9punkt - Die Debattenrundschau

Ungehinderte Geld- und Ideologieströme

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
17.02.2018. Deniz Yücel ist frei - aber das zeigt auch noch einmal, wie unfrei die türkische Justiz ist, sagt Can Dündar in Zeit online.  "Atemberaubend" nennt die New York Times nach einer FBI-Anklage das Ausmaß und die Raffinesse russischer Einflussnahme im amerikanischen Wahkampf. Wieviel Chancen gibt es auf eine muslimische Demokratie, nachdem selbst Indonesien im schwarzen Loch des Islamismus verschwindet, fragt Marco Stahlhut in der FAZ. Die Basler Zeitung erkundet antisemitische Tendenzen in der Labour-Partei. Und Sibylle Lewitscharoff sagt in der NZZ, auch wenn sie an Jacob Taubes denkt, nicht #MeToo.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 17.02.2018 finden Sie hier

Religion

Marco Stahlhut verfolgt in Indonesien, wie eines der wenigen Länder, die als muslimische Demokratie galten, zusehends im schwarzen Loch des Islamismus verschwindet: Nun werden außereheliche sexuelle Beziehungen - natürlich vor allem homosexuelle - unter Strafe gestellt. Nach einer tour d'horizon durch andere muslimische Länder zieht er im Feuilletonaufmacher der FAZ eine bittere Bilanz: "Statt das Spiel weiterzuspielen, muslimische Länder als 'moderat' zu bezeichnen, die tatsächlich nur weniger menschenfeindlich als Iran und Saudi-Arabien sind, ist es an der Zeit, der Realität ins Auge zu sehen. Nach Jahrzehnten ungehinderter Geld- und Ideologieströme aus den ebenso reichen wie reaktionären arabischen Golf-Staaten wird der Islam nun weltweit von Auslegungen dominiert, die auf andere Religionen verächtlich herabsehen, Frauen als Wesen zweiter Klasse betrachten und gegenüber Juden und Homosexuellen eine Haltung einnehmen, die von ausgesprochen intolerant bis eliminatorisch reicht."
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Politik

Dass als Amerikaner getarnte Russen durch gefälschte Facebook-Profile versuchten, die amerikanischen Wahlen zu beeinflussen, war bekannt. Aber das Ausmaß und die Raffinesse der Aktionen, die jetzt nach Veröffentlichung von Robert Muellers FBI-Bericht zur Anklage gegen 13 Russen herauskommt, ist "atemberaubend", schreibt der Editorial Staff der New York Times im heutigen Leitartikel. "Sie schufen Hunderte von Social-Media-Konten auf Youtube, Facebook, Twitter, Instagram und anderen Seiten, um Menschen bei Themen wie Immigration, Religion und Black Lives Matter in Rage zu bringen und zu verwirren - manche dieser Konten hatten Hunderttausende Follower." Und so geht es weiter. Sie agierten in Swing-Staaten, warfen Demokraten Wahlbetrug vor. Trump und sein Umfeld behaupten, sie hätten nichts gewusst. Dazu die Times: "Vergessen Sie nicht, dass Mueller bereits zwei Schuldbekenntnisse von Trumps ehemaligen Sicherheitsberater und einem Wahlkampfberater über ihre Beziehungen zu russischen Regierungsstellen erhalten hat."
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Gesellschaft

Emel Zeynelabidin, die sich als fromme Muslimin versteht, aber auch sehr genau begründen kann, warum es für sie eine Befreiung war, das Kopftuch abzulegen, versteht in der taz die "Toleranz" der Linken und Grünen in Berlin nicht, die das Neutralitätsgesetz der Stadt abschaffen wolle. "Schlimm finde ich auch, dass schon junge muslimische Mädchen ein Kopftuch tragen. Ihre eigene Entscheidung? Keineswegs. Diese Bekleidungsregel kontrolliert die natürliche Neugierde aufs Leben, die Experimentierfreude und die Möglichkeit, man selbst werden zu können. Dabei ist die Gefahr der Selbstentfremdung durch die Unterdrückung von natürlichen Bedürfnissen sehr groß. Der Schulleiter eines privaten katholischen Gymnasiums sollte das bedenken, genau wie auch unsere Politiker, wenn sie meinen, dass eine Lehrerin mit Kopftuch auch als Vorbild dienen kann."

Die #MeToo-Bewegung sei eine Erfindung afroamerikanischer Feministinnen, schreibt die in Düsseldorf lehrende Amerikanistin Susan Winnett in der taz: "Die Afroamerikanerin Tarana Burke hat 'Me Too' schon 2007 ins Leben gerufen, um jungen Überlebenden von sexueller Gewalt einen Raum zu gewährleisten, wo ihren Geschichten Glauben geschenkt wird. Durch Empathie sollten sich gerade arme 'braune und schwarze' Frauen, die die häufigsten und wehrlosesten Opfer sexueller Belästigung sind, des Lebens wieder ermächtigen, die Glaubwürdigkeit wiedererlangen." Auf die Gewaltverhältnisse in der afroamerikanischen Community geht Winnett allerdings kaum ein.

Deutlich gegen Political Correctness spricht sich Sibylle Lewitscharoff in einem kleinen Porträt aus, das Thomas Ribi für die NZZ zeichnet: "Der Philosoph Jacob Taubes, eine der Ikonen der Berliner 68er Bewegung, habe mehrmals nach ihr gegrapscht, als sie ihn im Auto nach Hause gefahren habe. 'Aber was soll's?', fragt sie belustigt. 'Ein kleiner Klaps auf sein neugieriges Händchen. Das war's.' Böse sei sie ihm nie gewesen."
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Europa

Dass die Freilassung Deniz Yücels eine rein politische Entscheidung war, liegt auf der Hand, schreibt Jürgen Gottschlich in der taz. Der Prozess wird nun zwar wohl ohne den Journalisten eröffnet, der nach Deutschland ausreisen darf. Aber der Staatsanwalt fordert bis zu 18 Jahre Gefängnis. Und "dass die türkische Justiz nach wie vor die Auffassung der türkischen Regierung teilt, die alle kritischen Journalisten für Terrorpropagandisten hält, zeigt eine Entscheidung einer anderen Kammer vom selben Tag. Da wurden am Freitag in Istanbul der ehemalige Chefredakteur Ahmet Altan, sein Bruder Mehmet Altan, die Grande Dame der türkischen Publizistik Nazli Ilicak und die Journalisten Fevzi Yazıcı, Yakup Şimşek und Şükrü Özşengül zu jeweils 'erschwerter lebenslanger Haft' verurteilt." Deren Prozess greift auch Kareem Shaheen im Guardian auf.

So sehr die Freilassung Yücels zu feiern ist, so schlecht ist das Licht, das sie auf die türkische Justiz wirft, meint Can Dündar im Interview mit Carolin Ströbele bei Zeit online: Sie "markiert das Ende einer unabhängigen Rechtsprechung in der Türkei. Deniz Yücel hat ein Jahr lang auf eine offizielle Anklage gewartet und dann wird er von einem Tag auf den anderen entlassen. Der Sultan hat Deniz Yücels Verhaftung angeordnet und der Sultan hat beschlossen, dass er freigelassen wird."

Hansjörg Müller, London-Korrespondent der Basler Zeitung, schreibt eine sehr instruktive Reportage über Antisemitimus in der Labour-Partei und spricht unter anderem mit dem Labour-Abgeordneten John Mann, der als einer der wenigen diesen Antisemitismus dezidiert bekämpft: "Dieser komme vor allem von alten Linken, weniger von Muslimen. Pakistanis und Bengalen interessierten sich kaum für Palästina. 'Wenn Sie einen jungen britischen Muslim nach Israel fragen, gibt er vielleicht einen negativen Kommentar ab, aber die meisten haben bis dahin gar nie darüber nachgedacht.' Vor allem ältere Corbyn-Anhänger seien anfällig für antisemitisches Gedankengut: 'Das sind Leute in ihren Siebzigern und Achtzigern, die nostalgisch an ihre Studienzeit in den Sechzigern zurückdenken.'"

In der FAZ unterhalten sich Peter Schneider und Viktor Jerofejew über Russland vor den Wahlen. Und was Jerofejew über die Russen und Putins Konkurrenten sagt, klingt noch düsterer als man es erwartet hätte: "Unter den neueren Politikern wäre der Republikchef von Tschetschenien, Ramsan Kadyrow, gut im Rennen. Kadyrow ist der populärste Blogger in Russland, er erreicht Millionen. Kadyrow hält Europa für satanisch und Amerika für noch schlimmer. Ich glaube, Putin ist immer noch liberaler als der Großteil unserer Bevölkerung, obwohl die russischen Liberalen mich dafür umbringen würden."
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