9punkt - Die Debattenrundschau

Hallo, Mao-Uniform

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
14.11.2017. Die Lage ist zwar hoffnungslos, aber nicht ernst. Der Atlantic legt die Kontakte zwischen Julian Assange und Donald Trump jr. offen - und die Ambition Assanges, australischer Botschafter in den USA zu werden. In Berlin beklagt sich Kultursenator Klaus Lederer auf Facebook über eine Veranstaltung im Berliner Kino Babylon: Der linksrechte Verschwörungstheoretiker Ken Jebsen sollte dort einen Preis bekommen - und das Kino wird von Lederer mit 400.000 Euro jährlich unterstützt. Der Guardian rechercheirt zum Fact Checking bei Facebook - keine Sorge, es funktioniert nicht.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 14.11.2017 finden Sie hier

Europa

Alex Marshall trifft für politico.eu den britischen Musiker Matthew Herbert, der ein zusammen mit Chor und Big Band ein ganzes Spektakel über und gegen den Brexit komponiert hat, das musikalisch offenbar sogar interessant ist: "Ein berührendes Stück daraus, das von der Londoner Sängerin Rahel Debebe-Dessalegne vorgetragen wird, wiederholt den Vers 'Be here, be still' wie ein Gebet und erinnert damit an den Mord der britischen Abgeordneten Jo Cox kurz vor der Brexit-Abstimmung. (Der Song handelt ursprünglich vom Suizid eines Verwandten des Komponisten). Für einen anderen Song, 'You're Welcome Here' singt Debebe-Dessalegne über die Menschen, gegen die die Brexit-Kampagne giftete... 'Im Chor waren Kontinentaleuropäer, denen die Tränen kamen, als sie das zuerst probten', sagt Herbert. 'Einer sagte: 'In meinem ganzen Leben hat mir noch nie jemand gesagt, du bist willkommen.'"

In der NZZ macht Javier Cercas die Lügen der Unabhängigkeitsbewegung verantwortlich für den derzeitigen Zustand Kataloniens: "Wir, die Katalanen, so die Mär, seien das genaue Gegenteil der Spanier: fröhlich, gebildet, gütig, strebsam, friedlich, demokratisch und europäisch. Kulturell und wirtschaftlich aber seien wir unterdrückt und historisch erstickt von der brutalen hispanischen Raubgier.  Alle nationalistischen Regierungen Kataloniens haben diese narzisstische Fiktion gehegt und gepflegt. Seit Beginn der Demokratie verfügte man am Regierungssitz in Barcelona über Macht und über Geld, das man in letzter Zeit (oder vielleicht gar von Anfang an) in den Dienst des Prozesses der Unabhängigkeit stellte, was einem absoluten Mangel an Loyalität gegenüber dem spanischen Staat gleichkam - einem Staat, der zu den dezentralisiertesten der Welt gehört."

In der NZZ beschreibt die russische Schriftstellerin Elena Chizhova das System aus Korruption und Macht in ihrem Land: "Ich muss diejenigen enttäuschen, die Korruption als eine verwerfliche Eigenschaft des russischen sozialökonomischen Systems oder, wenn man so will, als schwere Krankheit dieses Systems ansehen. In Wirklichkeit ist die russische Korruption das System selbst. Die teils gravierenden, teils unerheblichen Details nimmt der Privatmann für gewöhnlich nur in zwei Fällen zur Kenntnis: wenn er selbst jemandem 'etwas zusteckt' oder wenn das Fernsehen wieder einmal über die spektakuläre Verhaftung einer in korrupte Machenschaften verwickelten bedeutenden Persönlichkeit berichtet. Was in den 'höheren Kreisen' vor sich geht, ist sozusagen Haute-Couture-Korruption. Der einfache Russe kommt weit häufiger mit der Prêt-à-porter-Korruption in Berührung."

In der NZZ gibt der Politiker Claudio Zanetti von der rechtspopulistischen Schweizer Volkspartei (SVP) dem Medienchef des Bistums Chur, Giuseppe Gracia, Rückendeckung, der kürzlich beklagt hatte, dass konservative Christen sich keineswegs mehr frei äußern dürften (unser Resümee): "Bei uns in der Schweiz durfte der 'Marsch fürs Leben' 2017 gar nicht erst stattfinden. Damit wurde Abtreibungsgegnern ein Grundrecht verweigert. An der Tagesordnung ist auch das Verunglimpfen von konservativen Politikern und Publizisten, ja selbst dezidiert liberalen Zeitgenossen, die das links-grüne Gesinnungsdiktat punkto Migration oder Islam nicht mitmachen - dahinter stehen die Hohepriester der politischen Korrektheit. In der totalitären Tradition der Antifa befinden einige im Wettbewerb der Ideen und Meinungen ex cathedra über Gut und Böse."

In der SZ erklärt die Kriminologin Monika Frommel, wie massiv Abtreibungsgegner ihre Vorstellungen inzwischen auch in Europa versuchen durchsetzen: So nutze etwa Klaus Günter Annen, der die Webseite "Babycaust" betreibt, den 1933 geschaffenen Paragrafen 219a StGB, wonach Werbung für Abtreibung verboten ist, um Ärzte gerichtlich zu verfolgen: "Das Amtsgericht Gießen wird also demnächst über einen bizarren Fall (Az 507 Ds-501 Js 15031/15) verhandeln. Eine Gynäkologin setzte auf ihrer Webseite einen Link, der es potenziellen Patientinnen ermöglicht, eine ärztliches Gespräch und eine Beratung wegen eines Schwangerschaftskonfliktes zu erhalten. Die Richterin muss nun darüber entscheiden, wie sie mit einem Gesetz umgeht, das 1933 dazu diente, jüdische, kommunistische oder liberale Ärztinnen und Ärzte einzuschüchtern, zu vertreiben oder zumindest die Approbation entziehen zu lassen."
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Kulturpolitik

Das Berliner Kino Babylon am Rosa-Luxemburg-Platz sorgt nicht zum ersten Mal für Negativ-Schlagzeilen: Jetzt soll dort dem Querfröntler und seinerzeit wegen wirrer Aussagen zur Schoah beim RBB geschassten Ken Jebsen ein Preis verliehen werden, begleitet von einem Auftritt der Band "Die Bandbreite", die auch bei der NPD und Jürgen Elsässer Anklang findet, wie Kultursenator Klaus Lederer in einem Facebook-Posting entsetzt feststellt. Für ihn ist die Veranstaltung am Rosa-Luxemburg-Platz ein "Jahrmarkt der Verschwörungsgläubigen und Aluhüte" - dass seine Behörde das Kino Babylon mit reichlich Fördermittel ausstattet, erwähnt er allerdings sehr geflissentlich nicht: Im kommenden Jahr über 400.000 Euro, wie eine Twitter-Anfrage von Tagesspiegel-Redakteur Johannes Bockenheimer ergeben hat. Bleibt die Frage, ob diesem Entsetzen nicht auch kulturpolitische Konsequenzen folgen sollten.

Hier die Darstellung der Veranstaltung auf der Website des Babylon (die inzwischen entfernt ist, heute morgen aber im Google-Cache noch zu finden war):

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Gesellschaft

Eine amüsante Szene schildert Juri Sternburg in der taz. Seine Freundin schminkt sich wie jeden Morgen, während er ihr einen Zeit-online-Debattenbeitrag der Soziologin Barbara Kuchler vorliest, die eine Gender-Neutralisierung von Kleidung fordert (unser Hinweis): "Ich lese laut vor, während vor dem Spiegel nebenan die Wimperntusche eingesetzt wird: 'Wer morgens vorm Spiegel den Eyeliner zückt, malt mit an der schönen Seite einer gesellschaftlichen Ordnung, deren hässliche Seite das Grapschen und Einsammeln von Frauen als Jagdtrophäe ist' (Hallo, Victimshaming!). Oder: 'Modemacher: Symmetrisiert die Frauen- und Männermode!' (Hallo, Mao-Uniform!). 'Politiker, Frauenminister: Droht mit der Regulierung der Modeindustrie' (Hallo, Diktatur!). Aus dem Wohnzimmer schnaubt es erstmals empört."

Die Berichterstattung über Missbrauchsfälle gleitet immer mehr in voyeuristisches Infotainment ab, ärgert sich in der NZZ Claudia Schwartz. Dass der verstorbene Elie Wiesel, der angeblich einer Frau in den Po gekniffen haben soll, neben Harvey Weinstein auf einer Liste von Männern steht, die des sexuellen Missbrauchs bezichtigt werden, findet sie ebenso fragwürdig wie Ridley Scotts Entscheidung, Kevin Spacey aus seinem neuen Film herausschneidet: "Man fühlt sich angesichts solch filmischer Beschneidung an die McCarthy-Ära erinnert, als die Denunziation von vermeintlichen Kommunisten nicht nur ein politisch gefordertes moralisches Gebot war, sondern überhaupt zur Voraussetzung für das eigene berufliche Fortkommen wurde. Es ist nicht bekannt, dass der 79-jährige Regisseur von Filmen wie 'Alien' oder 'Thelma & Louise', der innerhalb dieses Systems groß wurde und die Hollywoodschen Verhältnisse bestens kennt, sich je vorher in solcher Art gegen diese stellte."

All denen, die jetzt beklagen, sie wüssten schon gar nicht mehr, wie sie sich Frauen gegenüber verhalten sollen, gibt Susan Vahabzadeh in der Süddeutschen einen Tipp: Fragen Sie sich einfach, was Ihr Vorgesetzter dazu sagen würde. "Keiner pfeift seinem Chef hinterher; und daran erkennt man schon, dass beispielsweise Hinterherpfeifen nicht zum guten Ton gehört."
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Geschichte

In Berlin hat sich eine Initiative gegründet, die sich für ein Denkmal zum Gedenken an die polnischen Opfer der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg einsetzt, berichtet der Dlf Kultur. "Der Journalist Martin Sander hat im Deutschlandfunk Kultur die Idee für das neue Denkmal erläutert. Wichtig sei der angestrebte Standort: Die Initiative schlägt vor, es am am Askanischen Platz neben dem Anhalter Bahnhof zu errichten. So stünde das Denkmal direkt gegenüber vom künftigen Dokumentationszentrum der Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung. Klar sei, dass es um ein Denkmal und nicht um einen Gedenkort gehe. Parallel gebe es seit einiger Zeit auch Pläne, mit einem Gedenkort an die Opfer der deutschen 'Lebensraum'-Politik in Polen und auch anderswo zu erinnern. Absprachen habe es aber offensichtlich nicht gegeben, sagte Sander."

Im Interview mit der Berliner Zeitung erinnert Wolfgang Thierse daran, dass die Idee für so ein Denkmal auf den verstorbenen Publizisten und Politiker Władysław Bartoszewski zurückgeht: "Er hat immer und immer wieder gesagt, dass wir auf intensive Weise an die Verbrechen der Vergangenheit erinnern. Das hat er begrüßt und auch bewundert. Aber er war auch der Meinung, dass wir im Verhältnis zu den Polen etwas - ich formuliere es nun salopp - 'unterbelichtet' seien. Da gibt es nicht die gleiche intensive Auseinandersetzung mit deutscher Schuld, wie, richtigerweise, im Fall der Ermordung der Juden oder im Fall deutscher Verbrechen in der Sowjetunion. Dem ein stärkeres Gewicht zu geben, ist das Motiv, das uns dazu geführt hat, die Idee eines Denkmals umsetzen zu wollen."

Endlich setzt sich die Forschung auch mit dem Kunstraub der Nazi-Besatzer in Griechenland auseinander, schreibt Esther Widmann in der SZ. Da gebe es noch einiges zu tun, so Widmann und berichtet von einem der "dreisteten Diebstähle von Kulturgut aus Griechenland. Begangen hat ihn der österreichische Generalmajor Julius Ringel, Träger des Goldenen Parteiabzeichens der NSDAP. Auf Kreta stationiert, nahm er im September 1941 dem griechischen Wächter in Knossos den Schlüssel ab und bediente sich im von den Briten dort angelegten Museum an antiken Fundstücken. ... Die Objekte ließ er nach Graz bringen, wo ihm ein 'Kreta-Institut' an der Universität vorschwebte. So landete ein Teil der Objekte in der Sammlung der Universität. Nach 76 Jahren sollen nun voraussichtlich in diesen Tagen 26 Keramikgefäße an Griechenland zurückgegeben werden. Zu Ende ist dieser Fall damit nicht: Zahlreiche Stücke hortete Ringel auch einfach zu Hause. Sie sind heute im Besitz seiner Erben."
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Internet

Sam Levin, der Silicon-Valley-Korrespondent des Guardian, hat über das Fact Checking bei Facebook recherchiert, das vor ziemlich genau einem Jahr nach der Trump-Wahl mit viel Getöse initiiert wurde. Facebook arbeitet dafür mit Journalisten aus Stiftungen und Drittmedien zusammen, die sich in dem Artikel anonym und sehr unzufrieden äußern. "Einer der Factchecker sagte, dass Facebook sich weigere, die großen Zahlen von Journalisten und Experten anzuheuern, die eigentlich nötig wären für die schwireige Arbeit der Recherche. 'Ihre Beziehungen zu Organisationen in dem Feld sind längst nicht intensiv genug. Sie müssten das intern regeln. Sie müssten Armeen von Moderatoren und eigenen Factcheckern einstellen.'"

Ein Fall von Fakenews? In der FAZ erzählt Jan Grossarth, dass ein Beitrag des "obskuren Blogs" sciencefiles, der aktuelle Studien zum Insektensterben bestritt, von Bauernverbänden und Industrie begierieg aufgegeriffen wurde.
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Politik

Meldung des Tages aus einer immer finster clownesker werdenden Weltpolitik: Julia Ioffe berichtet im Atlantic von den Twitter-Kontakten zwischen Wikileaks-Chef Julian Assange und dem Trump-Sohn Donald Trump Jr. im Jahr 2016. Inhalt war natürlich die Verschwörung zum Nutzen des Wahlkampferfolgs: "Die Transparenz-Organisation bat um die Kooperation des Präsidentensohns und wollte ihn von ihrer Arbeit profitieren lassen, die Wahlergebnisse anfechten, und dafür sollte Julian Assange Botschafter Australiens in den USA werden." Der Austausch über Twitter-Direktnachrichten ist Teil der Akten für die Untersuchung russischer Einflussnahme bei den amerikanischen Wahlen, berichtet Ioffe.
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