9punkt - Die Debattenrundschau

Das Ganze in Frage zu stellen

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
03.02.2018. Tariq Ramadan ist wegen Vergewaltigungsvorwürfen in Untersuchungshaft. Die französische Vanity Fair bringt eine große Reportage zu den Vorwürfen.  In der NZZ denkt Pascal Bruckner über die Zwiespältigkeit des kolonialen Erbes nach. Könnten die Iraner abstimmen, würden siebzig Prozent gegen das Mullah-Regime votieren, schreibt der Politologe Ali Fathollah-Nejad in der taz. Ohne 68 keine Hartz-4-Reformen, meint Heinz Bude in der Welt. Und: Die Berliner Mauer ist genau so lange gefallen, wie sie einst stand!
Efeu - Die Kulturrundschau vom 03.02.2018 finden Sie hier

Gesellschaft

"Diese Affäre ist komplex und so heikel, dass gleich drei Untersuchungsrichter eingesetzt wurden, um sie zu untersuchen", schreibt Raphaëlle Bacqué in Le Monde in einer Meldung, die heute morgen um halb sieben zum letzten Mal aktualisiert wurde. Tariq Ramadan ist in Gewahrsam genommen worden und hat die Nacht in einer Gefängniszelle verbracht. Zwei Frauen hatten ihn bekanntlich im Rahmen der #MeToo-Debatten der Vergewaltigung bezichtigt. Mit einer der beiden Frauen ist er konfrontiert worden - er streitet alle Anschuldigungen ab. "Die Untersuchungsbeamten des zweiten Distrikts der Kriminalpolizei haben drei Monate lang akribisch recherchiert und nicht die kleinste Information ausgelassen, bevor sie sich entschlossen haben, den Schweizer Theologen ab dem 31. Januar vorzuladen." Ausschlaggebend für die Untersuchungshaft war laut Le Parisien, dass die Frau mit dem Pseudonym Christelle eine Narbe an Ramadans Körper identifizieren konnte

Marion van Renterghem geht den Vorwürfen in einer langen Reportage für die französische Ausgabe der Vanity Fair nach, für die sie ausführlich mit Christelle gesprochen hat. Die Details ihrer Anschuldigungen sind grausig. Die Szene spielt in einem Hotelzimmer nach ihrem Kennenlernen, dem lange Mailwechsel und Facebook-Dialoge vorausgingen. "Schläge ins Gesicht und auf den Körper, Vergewaltigung mit einem Gegenstand und verschiedene Demütigungen, bis er sie an den Haaren in die Badewanne zieht und auf sie uriniert, so wie sie es in der Anzeige beschreiben hat. Sie zeigt mir ein Foto von sich vor ihrem Treffen, wo sie rundlich und anziehend aussieht. Und eines danach. Kaum wiederzuerkennen. Ihr geschwollenes Gesicht scheint doppelt so groß."
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Geschichte

Am Montag ist die Berliner Mauer so viele Tage verschwunden, wie sie einst stand: 10.316 Tage. Die Berliner Zeitung bringt aus diesem Anlass eine Sonderausgabe, die "die Stärken von Print ausspielt", meldet turi2. Der Tagesspiegel präsentiert aus diesem Anlass einige Vorher-Nachher-Bilder.

Sabine Rennefanz erinnert sich in der Berliner Zeitung sehr persönlich: "In der Kommandantenstraße überquere ich die Mauer. Es klingt vielleicht albern, aber fast jedes Mal denke ich darüber nach, weil es für mich nicht selbstverständlich ist. Weil ich im Osten geboren wurde, in einer Zeit, in der die Mauer für viele normal war. Es ist jetzt nicht so, dass ich jedes Mal 'Wahnsinn' rufe, wie die Menschen 89, es ist eher ein stilles Staunen, ein Innehalten."

Ohne 68 keine Hartz 4-Reformen, meint Soziologe Heinz Bude im Gespräch mit Welt-Redakteur Marc Reichwein: "Gerhard Schröder bleibt die überragende Figur eines nachhaltigen Umbaus des deutschen Wohlfahrtsstaates, der im Nachhinein fast einer Revolution gleichkommt. Die Wucht seiner Reformen war radikal: Sie ging nur mit der 68ertypischen Haltung, das Ganze in Frage zu stellen."

Alexander Kluge präsentiert bei Zeit online ein Multimedia-Dossier zu Stalingrad mit vielen Dokumenten und Aussagen von Zeitzeugen - störend ist, dass jedes der eingebetteten Youtube-Videos mit einem Werbespot beginnt.
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Politik

Könnten die Iraner abstimmen, würden heute siebzig Prozent gegen die Islamische Republik stimmen, schreibt der Politologe Ali Fathollah-Nejad unter Bezug auf seinen Teheraner Kollegen Sadegh Zibakalam in der taz. Fathollah-Nejads historische Erklärung: "Die drei konstituierenden politischen Kulturen des modernen Iran - Nationalismus, Sozialismus und Islamismus - wurden zugunsten des Letzteren in den Untergrund getrieben. Der gesellschaftliche Pluralismus fand sich in einer ausschließlich islamistischen politischen Elite, aus der sowohl die heutigen Reformer als auch die Konservativen hervorgingen, nicht wieder. Stattdessen wurde ein kaum durchschaubarer Klüngel von Gruppierungen etabliert, die im politischen Tagesgeschäft um Pfründen, Macht und Einfluss konkurrieren. Sie schweißt ein De-facto-Klassenbewusstsein zusammen, die Erkenntnis, dass sie all das verlören, gäbe es die Islamische Republik nicht mehr."
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Ideen

In der NZZ hat der französische Philosoph Pascal Bruckner weder für rechte Kolonial-Nostalgiker Verständnis, noch für linke, die nicht akzeptieren können, dass die ehemaligen Kolonien längst frei und für sich selbst verantwortlich sind: "In einer nüchternen Betrachtung gilt es, zwei Dinge grundsätzlich zu unterscheiden. Auf der einen Seite steht der Kolonialismus, der für uns moderne Menschen wie der Faschismus und der Kommunismus etwas ist, das wir aus Prinzip verdammenswert finden. Auf der anderen Seite gibt es die britische, holländische oder portugiesische Kolonisation, die vielschichtig war, schädlich und nützlich zugleich. Ihre Geschichte mit allem Respekt gegenüber den Fakten und Nuancen präzise darzustellen, obliegt den Historikern. Die französische Präsenz in Afrika zum Beispiel hat es erlaubt, der Sklaverei ein Ende zu setzen, die im Maghreb genauso wie in der Sahelzone und in Benin noch sehr verbreitet war. ... Der Kolonialismus ist an einem fundamentalen Widerspruch gestorben: Er hat ganze Kontinente den Gesetzen eines Mutterlandes unterworfen, das zugleich die Konzepte der Freiheit und der Selbstbestimmung propagierte. Jenen, die er dominierte, gab der Kolonialismus demnach auch den Schlüssel zur Emanzipation in die Hand."
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Europa

Weißrussland, das Nordkorea Europas, öffnet sich für die internationale Wirtschaft, zumindest im IT-Bereich, berichtet Viktor Martinowitsch bei Zeit online: "Die Wirtschaft braucht einen neuen Wachstumsbeschleuniger, ein lokales Wunder, das nicht den Launen Russlands unterworfen ist. Offenbar glaubt die Regierung, dass eine global ausgerichtete IT-Industrie dieses Wunder bewirken kann. Gegenwärtig entfallen auf diesen Sektor nur 30.000 Beschäftigte - nicht eben viel für ein 9-Millionen-Land."

Jan Plamper, Professor für Geschichte am Goldsmiths College der University of London, beleuchtet in der FAZ den "Diaspora-Nationalismus", wie ihn zum Beispiel Wladimir Putin über Kulturinstitute und Auslandssender verbreitet. Den Namen "Russische Welt", den sich die russischen Kulturinstitute im Ausland gaben, nimmt Plamper Putin nicht ab: "In der Wirklichkeit gleitet der Begriff ständig ins Ethnische ab. Putin rechtfertigte 2014 die Annexion der Krim als Wiederherstellung der Einheit der russischen Welt'. Aus Angehörigen der 'russischen Welt' können jederzeit 'Landsleute' werden, die angeblich Schutz benötigen, auch mit Waffengewalt. Kein Wunder, dass Länder, die einst Sowjetrepubliken waren, das Konzept mit Sorge betrachten."
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Internet

Eine erstaunliche Meldung bringt turi2 unter Bezug auf das offizielle Google-Blog: "YouTube will künftig Videos von staatlichen Sendern wie Russia Today mit einem Hinweis versehen. Die Kennzeichnung soll nicht im Video, aber noch über dem Video-Titel erscheinen, kündigt das Unternehmen an. Die Hinweise sollen auf Wikipedia-Artikel verlinken. Vorerst sehen nur Nutzer in den USA solche Hinweise."
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Stichwörter: Youtube, Wikipedia, Russia Today