Beauftragung der öffentlich-rechtlichen Sender neu zu formulieren, berichtet Volker Nünning bei der Medienkorrespondenz. Dabei scheint es darum zu gehen, den Sendern entgegenzukommen - ARD und ZDF wollen bekanntlich nicht mehr sparen, und auch ihre Programme nicht einschränken. Die Sender sollen nach dem Reformvorschlag mehr Freiheit bgekommen, auch ins Internet zu expandieren (indem man ihnen erlaubt, die Gelder freier auszugeben), und "ein den Sendern zugewiesenes Finanzbudget könnte außerdem indexiert werden, also beispielsweise in Höhe der jährlichen Inflationsrate ansteigen, sofern die KEF einen solchen Teuerungsausgleich für gerechtfertigt hielte. Gäbe es dafür grünes Licht, würde bei einer solchen Variante in der Folge der Rundfunkbeitrag entsprechend angehoben."

Ein Bündnis von GOs, Bibliotheken und Medien (darunter der Perlentaucher) wendet sich in einem offenen Brief gegen EU-Leistungsschutzrechte für Presseverlage, berichtet Thomas Rudl in Netzpolitik. Zwei der Argumente:
"- Sie verlagern übliche Kommunikationsformen, die für ein funktionierendes Internet grundlegend sind, wie Verlinken und Teilen, in einen rechtlichen Graubereich.
- Sie führen nicht zu neuen Einnahmequellen für Verlage oder Nachrichtenagenturen und schon gar nicht für Journalisten."

Rudl erläutert den Vorschlag des EU-Parlamentsabgeordneten Axel Voss (CDU): "Selbst das einfache Setzen eines Hyperlinks könnte künftig nicht mehr ohne Weiteres möglich sein, denn URLs enthalten oft Informationen wie den Titel des Artikels. Und da der Gesetzentwurf selbst sehr kleine Ausschnitte kreativer Leistungen schützen soll und das gleich rückwirkend für zwanzig Jahre, könnte das Vorhaben weitreichende Konsequenzen haben - beispielsweise für Blogs, die nicht mehr rechtssicher auf andere Seiten verlinken oder Zitate aus anderen Quellen verwenden könnten."

Die EU will keine Gesetze gegen Fake News erlassen, berichtet Thomas Kirchner auf süddeutsche.de, sondern die Nutzer lieber mit "weichen" Maßnahmen widerstandsfähiger gegen Lügen machen. Das mag auch an zwei neuen Studien liegen: "'Falschnachrichten haben eine geringere Verbreitung als allgemein angenommen', heißt es in einer Studie der Uni Oxford, die auf Analysen französischer und italienischer Online-Inhalte basiert. Zum selben Schluss kommt ein Forschungsbericht der London School of Economics. Demnach werden Nutzer sozialer Medien in erstaunlich hohem Maße mit abweichenden politischen Meinungen konfrontiert - die empirische Forschung scheint also die These von der schädlichen Filterbubble nicht zu stützen."
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