9punkt - Die Debattenrundschau

Unser Hang zum Tribalismus

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
27.12.2017. FAZ und SZ resümieren das Jahr der #MeToo-Debatte, das nicht nur die Verfehlungen einiger Hierarchen, sondern ein ganzes Machtsystem bloßlegte. Der Guardian enthüllt, dass die britische Regierung Tausende Archivakten über missliebige historische Ereignisse verschwinden ließ.  Die New York Times zeigt, wie Frauen von der Rivalität zwischen Saudi-Arabien und dem Iran profitieren. Guardian und Washington Post thematisieren russische Einflussnahme in den sozialen Netzen.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 27.12.2017 finden Sie hier

Gesellschaft

Verena Lueken fasst in der FAZ noch mal das Jahr der #MeToo-Debatte zusammen und kommt zu dem Schluss, dass es sich keineswegs um Verfehlungen einzelner Zampanos handelte, sondern um ein Machtsystem, das nicht nur Hollywood, sondern viele Zirkel der Macht in Amerika, aber auch darüber hinaus strukturierte: "Dass Weinstein Karrieren von Frauen, die ihm nicht zu Diensten waren, behindert oder verhindert hat, ist sehr wahrscheinlich, jedenfalls von verschiedenen Seiten bekräftigt worden. Dasselbe dürfte für die Opfer anderer beschuldigter Männer gelten. Dass aber die Festschreibung des weiblichen Rollenbildes dafür sorgte, dass viele Karrieren gar nicht erst begonnen, viele Projekte im Keim erstickt, Talente unentdeckt und Biografien unerfüllt blieben, das dämmert der Öffentlichkeit erst ganz langsam."

Frauenfeindliche Strukturen, die in letzter Konsequenz zu Gewalt führen, entstehen bereits mit der Sprache, meint Julian Dörr auf sueddeutsche.de. Schon das Gerede vom "Sex-Skandal" oder von der "Gewalt gegen Frauen" würdige Frauen herab: "Wenn wir von sexueller Gewalt gegen Frauen reden, dann lässt die Formulierung diese Gewalt wie einen Deus ex Machina erscheinen, der aus dem Nichts auftaucht und wie ein böses Schicksal über die Frauen hereinbricht. Die Formulierung 'Gewalt gegen Frauen' macht sexuelle Übergriffe und Diskriminierung zu einem Frauenproblem. Ein Problem, das Männer nichts angeht und aus dem sie sich besser raushalten. ... Weil sich die Debatte immer wieder auf die Opferrolle der Frau fixiert. Das sorgt dafür, dass sich frauenfeindliche Strukturen in den Köpfen und in der Welt erhalten. Und dafür, dass wir hier immer noch über Frauen reden. Und nicht über Männer."

Die eskalierende Rivalität zwischen Iran und Saudi Arabien hat auch etwas positives, meint die iranisch-amerikanische Autorin Roya Hakakian in der New York Times. Die Frauen in beiden Ländern könnten nämlich davon profitieren: "Als die saudischen Frauen das Recht erhielten Auto zu fahren, zu wählen oder sich zur Wahl zu stellen, interessierte das die iranischen Frauen, die diese Rechte schon lange hatten, nicht besonders. Aber als Saudi Arabien Frauen den Besuch von Sportstadien erlaubte, wurden die iranischen Frauen wütend auf ihre Regierung. Das Timing der Saudis im September war perfekt - wenn Unruhe in der iranischen Zivilgesellschaft das Ziel war. Nur wenige Wochen zuvor waren die iranischen Frauen in Teheran vom Qualifikationsspiel für die WM zwischen Iran und Syrien ausgeschlossen worden, während die syrischen Frauen ins Stadion durften. 'Wenn ich die Reformen in Saudi Arabien sehe, bin ich doppelt begeistert: für die saudische Gesellschaft und besonders für die Frauen', sagt Mariam Memarsadeghi, Mitbegründerin der iranischen Webseite Tavaana, 'aber ich bin auch begeistert, dass die falsche moralische Überlegenheit des iranischen Systems angekratzt wird, dass die iranischen Gesetze gegen Frauenrechte so hinterwäldlerisch aussehen gegenüber einem Land, das bis dahin als das hinterwäldlerischste der Region galt.'"

Martin Reeh lobt in der taz ausdrücklich Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, der in seiner Weihnachtsansprache nicht nur gläubige Mitbürger ansprach und sich in diesem Punkt von seinem Vorgänger Joachim Gauck abgesetzt habe: "Dass Atheisten auch am hohen christlichen Feiertag berücksichtigt werden, ist wichtig. Denn nicht nur der Islam gehört zu Deutschland, sondern auch der Unglaube. In den neuen Bundesländern und Hamburg gehört eine Mehrheit keiner christlichen Kirche mehr an."
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Geschichte

Die britische Regierung hat Tausende Archivakten verschwinden lassen und gibt sie bei Anfragen von Historikern als "verloren" aus, berichtet Ian Cobain im Guardian: "Dokumente zum Falklands-Krieg, über die Unruhen in Nordirland und den berüchtigten 'Sinowjew-Brief' - ein Kompltt von MI6-Beamten in den zwanziger Jahren, das die Labour-Regierung stürzen sollte - werden alle als 'verlegt' ausgegeben. Andere fehlende Akten betreffen die britische Kolonialverwaltung in Palästina, Polioimpfungen und die Territorialstreitigkeiten zwischen dem Vereinigten Königreich und Argentinien."
Archiv: Geschichte

Internet

Der amerikanische Historiker Thomas Frank hat im Guardian den Eindruck, dass die Meldung über von Russland gesteuerte Fake News in den sozialen Netzen letztlich auch bei Anhängern der Demokratischen Partei eher beschwiegen wurde und glaubt, es liegt am allzu positiven Bild, das sich diese Kräfte vom Internet machten: "Für allzuviele Demokraten können Facebook und Twitter nur als eines verstanden werden: Instrumente der Befreiung. Sie geben den Schwachen Macht. Sie geben uns Demokratie wie damals im arabischen Frühling. Sie bringen unseren Amerikanismus überall hin..." Aber "die sozialen Plattformen sind keine neutralen Instanzen, die sich selbstlos in den Dienst der Gesellschaft stellen. Es ist heute allzu offensichtlich, dass sie Monopole bilden, die uns in hundert unterschiedlichen Arten manipulieren, indem sie unsere Informationen filtern und uns dazu drängen, bestimmte Dinge zu kaufen."

Unterdessen berichten der frühere hohe CIA-Offizielle Michael Morell und der republikanische Politiker Mike Rogers in der Washington Post über anhaltende russische Einflussnahme in den sozialen Netzen.
Archiv: Internet

Ideen

Dass nicht nur Anhänger von Rechtspopulisten "Fake News" aufsitzen, zeigt für Brigitte Werneburg in der taz die Geschichte des gefälschten Necla-Kelek-Zitats, an das viele "Linke" wie Jakob Augstein oder Daniel Bax auch heute noch fest glauben (unsere Resümees). Der Gedanke kommt ihr bei der Lektüre des von Wolfgang Tillmans mit herausgegebenen Buchs "Jahresring 64", das sich mit dem Thema Fake News befasst. Sie greift dabei auch eine These des Philosophen Philipp Hübl über Lagerbildung und den neuen Populismus auf, der das Netz nicht eigentlich als Medium der Fake News sehe: "Wichtiger sei, dass das Internet unseren Hang zum Tribalismus bestärke. Denn im virtuellen Raum findet jeder Vertreter von noch so bizarren und abstrusen Thesen Gleichgesinnte. Man ist immer Mitglied einer Wissensgemeinde und als solches kaum geneigt, eigene Thesen zu überdenken, gar zu revidieren."
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Wissenschaft

Peter Glaser fürchtet in der NZZ einen neuen Rüstungswettlauf - diesmal zwischen China und den USA um die Weiterentwicklung der Künstlichen Intelligenz, seit die chinesische Regierung im Juli einen 12-Jahres-Plan verabschiedet hat, wonach sie bis 2030 das "führende und globale Innovationszentrum für künstliche Intelligenz" werden will: "Im Juli 2015 hatte eine Gruppe amerikanischer Robotiker und KI-Forscher in einem offenen Brief ein Verbot für autonome Waffen gefordert. 'Wir haben es geschafft, chemische und biologische Waffen zu verbieten, warum sollte das nicht auch mit autonomen KI-Waffen möglich sein?' Aber anders als Anthrax-Sporen können etwa Drohnen sowohl für friedliche als auch für destruktive Zwecke eingesetzt werden. Die gleiche Technologie, die Facebook so gut darin macht, Fotos mit Tags zu versehen, kann Sicherheitsbehörden dabei helfen, Spione zu enttarnen. Privatunternehmen betreiben nun militärische Forschung, ob sie wollen oder nicht."
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Medien

(Via turi2) Die ARD-Vorsitzende Karola Wille biederte sich (noch am Tag vor Heiligabend) bei den Zeitungsverlegern an, meldet dpa (hier bei der Frankfurter Neuen Presse): "Auch wenn der Eindruck entstanden sei, dass es zwischen Verlegern und öffentlich-rechtlichem Rundfunk kaum noch Gemeinsamkeiten gebe, sei es wichtig, den Gesprächsfaden wieder aufzunehmen, sagte Wille. 'Die Online-Werbung fließt an die Technologie-Giganten. Hinzu kommt, dass es eine Netzwerk-Ökonomie gibt, die unerbittlich ist und diese Unternehmen immer stärker macht. Das sehen wir natürlich auch', erklärte die MDR-Intendantin, die den ARD-Vorsitz zum Jahresende abgibt. 'Ich denke, dass beispielsweise das Leistungsschutzrecht, das auf europäischer Ebene gerade diskutiert wird, ein Thema ist, bei dem wir die Verlage unterstützen können.'"
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