9punkt - Die Debattenrundschau

Etliche Erben wider Willen

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
23.04.2018. Der Parisien publiziert einen Auszug aus einem Manifest gegen den "neuen Antisemitismus", das diese Woche in Frankreich erscheint. Der Tagesspiegel staunt: Woher kommen all die Lobeshymen der ausländischen Presse auf Berlin, während die Berliner es besser wissen? In der NZZ benennt Pascal Bruckner zwei missliche Folgeerscheinungen von 1968, den linken Meckerfritzen und den rechten Moralisten, der nebenbei den Komfort der Befreiung genießt.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 23.04.2018 finden Sie hier

Gesellschaft

Lorenz Maroldt versucht im Tagesspiegel den unterschiedlichen Wahrnehmungen Berlins auf den Grund zu gehen: Während im Ausland Lobeshymnen auf Berlin angestimmt werden, leiden die Berliner zunehmend unter hohen Mieten, monatelangen S-Bahn-Ausfällen und einer unfähigen Verwaltung. Jeremy Cliffe, seit zwei Jahren Büroleiter des Economist in Berlin, findet es "'nicht schlimm, wenn Berlin vorankommt, modernisiert wird, weiter wächst. Aber kann die Stadt das erreichen, ohne ihren alternativen Lifestyle zu verlieren? Normal werden, ohne zu normal zu werden. Das sollte das Ziel sein.' Berlin dürfe nie wie London werden, Opfer seines eigenen Erfolges, für viele nicht mehr bewohnbar. ... Dabei ist der neue Hype, der diesmal weniger künstlerisch, mehr wirtschaftlich getragen ist, nicht aus dem jetzigen Zustand der Stadt begründet, sondern aus der Erwartung, was aus ihr wird. Die einen sehen das Risiko ihrer Verdrängung und empfinden die Unzulänglichkeiten deshalb umso belastender, die anderen sehen die Chancen - und über die Unzulänglichkeiten eher hinweg."
Archiv: Gesellschaft
Stichwörter: Berlin

Europa

Der Parisien publiziert Auszüge aus einem "Manifest gegen den neuen Antisemitismus" in Frankreich, das von 250 Intellektuellen und Politikern unterzeichnet wurde und in dieser Woche bei Albin Michel erscheint. Elf Juden wurden in den letzten Jahren in Frankreich umgebracht, nur weil sie Juden waren, heißt es in dem Manifest. "Und doch verdeckt der Vorwurf der 'Islamophobie' - der nicht mit dem zu bekämpfenden antiarabischen Rassismus zu verwechseln ist - die Zahlen des Innenministeriums: Französische Juden haben ein 25mal höheres Risiko angegriffen zu werden als ihre muslimischen Mitbürger. Zehn Prozent der jüdischen Bürger in der Ile de France, das heißt ungefähr 50.000 Personen, sahen sich in den letzten Jahren gezwungen umzuziehen, weil sie in gewissen Bezirken nicht mehr sicher waren und ihre Kinder die Schulen der Republik nicht mehr besuchen konnten."

Lanciert wurde das Manifest unter anderem von Philippe Val (vom Charlie Hebdo), Pascal Bruckner und Boualem Sansal - unterzeichnet unter anderem von Charles Aznavour und Carla Bruni.

Warum hat die russische Bevölkerung so wenig Sympathie für die Opfer der kriegerischen Konflikte in Syrien oder im Südosten der Ukraine, fragt sich Elena Chizhova in der NZZ. Propaganda, natürlich. Aber die ganze Antwort sei das nicht: "Fragt man den durchschnittlichen russischen Fernsehzuschauer, ob er begreife, dass etwa in Syrien friedliche Menschen sterben, die sich wenig von ihm selbst unterscheiden, von seinen Kindern und Eltern, wird er - davon bin ich überzeugt - antworten, ja, natürlich begreife er das, aber . . . Genau hier, bei diesen drei Punkten, verläuft die ethische Grenze, die den postsowjetischen Menschen von der westlichen - wenn man so will, der jüdisch-christlichen - Welt trennt. Ein von der russischen Propaganda benebelter Mensch ist nicht amoralisch: Er hat eine andere Moral."
Archiv: Europa

Internet

Mit Papierfliegern, die sie zu einem festgelegten Zeitpunkt aus den Fenstern warfen, protestierten Russen letzte Woche gegen die Abschaltung des beliebten - weil gegen Ausspionierung abgesicherten - Messenger-Dienstes telegram.org, berichtet Ingrid Lunden bei Techcrunch: "Der Papierflieger-Start war eine kleine Flashmob-Wendung in einem 'digitalen Widerstand', der sonst vor allem online ausgetragen wird. Im Moment sind aber 18 Millionen IP-Adressen in Russland unerreichbar, nur um Telegram zu blockieren. Und in der jüngsten hat Google uns mitgeteilt, dass auch seine Dienste betroffen sind. So weit wir hören, sind Google-Suche, Gmail und Push-Mitteilungen für Android betroffen."

Der Vorwurf stand schon seit der Befragung Mark Zuckerbergs im Raum: Facebook hat in Entwicklungsländern oft noch fatalere Wirkungen als in der westlichen Öffentlichkeit. Amanda Taub und Max Fisher haben für die New York Times in Sri Lanka recherchiert, wo Ausschreitungen von Buddhisten gegen Muslime über Facebook angestachelt und organisiert wurden: "Basierend auf Interviews mit Behördensprechern, Opfern und gewöhnlichen Nutzern in ihrer Online-Wut, hat die Rekonstruktion der Ereignisse ergeben, dass der Newsfeed von Facebook eine zentrale Rolle bei fast jedem Schritt spielte, vom Gerücht bis zum Mord. Facebook-Offizielle, so heißt es, haben wiederholte Warnungen vor dem Gewaltpotenzial ignoriert und widersetzten sich der Forderung, Moderatoren anzuheuern und Kontaktstellen für Notfälle einzurichten."

Michael Homberg besucht für die NZZ eine Kirche in San Francisco, die heute als riesiger Datenspeicher für das Internet Archive dient: "Die Wayback Machine ist das Herzstück dieses Archivs. Sie erlaubt dem Nutzer eine Zeitreise, einen Blick zurück in die Frühphase des Internets. Heute sind rund 310 Milliarden Seiten archiviert, eine Milliarde kommt wöchentlich hinzu. Darüber hinaus bietet das Archiv mittlerweile Sammlungen von Texten, Magazinen und Büchern, Audiodateien, Videos, Bildern und Software. Über tausend Bücher werden täglich in zwanzig Zentren auf vier Kontinenten digitalisiert."
Archiv: Internet

Medien

"Die Dämonen des Totalitarismus sind zurück, mit all ihrer Verachtung für Pluralismus, Rechtsstaat, Gleichheit, Dialog und Kompromissbereitschaft. Die Geringschätzung für den anderen, für Menschen mit anderer Religion, Nationalität oder Hautfarbe ist zurückgekehrt", warnt Adam Michnik und singt in der Welt ein Hohelied auf die freie Presse, die diese Missstände benennt.
Archiv: Medien

Kulturmarkt

Paul Jandl hat für die NZZ die Argumentation der Verleger zu dem drohenden Einbruch der Bücherverkäufe (ein Verlust von 3,4 Prozent des Umsatzes mit Belletristikbüchern wird jährlich bis 2020 prognostiziert) durchleuchtet. Wenn sie die Fiktionsliebe der potenziellen jungen Leser beschwören, die sich an den hohen Zuschauerzahlen komplexer Serien beweisen lasse, sollten sie aber weniger die Schuld bei den Deutschlehrern suchen, die den Schülern angeblich die Lesefreude vergällen, so Jandl. Schließlich werden "'Stranger Things'-erfahrene Vierzehnjährige in der Schule vom Lehrplan gezwungen, Droste-Hülshoffs 'Judenbuche' zu lesen. Zwischen den medialen Welten ist da tatsächlich nicht leicht zu vermitteln. Was, wenn die Spirale, in der der Buchmarkt ist, eine Art Bereinigung ist? Ein Wahrheitstest der Medienkonkurrenz, nach dem alles anders ist, nur die eine Wahrheit nicht: Bücher sind für Leser. Und Leser sind für Bücher."
Archiv: Kulturmarkt

Geschichte

Die NZZ hat die restlichen Artikel aus ihrem 68-Dossier vom Wochenende online gestellt. Eigentlich waren die vielbeschworenen Maitage von 1968 doch nicht viel mehr als "Kostüm-Furor" und rhetorische Allüren "verwöhnter Lausekinder", meint Pascal Bruckner. Er beschreibt die Revolution eher als Vereinnahmung und vielleicht noch Beschleunigung gesellschaftlicher Umschwünge, die sich gerade sowieso vollzogen. Neben narzisstischen Jugendlichen und viel zu laxem Schulunterricht verdanke die Gesellschaft den Babyboomern vor allem zwei enervierende politische Typen: "Einmal den Meckerfritzen zur Linken: Enttäuscht darüber, dass weder die Arbeiter noch die südlichen Länder etwas von seiner Revolution wissen wollen, verweigert er sich heute vielfach der Realität. Und dann die rechten Moralisten. Sie verdammen die Laxheit von 1968 - machen aber regen Gebrauch von den damals eingesetzten Freiheiten, lassen sich etwa mehrfach scheiden und wählen ihre sexuelle Orientierung nach Belieben. So spielt uns der Mai 68 zuletzt einen schönen Streich: Er hinterlässt uns etliche Erben wider Willen."

Skeptisch ist auch der amerikanische Historiker Andrew Preston, der über die Proteste gegen den Vietnamkrieg schreibt: Ihren größten Verdienst hatte die Bewegung, als sie die Napalmangriffe und die vorsätzliche Bombardierung vietnamesischer Städte öffentlich und den Krieg damit unmöglich machte. A la longue führte dies jedoch dazu, dass die Militärs Kriegsstrategien entwickelten - mit unbemannten Drohnen, präzisionsgesteuerten Raketen oder Tarnkappenbombern - die den Krieg fast unsichtbar machen: "Anstatt alle Kriege zu beenden, hat sie das Pentagon veranlasst, eine neue Art der Kriegsführung zu erfinden. Das Resultat davon ist unsere Ära des 'ewigen Krieges', geführt gegen Feinde, die dauernd wechseln und sich bewegen. Dieser 'Krieg gegen den Terror' ist genauso fruchtlos wie der Krieg in Vietnam."
Archiv: Geschichte