9punkt - Die Debattenrundschau

Die Herkunft der Stereotype

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
22.12.2017. Politco.eu ist ratlos: Es ist so viel passiert in Katalonien in letzter Zeit - und doch sind wir keinen Schritt weiter! Die Salonkolumisten greifen die Debatte um das von Lamya Kaddor verfälschte Necla-Kelek-Zitat auf und sehen durchaus rechtliche Aspekte. Im Perlentaucher reagiert Necla Kelek selbst. Ganz unabhängig davon schildert die NZZ die Techniken heutiger Debatte: "Man diskutiert nicht mit dem Gegner, man 'entfreundet' ihn." Die SZ schildert die Verfolgung Homosexueller in Ägypten, betrieben in trauter Eintracht von Staat, Imamen und koptischer Kirche.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 22.12.2017 finden Sie hier

Europa

Nun hat Katalonien neu gewählt. Die Separatisten haben wieder die Mehrheit - aber nur mit der linksradikalen CUP, die mit den anderen Separatisten nur zusammengeht, wenn diese keinerlei Kompromisse mit Madrid eingehen. Der spanische Premier Mariano Rajoy hat seine Wette verloren. Und Diego Torres von politico.eu gibt zu, dass er auch nicht weiter weiß: "Viel ist in Katalonien seit Oktober passiert: ein illegales Unabhängigkeitsreferendum, das von brutaler Polizeigewalt begleitet war, eine einseitige Erklärung der Unabhängigkeit, die nicht umgesetzt und von keinem einzigen Land anerkannt wurde, Rajoys Einsatz von Ausnahmegesetzgebungen, um die katalanische Regierung abzusetzen und juristischer Mittel, die einige der katalanischen Repräsnetanten ins Gefängnis brachten und andere wie Puigdemont ins Exil ausrücken ließ. Und doch ist das immer noch genauso viel Ungewissheit wie 2015."

Debatte um das von Lamya Kaddor verfälschte Necla-Kelek-Zitat

Sie habe sich bisher nicht viel mit Lamya Kaddor, Daniel Bax und anderen ihrer Feinde befasst, weil sie nicht viel zur Diskussion beizutragen haben, schreibt Necla Kelek im Perlentaucher. Die Motive hinter der jahrelangen Verleumdungskampagne (unsere Resümees) erklärt sie so: "Es geht ihnen darum, eine gesellschaftliche Debatte um Religion und ihren Einfluss zu denunzieren - weil ihnen ein anderes Gesellschaftsideal vorschwebt. Es gilt nicht mehr das alte Prinzip der Aufklärung 'Alle Menschen sind gleich und haben dieselben Rechte und Pflichten', sondern man will das Ungleiche gleich behandeln. Konkret: Apartheid von Frauen soll unter den Schutz der grundgesetzlichen Religionsfreiheit fallen. Das ist reaktionär, für mich als Türkeistämmige ein Rückfall in osmanische Zustände des Millet-Systems."

Tobias Blanken greift die Geschichte bei den Salonkolumnisten auf: "Das, was durch die penetrante Verwendung des verfälschten Zitats mit Necla Kelek gemacht wurde, nähert sich § 186 und § 187 des StGB an, also der üblen Nachrede und der Verleumdung. Es wurde in durchaus ehrverletzender Weise mit einer Tatsachenbehauptung operiert, der ein entspanntes Verhältnis zur Wahrheit zugrunde lag. "

Thomas Thiels gestriger FAZ-Artikel zur Affäre ist inzwischen online gestellt worden.
Archiv: Europa

Kulturpolitik

Die häufig problematische "Aneignung" ethnologischer Objekte muss im Humboldt-Forum stets zum Thema gemacht werden, Absichtserklärungen reichen nicht aus, schreibt der Ethnologe Hans-Jürgen Heinrichs in der FAZ: "Die Leitung und die Mitarbeiter künstlerischer und ethnologischer Institutionen müssen das Wagnis eingehen, an sich selbst das Abgründige von lustbesetzten kolonialen Besitzergreifungen zu erforschen. Wie weit manche noch davon entfernt sind, wird in Formulierungen deutlich, die die historische Aneignungspraxis in die Gegenwart verlängert wissen wollen: Die Besucher, heißt es, sollen das Humboldt-Forum 'in Besitz nehmen'."
Archiv: Kulturpolitik
Stichwörter: Humboldt Forum

Politik

Trumps Anerkennung Jerusalems als israelische Hauptstadt ist keineswegs ein so illegitimer Akt, wie es die UN-Resolution jetzt erscheinen lässt, schreibt Richard Herzinger der Welt. Trump bezieht im Grunde die seit Jahren vertretene amerikanische Position, die nur noch nicht vollzogen wurde: "Trumps Ankündigung, damit nun ernst machen zu wollen, verband er keineswegs damit, Jerusalem als Ganzes als Hauptstadt Israels anzuerkennen. Vielmehr betonte er ausdrücklich, die Möglichkeit bleibe offen, dass Ost-Jerusalem im Falle eines Friedens zwischen Israel und den Palästinensern die Hauptstadt  eines palästinensischen Staates werden wird. Dies ist seit jeher die Position Washingtons gewesen, und daran hat sich nichts geändert. Und dass nach einem Friedensschluss zumindest West-Jerusalem die Hauptstadt Israels bleiben wird, steht ohnehin außer Frage."
Archiv: Politik
Stichwörter: Jerusalem, Trump, Donald

Religion

In der SZ skizziert Paul-Anton Krüger verschiedene Fälle der Strafverfolgung gegen Schriftsteller, Sängerinnen und Homosexuelle in Ägypten, denen Verstöße gegen konservative Moralvorstellungen und gegen Vaterlandsliebe vorgeworfen wird und die meist zu Haftstrafen verurteilt werden - mit Zustimmung von islamischen und christlichen Würdenträgern, so Krüger: "Der Großimam der Al-Ashar-Universität, Scheich Ahmed al-Tajjeb, von der ägyptischen Regierung als Vorreiter eines toleranten Islam vermarktet, im Bundestag und von Kanzlerin Angela Merkel als solcher hofiert, wetterte auf einer internationalen Konferenz gegen 'Aufrufe, Homosexualität als Menschenrecht zu erlauben'. Dies sei unverschämt und 'östlichen Männern völlig fremd'. Auch die Gleichberechtigung von Frauen sei abzulehnen. Die koptische Kirche unter Papst Tawadros II. ist in diesen Fragen nicht weniger reaktionär, große Teile der Gesellschaft allerdings ebenso. So oft die Ägypter auch über das Versagen der Behörden klagen: Wenn der Staat gegen Homosexuelle vorgeht, ist er sich des Beifalls sicher."

Es gibt keinen spezifisch muslimischen Antisemitismus, meint der Islamwissenschaftler Michael Kiefer in der FR in Antwort auf einen FR-Artikel Abdel-Hakim Ourghis: Der Antisemitismus sei "längst zu einem 'flexiblen Code' geworden, der ohne Probleme mit einer Vielzahl von Ideologiefragmenten oder religiösen Erzählungen verbunden werden kann. Anders formuliert: Heutige Antisemiten gebrauchen antisemitische Argumentationsmuster aus verschiedenen religiösen, kulturellen und historischen Kontexten, die in ihrer Neuanordnung oft inkohärent und widersprüchlich erscheinen. Den Erzählern ist die Herkunft der Stereotype oft nicht bekannt oder wird falsch verortet (zum Beispiel 'Die Juden haben unseren Propheten Mohammed umgebracht')."
Archiv: Religion

Wissenschaft

Der Kampf um Rohstoffe auf dem Mond hat begonnen, berichtet Michael Pilz in der Welt. Jeff Bezos betreibt ein Start-up namens Blue Origin, Elon Musk von Tesla plant mit Spaces seine eigene Mondfahrt und auch Luxemburg sichert sich qua Gesetz Rohstoffrechte, informiert Pilz und erklärt warum: "Ohne Yttrium, das im System der Elemente weiter oben steht, aber als seltene Erde gilt, obwohl es häufiger als Blei vorkommt, wären die Farben unserer Bildschirme weniger satt. Damit ließe sich leben. Ohne die Magneten aus Dysprosium, Neodym und Praseodym bald nicht mehr. Ohne sie gäbe es keinen Strom aus Windmotoren. Ohne sie fährt kein Elektroauto, jedenfalls nicht schnell und weit, wie Tesla mit seinem magnetfreien Hybridmobil gerade beweist. Ohne die seltsamen Metalle blieben unsere Telefone, unsere Faustkeile im 21. Jahrhundert, schwarz und stumm. Ohne die seltenen Erden keine schöne smarte, grüne Welt als einzige, die uns noch bleibt."

"Mischt euch ein!" ruft Marc Tribelhorn in der NZZ den Wissenschaften in postfaktischen Zeiten zu - trotz und gerade wegen der oft wenig fundierten Kritik von antiintellektueller Seite: "Irritierenderweise spielt die jeweilige Argumentation der Experten in den Debatten oft eine geringere Rolle als deren vermeintliche Gesinnung. Als wissenschaftlich gilt damit nicht mehr, was die Fachdisziplin als solches definiert, sondern was einzelnen Kreisen politisch genehm ist. Die Ideologisierung und die Polarisierung haben mittlerweile groteske Ausmaße angenommen. Provokative Wissenschafter werden systematisch angefeindet und an den Pranger gestellt."

Ebenfalls in der NZZ warnt der Physiker und Philosoph Eduard Kaeser nicht nur vor der postmodernen Ideologie des "Anything goes" und der Tendenz zum zeitgeistigen Tribalisieren des Wissens, sondern auch vor "Diskursverweigerung": "Auf beiden Seiten wird der andere erst einmal zum diskursunwürdigen Gegenüber erklärt, um ihn dann Verachtung spüren zu lassen: die Hochqualifizierten, die 'Elite' hier, die Unterqualifizierten, der 'Sack von Kläglichen' dort. Als probat Kommunikationsform fungieren Shitstorming, Bashing, Mobbing. Man diskutiert nicht mit dem Gegner, man 'entfreundet' ihn."
Archiv: Wissenschaft

Gesellschaft

Dank der sich innerhalb der #MeToo-Debatte erhebenden Frauen fällt nicht nur das Bild der Frau als Opfer, die Debatte begünstigt hoffentlich auch ein fortschrittliches Männerbild, konstatiert der Schriftsteller Ralf Bönt in der Welt: "Noch redeten wir nur über die eine Seite und beklagten, dass der Mann ein zu loses Verhältnis zu Sex, Körper und Gefühlen hatte. Noch reden wir nicht über die andere Seite, die erfüllte Sexualität: über Elternschaft, die im Katalog der Olympe de Gouges zentral ist und das häusliche Glück ausmacht, dessen Verlust Kleist so fürchtete. Aber das wird kommen, weil eine Innigkeit auf der einen Seite nicht zu haben ist ohne eine Innigkeit auch auf der anderen. Bedauerlich, dass Vaterschaft in der deutschen Politik keine Lobby hat. Obwohl mehr Fälle in Familiengerichten anhängig sind als Geburten gezählt werden, erleben wir da noch dieselbe vehemente Ablehnung wie gestern bei dem männlichen Opfer und der Täterin im Sexualdelikt."
Archiv: Gesellschaft

Medien

Die "Tagesschau"-App ist allzu presseähnlich, hat jetzt der Bundesgerichtshof festgestellt und ein Urteil der Vorinstanz nicht zur Revision zugelassen. Die Meldung findet sich etwa in der FAZ. ARD und NDR wollen demnach prüfen, ob sie Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht (das den Sendern häufig gewogen war) einlegen.

In der FAZ erklärt Jürg Altwegg, wie Emmanuel Macron die Staatssender in Frankreich (ja, das sind Staatssender) umbauen will. Während er selbst Journalisten der Sender zu serviler Hofberichterstattung empfängt, spricht er von den Sendern als "Schande" und plant jetzt offenbar recht konkrete Schritte: "Was man mit Gewissheit jetzt schon sagen kann: Es wird in Zukunft weniger Sender und weniger Geld geben. Redaktion werden zusammengelegt, Privilegien abgebaut." Die Staatssender haben in Frankreich ein Budget von 4 Milliarden Euro.
Archiv: Medien