9punkt - Die Debattenrundschau

Wir streben nach BMWs und Grundbesitz

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
13.12.2017. Die SZ interviewt den palästinensischen Autor Ali Qleibo aus Jerusalem, der erklärt, warum die Palästinenser in Jerusalem gar nicht so doll gegen Donald Trumps Anerkennung der Stadt als Hauptstadt Israels protestieren.  Während Jakob Augstein in Spiegel online die Welt dennoch "auf dem Weg der Israelisierung" sieht, fragen andere Medien nach dem Antisemitismus in der  Mehrheitsgesellschaft. Die Welt erklärt, warum der Paragraf 219a so sexistisch ist. Die FAZ kritisiert den Papst, der die Bibel kritisiert. Und niemand, nicht einmal Stockfish, schlägt Alpha Zero in Schach, schon gar kein Mensch..
Efeu - Die Kulturrundschau vom 13.12.2017 finden Sie hier

Politik

Dass der neue saudische Herrscher Mohammed bin Salman den Frauen mehr Bewegungsfreiheit gibt, macht ihn leider nicht zu einem  weniger gefährlichen Politiker, schreibt Charlotte Wiedemann in der taz, die nebenbei nicht nur die westliche Politik, sondern auch die westlichen Medien im Verhältnis zu dem Land kritisiert: "Saudi-Arabiens Bindung an den Westen wird seit Jahrzehnten mit einer chronisch beschönigenden Berichterstattung belohnt. Einst fanden Journalisten, wenn es um Panzerankäufe ging, auf dem Nachtschrank in Riad schon mal eine goldene Rolex als Betthupferl. Wie lange hat es gedauert, bis die Öffentlichkeit zögerlich zur Kenntnis nahm, dass unser strategischer Partner den weltweit kulturlosesten Islam praktiziert?"

"Ein Federstrich - und ein ganzes Volk verliert die Hoffnung auf einen eigenen Staat" - so sieht SZ-Autor Moritz Baumstieger die Konsequenz  aus Donald Trumps Entscheidung, Jerusalem als Hauptstadt Israels anzuerkennen. Baumstieger interviewt den palästinensischen Autor Ali Qleibo aus Jerusalem, der sich zwar als "indigenen" Einwohner Jerusalems sieht, aber auch an den Palästinensern einiges zu kritisieren hat: "Wenn wir palästinensischen Einwohner ehrlich darüber sprechen würden, müssten wir zugeben, wie sehr uns fünfzig Jahre Besatzung verändert haben. Wir streben nach BMWs und Grundbesitz. Ray-Ban-Brillen und Ralph-Lauren-Shirts sind für manche ein Lebensinhalt. Wir haben in Jerusalem zwar keinen definierten Status als Bürger, aber israelische Dokumente, die uns Reisen in die Türkei oder nach Mekka erlauben. Viele Familien haben in drei Generationen den Sprung aus der Armut in die Mittelklasse geschafft. Fast keiner würde all das für das nationalistische Ideal Palästinas aufgeben wollen."

Außerdem: In der Berliner Zeitung sieht Götz Aly durch die Anerkennung das Konzept des Durchwurstelns bedroht, das vielleicht doch einmal zu einem Frieden zwischen Israelis und Palästinensern führen wird.
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Gesellschaft

Jakob Augstein erzählt in seiner jüngsten Kolumne in Spiegel online, wie er einmal in Le Monde auf den Begriff der "Israelisierung" stieß und ihm ein Licht aufging: "An diesen Artikel musste ich denken, als bekannt wurde, dass Donald Trump Jerusalem als Israels Hauptstadt anerkennen will: Die Welt war auf dem Weg der Israelisierung ein großes Stück vorangekommen." Und zwar definiert Augstein den Begriff "Israelisierung" wie folgt: "Es ist der Weg, statt auf die Stärke des Rechts auf das Recht des Stärkeren zu setzen." Henryk Broder antwortet bei achgut.

Für Jan-Philipp Hein von den Salonkolumnisten zeigen Reaktionen wie die Augsteins: "Ressentiments gegen den jüdischen Staat sind auch in der Mehrheitsgesellschaft mehrheitsfähig. Das Anzünden von Fahnen ist dort vielleicht verpönt, aber eine bedingungslose Unterstützung der einzigen Demokratie im Nahen Osten sucht man bei den meisten Deutschen vergeblich. Stattdessen werden dem Hass Freibriefe ausgestellt. Auf den Seiten der 'Tagesschau' gibt sich ein Journalist der ARD-Rechtsredaktion ganz arglos und fragt: 'Ist es strafbar, Flaggen zu verbrennen?' Ein Kommentar des Ex-Bundesrichters Thomas Fischer reicht ihm, um zu diesem Schluss zu kommen: 'Wer sich also durch das Verbrennen einer Flagge (nur) gegen den Staat Israel wendet, aber nicht gegen 'die Juden' in Deutschland, der begeht keine Volksverhetzung.'"

Auch in der SZ erklärt Jana Anzlinger zu der Frage: "Warum ist es keine Volksverhetzung, eine Fahne Israels zu zerstören?" "Die Flagge zeigt einen großen blauen Davidstern. Dass ausgerechnet in Deutschland Menschen dieses Symbol in Flammen setzen und dazu antisemitische Parolen rufen, ist aufgrund der Geschichte des Holocausts verstörend. Strafbare Volksverhetzung ist es aber nicht unbedingt. Die begeht, Paragraf 130 Strafgesetzbuch zufolge, wer den Holocaust verherrlicht oder Mitglieder einer bestimmten Minderheit herabwürdigt oder bedroht. Die Flagge Israels repräsentiert aber keine Bevölkerungsgruppe, die in Deutschland lebt, sondern ein anderes Land."

Natürlich gibt es einen muslimischen Antisemitismus, aber die deutsche Gesellschaft täte gut daran, darüber nicht den urdeutschen linken und den bürgerlichen Antisemitismus zu vergessen, meint Benjamin Steinitz von der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Berlin (RIAS) angesichts der kürzlich verbrannten Israel-Fahnen im Interview mit der SZ. "Die Ausschreitungen im Sommer 2014 waren für viele Juden in Deutschland ein Wendepunkt. Sie beklagten die ausbleibende Reaktion der Zivilgesellschaft. Im Jahr 2000 zeigten nach einem Brandanschlag auf die Düsseldorfer Synagoge mehr als 200 000 Menschen in Berlin ihre Solidarität und der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder rief den 'Aufstand der Anständigen' aus. 2014 organisierte der Zentralrat der Juden in Deutschland die größte Demonstration gegen Antisemitismus in Berlin selber, zu der dann gerade einmal 5000 Menschen kamen, die meisten waren Mitglieder jüdischer Gemeinden aus dem gesamten Bundesgebiet."

Geradezu sexistisch findet Marlen Hobrack in der Welt den Paragrafen 219a, der Informationen über Schwangerschaftsabbruch als Werbung verbietet. "Die Frage, was Werbung in diesem Kontext ist, muss erlaubt sein. Letztlich unterstellt der Paragraf, dass Ärzte Schwangerschaftsabbrüche des Geldes wegen anbieten. Mit Blick auf die andere Seite, jene der betroffenen Frauen, müsste man fragen, was die 'Werbung' bei der Frau bewirken soll. Implizit unterstellt ein Werbeverbot, dass eine Frau diese fundamentale Entscheidung nicht basierend auf freien Erwägungen trifft, sondern sich 'beeinflussen' lässt. Da ist sie wieder, die Vorstellung von der naiven Frau. ... 'Denn sie wissen nicht, was sie tun' ist in der deutschen Politik noch immer ein herrschendes Frauenbild", meint Hobrack und plädiert für eine grundlegende Reform des Abtreibungsparagrafen.

Und: In der NZZ hält Andrea Köhler nichts davon, Kunstwerke zu zensieren, wenn die sexuellen Neigungen ihrer Schöpfer unakzeptabel erscheinen.
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Religion

Der Papst ist mit der Bibel unzufrieden und möchte den Satz "und führe uns nicht in Versuchung" aus dem Vaterunser ändern, weil der Liebe Gott so etwas sowieso nicht tun würde. Der Althistoriker Hartmut Leppin fährt dem Papst im FAZ-Feuilleton (das für Franziskus nicht viel übrig zu haben scheint) in die Parade: "Interkonfessioneller Präsentismus hat aus der Bibel die schlichte Welt der 'Guten Nachricht Bibel' geschaffen. Sie übersetzt beim Vaterunser betulich: 'Und lass uns nicht in die Gefahr kommen, dir untreu zu werden.' Päpstlicher Präsentismus werkelt jetzt ebenfalls an der Übersetzung des Satzes. Man muss nicht gläubig sein, um sich an dem unhistorischen Charakter dieser gefälligen Übersetzungen zu stören."
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Medien

(Via turi2) Mit der Kampagne "Jedes Wort wert" machen deutsche Zeitungsverleger die Leser auf ihre inhaltliche Relevanz aufmerksam (hier die Website der Kampagne):



Da die Verleger aber die sozialen Netze nicht bespielen, ergänzen die Freischreiber die Kampagne mit der Kampagne "Jedes Wort ist's wert" und machen die Verleger auf die geringen Honorare der freien Journalisten aufmerksam:



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Ideen

Die Flüchtlinge sind nicht die wahren Opfer des globalen Kapitalismus, meint Slavoj Žižek in der NZZ, sondern die Zurückgelassenen. "Sollen die linken Intellektuellen also das humanitäre Spiel blind mitspielen und sich allein um die Flüchtlinge kümmern? Oder sollten sie sich vielmehr darauf konzentrieren, das System zu unterminieren, das diese Flüchtlinge erst hervorbringt? Sollten sie sich zu gefühlter Solidarität mit den exotischen anderen bekennen? Oder sollten sie zeigen, wie das System, das die Zurückgebliebenen überflüssig macht, irgendwann auch die Mehrheit von uns allen überflüssig macht? Ohne einen Wandel unserer ökonomischen Ordnung wird unsere Situation immer irrationaler."
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Internet

Das Google-Schach-Programm Alpha Zero, das in seiner Go-Version neulich als erste Maschine einen Weltmeister schlug, ist nun das mächtigste Schachprogramm überhaupt, schreibt Hartmut Metz in der taz. Selbst der brillanteste Weltmeister hat dagegen keine Chance mehr - die eigentliche Meldung ist daher, dass Alpha Zero Stockfish, ein anderes Schachprogramm, hinwegfegte: "Alpha Zero brachte sich das Schachspiel in nur vier Stunden anhand von Großmeister-Partien selbst bei und sammelte in der Zeitspanne mehr Erkenntnisse als der Mensch in den rund 1.500 Jahren des königlichen Spiels zuvor! Schachfans fühlen sich womöglich an den Film 'Matrix' erinnert und halten denkende Roboter für die Wachablösung."
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Europa

Pavel Safr war einst ein sehr bekannter Journalist in Tschechien, dann hat er sich wegen der Unterwanderung der Medien durch Oligarchen mit dem Forum 24 selbständig gemacht. Im Interview  Alexandra Mostyn von der taz malt er ein düsteres Bild des neuen tschechischen Ministerpräsidenten Andrej Babis, der gerade eine Minderheitsregierung bildet: "Babis ist das Symbol der tschechischen Oligarchie. Weil er in sich alles vereint, was einen Oligarchen ausmacht: eine Vergangenheit in der Kommunistischen Partei und der Staatssicherheit, Kontakte aus dem Außenhandel und ein rücksichtsloses Vorgehen während der wirtschaftlichen Transformation der 1990er Jahre. Von dem Gewinn, den Babis dadurch gemacht hat, dass er mit dem Staat handelt, hat er sich den Staat jetzt gekauft. Beziehungsweise seine Wähler."

Elias Perabo und Ferdinand Dürr, Leiter der deutsch-syrischen Menschenrechtsorganisation Adopt a Revolution, können es nicht fassen, wie gleichgültig die Europäer in Syrien den Kriegsverbrechen von Iranern, Russen und Assad gegenüber stehen: "Europa mag sich als moralische Instanz aufspielen", schreiben sie in der NZZ, "doch während es mit dem Bedauern der Geschehnisse beschäftigt ist, schaffen andere Akteure Fakten. Schlimmer noch: Die eigene Realpolitik Europas zeigt, wie groß die Diskrepanz ist zwischen der rhetorischen Betroffenheit und dem realen Einsatz für Menschenrechte. Europäische Konzerne stehen in Teheran Schlange, um nach den wirtschaftlichen Lockerungen im Zuge der Atomvereinbarung Geschäfte zu machen; die Pipeline North Stream 2 von Russland wird in Deutschland ebenso ungern infrage gestellt wie die Waffenexporte nach Saudiarabien, und ohne allzu große Skrupel paktiert man mit den üblen Despoten, um Flüchtlinge zurückzuschieben."
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