9punkt - Die Debattenrundschau

Gerade mal am Rand des Sonnensystems

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
30.12.2017. Die Grünen-Politiker Volker Beck und Dirk Behrendt plädieren in der Berliner Zeitung und bei Twitter für das Kopftuch an Berliner Schulen. Die FAZ kann es nicht fassen: Der neue ARD-Vorsitzende Ulrich Wilhelm droht mit Einsparungen am Programm, falls er nicht demnächst drei Milliarden Euro mehr bekommt.  Im Tagesspiegel spricht der Historiker Andreas Rödder über die poltische Wucht der Postmoderne.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 30.12.2017 finden Sie hier

Religion

Ganz eindeutig spricht sich der Berliner Justizsenator Dirk Behrendt von den Grünen im Interview mit Jan Thomsen von der Berliner Zeitung für eine Aufhebung des Neutralitätsgebots an Berliner Schulen aus: "Wir müssen dafür sorgen, dass die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auch in Berlin umgesetzt wird. Die sagt eindeutig, dass pauschale Kopftuchverbote verfassungswidrig sind, weil sie das Recht auf freie Berufswahl und eine pluralistisch verstandene Religionsfreiheit unzulässig einschränken. Eingreifen darf man nur im konkreten Fall einer Störung des Schulfriedens. Ich bin der Meinung, dass wir es in der multireligiösen Stadt Berlin aushalten sollten, wenn an den Schulen junge Frauen mit Kopftuch unterrichten."

Volker Beck, ebenfalls von den Grünen, sieht es genauso:

Unser Vorschlag zur Güte: Alle Berliner Lehrerinnen sollten künftig mit Kopftuch lehren. Als Hommage an den Gedanken der Vielfalt sollte es aber als Regenbogen gestaltet sein.
Archiv: Religion

Europa

Florian Bayer schildert bei Zeit online eindrücklich, wie das polnische Kulturministerium in städtische Theaterinszenierungen eingreift und und spricht mit dem Politologen Daniel Przastek darüber, wie die polnische Regierung ihr Geschichtsbild in allen mögleichen Museen zemeniert.  "Insbesondere seit 2004, als das Museum des Warschauer Aufstands eröffnet wurde, beobachtet er eine neue Geschichts- und Kulturpolitik, die seitdem eine glorreiche polnische Vergangenheit zelebrieren. 'Viele glauben tatsächlich nach Verlassen des Museums, dass Polen den Warschauer Aufstand gewonnen hätte - und das ist auch so gewollt', sagt Przastek."

Die deutsche Parteienlandschaft entspricht den gesellschaftlichen Gegegebenheiten nicht mehr, schreibt Peter Unfried in der taz mit Blick auf die Wahlen in Frankreich und in Deutschland in diesem Jahr und fährt fort: "'Experimentelle Mehrheiten' nennt der Berliner Soziologe Heinz Bude daher das Gebot der Stunde. Macron ist in dieser Hinsicht der Mann des Jahres, weil er eine solche experimentelle Mehrheit gewonnen hat. Gegen den Front National, aber eben auch gegen die Sozialisten und die Konservativen, die Frankreich unter sich aufgeteilt hatten. Seine Fraktion ist eine Art Jamaika: mit Wirtschaftsliberalen, Linksliberalen, grün angehauchten Pragmatikern, die das Soziale nicht vergessen. Was genau ist passiert, was Macron längst verstanden hat, während große Teile der Politik und der Leute in Deutschland am Ende des Jahres noch ratloser scheinen als am Anfang?"

In einem hat Macron seine Ziele allerdings nicht erreicht, konstatiert Solenn de Royer in Le Monde und zitiert eine Stabsmitarbeiterin des Präsidenten: "Es gibt in Makronien eine Kultur des Alphamännchens." Nur 17 von 53 Kabinettsmitgliedern sind Frauen, Macron ist in seinem direkten Umfeld vom Ziel der Parität weit entfernt.

Macron, Macron. Der Soziologe Maurizio Bach warnt in  der FAZ vor Emmanuel Macrons Ideen einer stärkeren Demokratisierung der Europäischen Union: "Würde die Europäische Union aber auf demokratische Eigenlegitimation umgestellt, konstituierte sich ein neuer, von den Verträgen nicht vorgesehener Souverän in Europa. Das käme nicht nur einer faktischen Entmachtung der Mitgliedstaaten gleich, die bisher die 'Herren der Verträge' sind und mit entsprechender Vetomacht zum Schutz ihrer nationalen Souveränitätsreservate ausgestattet sind. Die prinzipielle Höherrangigkeit der dann demokratisch selbstlegitimierten europäischen Ebene käme einem Selbstmord der nationalen Demokratie gleich."

Ali Celikkan unterhält sich für die taz mit der deutsch-türkischen Journalistin Mesale Tolu, die zwar vorerst aus der Haft freikam, aber mit Skepsis auf jüngste Zeichen der Entspannung auch für Deniz Yücel und andere reagiert: "Erdogan hat am vergangenen Mittwoch moderate Töne angeschlagen. Aber lösen sich die Probleme, bloß weil man Journalisten freilässt? Die drei genannten Namen sind die bekanntesten, aber es gibt noch andere Inhaftierte und viele weitere Deutsche, die die Türkei nicht verlassen dürfen. Die beiden Seiten fassen einander jetzt zwar sanfter an. Wir müssen aber erst sehen, was mit Deniz wird. Er hat immer noch keine Anklageschrift."
Archiv: Europa

Wissenschaft

Vielleicht ein Trost für alle, die es weit zum Silvester-Fest haben. Moritz Honert spricht im Tagesspiegel mit Astrophysiker Hermann Nicolai über die Ausmaße unserer unmittelbaren Nachbarschaft: "Wir sind so unvorstellbar unbedeutend, wie das Universum unvorstellbar groß ist. Die Voyager-Sonde, die 1977 gestartet ist, fliegt mit 17.000 Metern pro Sekunde durchs All und ist jetzt nach 40 Jahren gerade mal am Rande des Sonnensystems. Der nächste Stern von uns ist Alpha Centauri, vier Lichtjahre entfernt, im kosmischen Maßstab also ein Katzensprung. Mit jeder realistisch denkbaren Technologie braucht man dahin mindestens 30.000 Jahre."
Archiv: Wissenschaft
Stichwörter: Astronomie, Silvester

Ideen

Der Historiker Andreas Rödder stimmt im Gespräch mit Hans Monath im Tagesspiegel Sigmar Gabriels These zu, dass die Postmoderne die SPD und die Diskurse der klassischen Moderne unterminiert hätten, und das gilt für ihn ganz besonders für die Gender-Debatte: "Die Postmoderne sagt, dass alle Ordnungen diskursiv erzeugte Machtkonstrukte sind. Wenn das so ist, dann geht es auch bei den Forderungen nach Anti-Diskriminierung, Diversität und Gleichstellung um Macht. .... Der Soziologe Talcott Parsons hat schon in den fünfziger Jahren die Einsicht formuliert, dass jede Inklusion neue Exklusionen nach sich zieht. Leider verweigern sich viele AktivistInnen von Gender Mainstreaming oder der 'Queer Theory' dieser Einsicht, sondern erheben einen unreflektierten, verbindlichen Geltungsanspruch für ihren eigenen Ordnungsentwurf. Mit dieser moralischen Aufladung und Ideologisierung entzieht sich die Kultur des Regenbogens der Debatte - und löst die Gegenbewegung aus, auf die Gabriel hinweist."

Manfred Schneider kann in der NZZ das Klagen darüber, dass Politik so langweilig geworden sei, nicht mehr hören: "Woran mag es liegen, dass die dauernde Zunahme an Information, Belustigung und Kritik doch immer weiter Missstimmung und Gemütsödnis hervorbringt? Ist es eine Sucht, die uns wie Abhängige dazu treibt, immer mehr politische Unterhaltung zu dealen? Oder ist es das hohe Aufklärungsniveau unserer Zeit, das die Ansprüche wachsen lässt, wie wir regiert und informiert werden wollen? Dabei war es doch im Rückblick der Wille der bürgerlichen Reformer, den Prunk, den Überfluss und die leeren Rituale der aristokratischen Herrschaft zu beenden. Erst die Abrüstung der Privilegien, Paraden, Hofämter und die Durchleuchtung der Macht brachten das moderne politische System hervor, das aus Wahlen, Debatten, Programmen, Entscheidungen, Gesetzen und Verträgen besteht."

Außerdem: Der linke Soziologe Thomas Wagner, Autor des Buchs "Die Angstmacher - 1968 und die Neuen Rechten", fordert in der taz, dass die Linke von der Rechten lernt, die von der Linken gelernt hat. Hans Ulrich Gumbrecht, Professor für Literaturwissenschaften an der Stanford University und 1948 geboren, denkt in der NZZ über den Begriff des "in Würde alterns" nach und verkündet, dass er zum Ende des Studienjahres sein Campus-Büro räumen wird.
Archiv: Ideen

Medien

So ganz kann FAZ-Medienredakteur Michael Hanfeld nicht nachvollziehen, wie der neue ARD-Vorsitzende Ulrich Wilhelm darauf kommt, es fehlten der ARD kurzfristig drei Milliarden Euro, die überdies am Programm einzusparen seien, weil der Apparat schlicht nicht mehr zu verkleinern sei: "Das nennen wir eine Ansage. Oder besser: Wir nennen es einen Offenbarungseid... Außerhalb der Anstalten mit ihren mehr als 25.000 Festangestellten und geschätzt noch einmal so vielen freien Mitarbeitern plus Intendanten, deren Gehälter das der Bundeskanzlerin zum Teil deutlich überschreiten, mit 66 Radio- und 21 Fernsehprogrammen, wird kaum jemand nachvollziehen können, dass der Rundfunkbeitrag unbedingt steigen muss, weil das Ende aller Sparmöglichkeiten erreicht sei."
Archiv: Medien