9punkt - Die Debattenrundschau

Jetzt emanzipiert sich die Puppe

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
16.11.2017. In der NZZ blickt Pascal Bruckner mit Schrecken auf ein Amerika im Niedergang. In der FAZ prangert der linke Soziologe Wolfgang Streeck nochmal Angela Merkels "Entgrenzungspolitik" an und sieht AfD-Politiker als die letzten Recken der Globalisierungskritik. In der Zeit verteidigt Gerhard Schröder Putin. In der Welt erzählt die katholische Autorin Birigit Kelle, dass sie von Facebook gesperrt wurde, weil sie die brandneue Barbie mit Hidschab kritisierte - die von der taz und Zeit online als ein Fortschritt für alle "Women of Color und Musliminnen" gefeiert wird.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 16.11.2017 finden Sie hier

Ideen

Amerika ist im Niedergang begriffen, und der hat nicht erst mit Donald Trump begonnen, meint Pascal Bruckner in der NZZ: "Wenn Amerika uns zur Verzweiflung bringt, wenn es aufgehört hat, ein Vorbild der Zivilisation zu sein, dann deshalb, weil es keine Alternative zu den Eskapaden ihres Präsidenten mehr bietet. Wir sind gefangen zwischen dem Amboss eines brüllenden Tribuns und dem Hammer der Political Correctness. Die einzige Gemeinsamkeit zwischen Fox News und der New York Times ist ein Dünkel, der sich aus dem Bewusstsein nährt, Teil einer Weltmacht zu sein. Nur, der Dünkel hat keine Berechtigung mehr, weil die Welt keine Lust mehr hat, sich amerikanisch zu geben. An die Stelle des Klassenkampfs, der aus der Alten Welt kam, hat Amerika den Kampf der Rassen gesetzt, an die Stelle des universalistischen Feminismus Europas den unbegrenzten Krieg zwischen Männern und Frauen, die unendliche Zersplitterung der Gesellschaft in Minderheiten, die peinlich genau darauf achten, ihre Eigenheiten und Rechte zu verteidigen."

Das ist wohl so die Art Artikel, die das FAZ-Feuilleton für Debattenknüller hält: Der linke Soziologe, Kritiker der EU, des "Neoliberalismus", der Einwanderung, der Globalisierung und der Merkelschen "Ent­gren­zungs­po­li­tik" Wolfgang Streeck darf auf der ganzen Auffmacherseite des Feuilletons unter der Überschrift "Merkel - ein Rückblick" die Bundeskanzlerin und ihre Überlebenstechnik der Politikwechsel für obsolet erklären und bemerkenswert zwiespältig vor AfD-Politikern warnen, die "sich nicht zu Unrecht als die Einzigen zu präsentieren, die die Krisen moderner Staatlichkeit im Zeitalter neoliberaler Globalisierung zur politischen Sprache bringen".
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Europa

Josef Joffe unterhält sich für die Zeit mit Gerhard Schröder über den Zustand der SPD, ökonomische Kompetenz, Einwanderung, autoritäre Populisten und die Annexion der Krim durch Putin, die er nicht verurteilen möchte: "Hätte Chruschtschow nicht geglaubt, dass die UdSSR so alt wird wie die katholische Kirche, dann hätte er 1954 die Krim nicht der Ukraine, damals ja Teil der Sowjetunion, geschenkt."
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Kulturpolitik

Barbara Möller hat für die Welt in den Landesparlamenten nachgesehen, was die AfD so unter Kulturpolitik versteht und kann "schon mal vorweg vermelden: nicht viel. Kein Wunder: Der eine oder andere muss da von seiner Partei offenbar schon mit vorgehaltener Pistole gezwungen werden, einen Platz im Kulturausschuss einzunehmen. Zum Beispiel die nordrhein-westfälische Abgeordnete Gabriele Walger-Demolsky, die der Ansicht ist, dass diese Arbeit 'für einen wirtschaftlich denkenden Menschen Höchststrafe bedeutet'."
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Religion

Eine Barbie mit Hidschab, die die kleinen Mädchen muslimischer Herkunft auf ihre künftige Rolle vorbereitet ("Unsere Altersempfehlung: ab 3 Jahre" heißt es bei Amazon zu Barbies im allgemeinen), sorgt für Aufregung. Die katholische Autorin Birgit Kelle teilt in der Welt mit, dass sie eine siebentätige Facebook-Sperre bekommen habe, weil sie folgenden Satz schreib: "Und so drängte sich mir die Frage auf, ob es demnächst wohl auch das Barbie-Haus gibt, in dem der liebe Ken seine Barbie auspeitschen oder steinigen lassen kann, wenn sie den hübschen Hidschab ablegen will?" Laut kath.net hob Facebook die Sperre am Mittwochabend auf.

Die "tugendhaft gekleidete" Barbie erhält aber auch Zuspruch, weil sie nach der Figur der olympischen Fechterin Ibtihaj Muhammad geformt ist. Sibel Schick bekennt sich darum in der taz zu der neuen Barbie: "Diese Öffentlichkeit ist eine Anerkennung, und sie ist wichtig, weil die Erfolge der Women of Color und Musliminnen schon zu lange nicht thematisiert wurden, oder ihnen die Türen gar verschlossen blieben. Unabhängig davon, ob alle Barbies der Welt die Wahl selbst treffen, sich zu verschleiern, weist die Puppe viele Mädchen mit Kopftuch darauf hin: Auch du kannst so sein wie Ibtihaj."

Begeistert begrüßt auch Ferdinand Otto in Zeit online die neue Barbie: "Jetzt emanzipiert sich die Puppe ihrerseits von einem angestaubten Klischee, künftig schwingt sie auch einen Säbel und trägt Hidschab."
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Internet

Nicht nur der Fall Birgit Kelle zeigt, dass sich Facebook nach Heiko Maas' Netzwerkdurchsetungsgesetz zu Zensur bemüßigt fühlt. Schon letzte Woche berichtete Netzpolitik, dass türkeikritische Autoren bei Facebook auf mysteriöse Weise Follower verlieren (unser Resümee). Der Autor Kerem Schamberger verlangte darauf von Facebook Daten. Markus Reuter berichtet nun auf Netzpolitik: "Schamberger bekam nach eigener Aussage weder die E-Mail, dass die Daten nun bereitgestellt seien, noch konnte er die Daten direkt auf Facebook herunterladen. Fünf Tage nach dem ersten Versuch beantragte er sie erneut. Dann habe er noch einmal acht Tage auf die Bereitstellung seiner Daten gewartet und keine bekommen." Auch der Blogger Joachim Steinhöfel berichtet bei Tichys Einblick über Follower-Schwund.
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Politik

Zum Coup in Simbabwe schreibt Dominic Johnson in der taz: "Dies ist .. kein Putsch junger Reformer, die sich an die Spitze einer gesellschaftlichen Veränderung stellen. Es ist allem Anschein nach zunächst einmal ein Coup der alten Garde, die ihre Haut retten will." Zu Robert Mugabe  hält Johnson fest: "Unabhängig davon, wie dramatisch er sein Land heruntergewirtschaftet hat, geht er als großer afrikanischer Nationalist in die Geschichte ein, und dafür wird man ihn zu Recht weiter verehren."

Außerdem: Luke Harding erzählt in einem longread für den Guardian, "wie Trump Putin ins Netz ging". Ein britischer Spion habe bereits vor längerem herausgefunden, dass Moskau Trump "seit Jahren kultiviert" habe.
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Medien

Das öffentlich-rechtliche Fernsehen muss unbedingt weiterexistieren, unabhängig davon, ob es geguckt wird, schreibt Esther Slevogt in der Nachtkritik. Sie habe zwar selbst seit sieben Jahren keinen Fernseher mehr, und "die Wahrheit war: ich vermisste das Fernsehen kein bisschen. Schon lange war es mir arg grau und ältlich vorgekommen. Die Filme meist doof, Kultursendungen oft ziemlich trutschig, die vielen Talkshows sowieso unerträglich, die Nachrichten mitunter seltsam ereignisfern." Aber nun gibt es in der Schweiz eine von den Rechtspopulisten betriebene Intiative, die Fernsehgebühren abzuschaffen, und Slevogt warnt: "Hier braut sich also ein Szenario zusammen, von dem große Ansteckungsgefahr auch für das bundesrepublikanische öffentlich-rechtliche System ausgeht."
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Gesellschaft

In einem Essay für den Tagesspiegel konstatiert Malte Lehming, dass sich Islamismus und Rechtsextremismus zum Verwechseln ähneln: "Auch Methoden werden kopiert. Der islamistische Terror fand sein Pendant etwa in dem islamfeindlichen norwegischen Massenmörder Anders Behring Breivik. In Charlottesville im US-Bundesstaat Virginia raste ein weißer Rassist absichtlich mit einem Auto in eine Menschenmenge, um so viele Gegendemonstranten wie möglich zu töten. Brandanschläge auf Moscheen in Europa sind keine Seltenheit mehr." Lehming verweist auf einen Essay Scott Atrans bei Aeon, der das Thema vertieft.

Der Soziologe Heinz Bude erklärt in der Zeit, wie in den letzten Jahren die Grundüberzeugungen von CDU, SPD, FDP, Grünen und ihren Wählern zerfallen sind: "Hat dann Angela Merkel doch recht mit ihrer Überzeugung, dass nur eine pragmatisch verbissene und ideologisch offene Politik Mehrheiten zustande bringen kann? Nein. Die politische Person von heute will mit ihrer Sorge fürs Ganze ernst genommen werden, sie will das Gefühl haben, dass es bei Wah­len um etwas geht, was über die eigenen Belange hinausgeht." Was genau das sein soll, scheint die politische Person von heute aber auch nicht zu wissen.
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