9punkt - Die Debattenrundschau

Museomanie, Nostalgie, Paläolatrie, Passeismus, Rekorditis!

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
30.01.2018. Zehntausende protestieren gegen die Zerstörung des Rechtsstaats in Rumänien - und was macht die EU, fragt die NZZ. In Le Monde protestiert Kendal Nezan, Gründer des kurdischen Instituts in Paris, gegen den türkischen Feldzug in Afrin und das Schweigen des Westens. Apple übergibt sämtliche Daten seiner chinesischen Nutzer an eine Behörden-Cloud des Regimes, berichtet die taz. Mehrere Artikel beleuchten die Auswirkungen von Streamingdiensten und smarten Lautsprechern auf traditionelle Medien - und von Robotern auf den Arbeitsmarkt.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 30.01.2018 finden Sie hier

Europa

Alberto Nardelli präsentiert in Buzzfeed ein vertrauliches Papier der britischen Regierung. Selbst sie, so stellt sich da heraus, glaubt, dass der Brexit dem Land in jedem denkbaren Szenario wirtschaftlich schaden wird: "Bei einem umfassenden Freihandelsabkommen wird das UK-Wachstum über die nächsten Jahre laut dieser Analyse um 5 Prozent niedriger liegen. Das 'No Deal'-Szenario, in welchem das Land zu den Regeln der Welthandelsorganisation zurückkehren müsste, würde das Wachstum um 8 Prozent reduzieren. Die weichste Brexit-Option mit dauerhaftem Zugang zum Gemeinsamen Markt würde das Wachstum immer noch um 2 Prozent vermindern."

Niemand baut in Europa derart drastisch den Rechtsstaat ab wie Rumänien, warnt Oliver Jens Schmitt in der NZZ. Die EU hält still, dabei könnte sie auf eine breite Unterstützung der Bevölkerung zählen: "Kürzlich sind wieder rund 100.000 Menschen auf die Straße gegangen, um die Justiz gegen die korrupte Parlamentsmehrheit zu verteidigen. Brüssel fände in Rumänien noch eine massive Unterstützung seitens wichtiger Teile der Bevölkerung. In Bukarest wartet die Zivilgesellschaft sehnsüchtig auf starke Signale aus den westlichen Hauptstädten. Noch lassen sich die Menschen für das mobilisieren, was Brüssel als europäische Werte deklariert. Doch droht Resignation. Was dies bedeutet, soll klar gesagt werden: Russland umwirbt Rumänien, nicht zuletzt unter Berufung auf die gemeinsame Zugehörigkeit zur Orthodoxie. Für die rumänische politische Klasse wäre ein autoritäres Modell nach russischem Vorbild attraktiv."
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Geschichte

Das Jubiläumsfieber kühlt nicht ab. Nach Luther und Oktoberrevolution stehen uns jetzt die Feierlichkeiten zum Dreißigjährigen Krieg, zu 1918 und 1968 bevor. Wir sind auf dem besten Weg, die Geschichte zu sakralisieren, warnt in der NZZ der Historiker Norbert Furrer: "Diese Geschichtsheiligung ist nicht vom Himmel gefallen. Sie wird von Akteuren betrieben, die etwas damit bezwecken und bewirken wollen, die Wünsche erfüllen und Bedürfnisse bedienen. ... So gern die Menschen ihn zelebrieren, der Geschichtsglauben hat eine dreifache Crux. Erstens: Die Geschichte sakralisieren bedeutet im besten Fall das Schöne, Wahre und Gute im Menschen pflegen, sich um Ordnung, Sicherheit, Zusammenhalt und Wohlstand bemühen. Im schlimmsten Fall aber bedeutet es: beschönigen, manipulieren, moralisieren; Macht, Einfluss und Profit vermehren. Zweitens: Ihre Geschichtsgläubigkeit macht moderne Gesellschaften für verschiedenste 'Krankheiten' anfällig: Denkmalfieber, Erinnerungstrieb, Gedenkzwang, Jubiläumssucht, Museomanie, Nostalgie, Paläolatrie, Passeismus, Rekorditis, Retrophilie."
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Ideen

In der NZZ trauert der Literaturwissenschaftler Daniele Giglioli nicht um den Niedergang des Patriarchats. Doch gehen mit ihm leider auch einige Tugenden unter, meint er: "Die eigentliche Gefahr einer Dekonstruktion der patriarchalen Ideologie besteht darin, dass zusammen mit der Ideologie auch jene Tugenden langsam verschwinden, die der männlichen Dimension zugeschrieben wurden: Mut, Redlichkeit, Verantwortung, Sorge um das öffentliche Leben, Gemeinsinn. Niemand würde solche Werte kritisieren, so viel ist gewiss. In der Praxis schwinden sie aber, und wir sollten uns nichts vormachen: Dies ist die Kehrseite der an sich unumstrittenen Kritik am Patriarchat."
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Internet

Julia Krüger legt in einem etwas trocken zu lesenden Text auf Netzpolitik dar, was Facebooks Plan, die Vertrauenswürdigkeit von Medien zu Nutzerrankings zu ermitteln, in der Praxis für Folgen haben könnte: "Das Ranking kann als indirekte Erhebung politischer Einstellungen gewertet werden. Nutzerinnen und Nutzer gäben preis, was sie lesen und was sie davon halten. In der Gesamtheit ließe sich ein Bild der öffentlichen Meinung skizzieren, wie repräsentativ auch immer das sein mag. Amerikanische Autoren befürchten, dass diese Daten für Werbezwecke verkauft werden."
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Stichwörter: Facebook, Netzpolitik

Medien

(Via turi2) So langsam wirken sowohl die öffentlich-rechtlichen als auch die privaten Fernsehsender durch die Streamingdienste leicht ramponiert, schreibt Caspar Busse im Wirtschaftsteil der SZ: "In Europa und Deutschland tut sich dagegen wenig. Es erweist sich vielmehr gerade für die deutschen privaten Fernsehsender als verhängnisvoll, dass lange am Programm gespart und statt für den Zuschauer vor allem für die Werbeindustrie gesendet wurde. Die aber wandert ohnehin ins Netz ab, wo Marketing effizienter eingesetzt werden kann."

Auch die modischen smarten Lautsprecher werden die Medien-Szene, in diesem Fall besonders bei den Radios, auf den Kopf stellen, berichtet Marvin Schade bei Meedia.

Claudia Tieschky berichtet ebenfalls in der SZ über die Neufassung des "Telemedienauftrags", die öffentlich-rechtlichen Sendern einerseits gestatten wird, Inhalte länger als sieben Tage in Mediatheken zu präsentieren und sogar eigene Formate auf Facebook oder Youtube zu bieten, andererseits aber "Presseähnlichkeit" weiter unterbinden will: "Der Gesetzesentwurf legt nun erst einmal fest, was 'presseähnlich' ist - Angebote mit Schwerpunkt Text - und formuliert dann ein paar Ausnahmen, wann solche Textangebote doch erlaubt sind."
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Überwachung

Apple übergibt alle seine Daten chinesischer Nutzer an eine Regime-Cloud, berichtet Felix Lee in der taz: "Damit reagiert Apple auf ein neues Cybersicherheitsgesetz in der Volksrepublik, das seit vergangenen Sommer schrittweise in Kraft getreten ist und in den kommenden Wochen noch strenger gefasst werden soll. Es sieht unter anderem vor, dass alle von chinesischen Kunden gesammelten Daten auch innerhalb der Landesgrenzen gespeichert werden müssen. Zudem muss gewährleistet werden, dass staatliche Behörden jederzeit Zugriff darauf haben. Konkret heißt das: Sämtliche Fotos, Dokumente und Nachrichten, die von Apple-Kunden in China hochgeladen werden, sind fortan in der Provinz Guizhou gespeichert. "
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Gesellschaft

Im Interview mit der Süddeutschen über Gewalt und Verführung gelingt Barbara Vinken ein komplizierter Balanceakt, wenn sie die Notwendigkeit von #MeToo anerkennt, aber die Vorstellung einer "vollständig selbstkontrollierenden Identität" als totalitär ablehnt: "Im Geschlechterverhältnis ging es nie um Gleichheit. Der Mann, von dem man glaubte, er sei im Fleisch nicht so schwach wie die Frau, seinem Begehren nicht so unterworfen wie sie, macht sich aus Liebe zu einer Frau schwach. Und stellt sie, gerade in ihrer Schwäche, ihrer Verführbarkeit, man kann auch sagen, in ihrer Fähigkeit zu Hingabe, über sich. Nicht zufällig 'macht' der Mann der Frau 'den Hof'. Ein Frauenkult, in dem sie nicht unterworfen, nicht erpresst, sondern erhoben, verehrt, begehrt wird - verehrt als die hingebungsvolle Liebende. Die heutige Praxis der Erpressung ist demgegenüber eine Perversion."

Im Interview mit sueddeutsche.de denkt der Physiker Armin Grunwald über die Folgen der Digitalisierung und der Robotik nach. Bei der Robotik machen ihm weniger künftige "Killermaschinen" Sorge als die Frage, wie man mit den Entlassenen umgeht: "Da droht uns ein großes soziales Problem. Leider herrscht in unserer Gesellschaft immer noch das Fortschrittsdenken und der Glaube an Win-win Situationen vor. Das wird vor allem davon angetrieben, dass die deutsche Wirtschaft stark vom Maschinenbau abhängig ist, also auch vom Export solcher Roboter. Entsprechend wird in Kauf genommen, dass Bevölkerungsgruppen aus dem Modell herausfallen ... das ist Teil unserer verdrängten gesellschaftlichen Realität."
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Politik

Zornig protestiert Kendal Nezan, der im Jahr 1975 das kurdische Institut in Paris gründete, in Le Monde gegen den Feldzug Tayyip Erdogans in der kurdischen Provinz Afrin. "Die Volksverteidigungseinheiten, die die türkische Regierung als Terroristen bezeichnet, setzen sich aus Männern und Frauen kurdisch-syrischer Herkunft zusammen und haben niemals die geringste Attacke gegen die Türkei geführt oder geplant. Die internationale Koalition vor Ort weiß das besser als jeder sonst... Und wenn man wie Erdogan behauptet, dass die PYG (die Einheiten zum Schutz des Volks) Terroristen sind, dann hätten sich die Vereinigten Staaten und Frankreich der Zusammenarbeit mit einer Terrororganisation schuldig gemacht."

Außerdem: Zum Thema Kurden, Kurdistan und PKK bringt Bert Rebhandl in der FAZ einen interessanten filmhistorischen Hintergrundtext, der auch die Romantisierung der PKK durch westliche Linke anspricht.
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