9punkt - Die Debattenrundschau

Grâce aux agriculteur.rice.s

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
27.10.2017. Im Tagesspiegel prangert Klaus Rasch, dessen Frau in Berlin ermordet wurde, das Berliner Staatsversagen an. Bei Zeit online begrüßt der Raul-Hilberg-Biograf René Schlott die von Götz Aly angestoßene Auseinandersetzung um das Institut für Zeitgeschichte. In der Welt ruft Necla Kelek dem Anwalt Johnny Eisenberg, der ihr verbieten will, eine Berliner Moschee salafistisch zu nennen, ein "Allahu akbar, Herr Anwalt" zu. Die  Académie française hat laut Figaro einen Brandbrief gegen die "inklusive Schreibung" veröffentlicht, die eine "tödliche Gefahr" für die französische Sprache darstelle.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 27.10.2017 finden Sie hier

Europa

Heute ist in Katalonien "Tag der Entscheidung", schreibt Hans-Christian Rössler auf faz.net: Der "spanische Senat will zum ersten Mal in der Geschichte der spanischen Demokratie den Artikel 155 aktivieren, um die katalanische Regierung abzusetzen. Erklären die Separatisten dann endgültig die Unabhängigkeit?" Aktuelle Hintergründe auch in der Welt.

Wahrhaft erschütternd liest sich Maris Hubschmids Tagesspiegel-Interview mit Klaus Rasch, dessen Frau im Berliner Tiergarten von einem Obdachlosen ermordet worden ist (Beute: ein Handy und fünfzig Euro) und der das Berliner Staatsversagen im Vorfeld - Zustände im Tiergarten - und nach dem Mord anprangert. Nur ein Aspekt: "Schon als ich am Morgen nach dem Verschwinden die Vermisstenmeldung am Kaiserdamm aufgab, hielt man mich offenbar für einen überängstlichen Kontrollfreak. Ich kannte meine Frau. Sie hätte sich bei mir abgemeldet. Wir waren vierzig Jahre verheiratet. Den offiziellen Obduktionsbericht kenne ich bis heute nicht. Dass die Leiche gefunden wurde, habe ich aus den Medien erfahren."

Die Gießener Ärztin Kristina Hänel ist verklagt worden, weil sie auf ihrer Website mitteilt, dass sie Schwangerschaftsabbrüche durchführt und AbtreibungsgegnerInnen jede Art der "Werbung" nach Paragraf 129a vor Gericht bringen, berichtet Dinah Riese in der taz: "Wer im Netz nach Informationen zu Abtreibungen sucht, landet wegen des Verbots selten auf den Seiten von Ärzt_innen - umso eher aber auf denen von Abtreibungsgegner_innen, die Bilder von blutigen Föten und Mordvorwürfe posten. 'Das ist doch unzumutbar', sagt Hänel. Mit der Juristin Monika Frommel will sie notfalls durch alle Instanzen gehen."
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Kulturpolitik

Im Welt-Interview mit Rainer Haubrich spricht der Berliner Architekt Bernd Albers über die aufgrund des Wohnungsmangels notwendige Verdichtung von Großstädten, die vor allem in Berlin aber an der "Kiezmentalität" der Bürger scheitere: "Das hängt wohl auch mit dem Grad der Identifikation mit der eigenen Stadtmitte zusammen. Die ist in Köln oder Hamburg oder München sicherlich anders als in Berlin. Berlin hat sich geistig von seiner Mitte so weit entfernt und in die vermeintlichen Kieze zurückgezogen - der größte Kiez ist West-Berlin -, dass die Bewahrung des Status quo oberste Priorität zu haben scheint. Gleichzeitig fehlt es vielen Neubauprojekten an der Faszination für das genuin Städtische."

Da ist man in Saudi-Arabien schon einen Schritt weiter, berichtet Gerhard Matzig auf SZ-online. Während man im Westen noch fest daran glaubt, Städte müssten wie "Keimlinge" entstehen, soll dort für 500 Milliarden Dollar die schlüsselfertige Megastadt Neom gebaut werden, so Matzig: "Neom ist ein englisch-arabischer Neologismus und soll so viel heißen wie 'neue Zukunft', was den Begriff des 'Übermorgenlandes' ins Absurde steigert. Berichten zufolge soll Neom auf einer Fläche von sagenhaften 26 500 Quadratkilometern entstehen. Das entspräche etwa 30 Mal der mit 892 Quadratkilometern flächengrößten Gemeinde Deutschlands, also Berlin. Aber der Plan des Königreichs Saudi-Arabien sieht noch ganz andere Superlative vor. In der Stadt, deren erste Bauphase schon 2025 abzuschließen wäre, sollen später sogar mehr Roboter als Menschen leben."

Rose-Maria Gropp und Julia Voss führen für die FAZ mit Marcel Brülhart von der Stiftung des Kunstmuseums Bern ein resümierendes Gespräch über die Sammlung Gurlitt und Raubkunst: "Der Fall Gurlitt hat faktisch dazu geführt, dass die Museen erstens ihre eigenen Bestände systematisch und umfassend auf allfällige Provenienzlücken zu untersuchen beginnen. Und zweitens wird die Frage einer zeitgemäßen Auslegung der Prinzipien des 'Washingtoner Abkommens' wieder diskutiert. "
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Gesellschaft

Seit 2010 sind die Vorwürfe der sexuellen Belästigung gegen Terry Richardson bekannt, dennoch konnte er immer wieder in verschiedenen Magazinen wie Harpar's Bazaar oder dem Rolling Stone veröffentlichen. Auf SZ-online hofft Kathleen Hildebrand, dass sich mit dem Fall Weinstein hinsichtlich dieser "Kultur des Ignorierens" endlich etwas ändert: "Erst jetzt, langsam, und wer weiß für wie lange, wird auch der Gedanke aussprechbar, dass interessante Fotos und gute Filme vielleicht doch nichts sind, wofür man einem Menschen alles erlauben und vergeben muss. Vielleicht ist es Zeit, Abschied zu nehmen vom alten Klischee des genialen Psychopathen, dessen Übergriffe und Rücksichtslosigkeiten nur die dunkle Rückseite seiner Fähigkeit sind, große Kunst zu machen. Oder große Erfindungen. Oder große Geschäfte."

Eliten sind heute diejenigen, die sich dem Willen des Wählers, Zuschauers, Lesers, Users oder Konsumenten weitgehend anpassen, stellt Thea Dorn in der NZZ fest und beobachtet einen "Teufelskreis des Populären". Denn die Anbiederung führe nicht nur zu Lähmung, sondern auch zu Verachtung, glaubt Dorn: "Der spätmoderne Mensch, der Tag und Nacht aufgefordert wird, Bewertungen, Sternchen, Likes und Dislikes abzugeben, erträgt es immer weniger, wenn ihm jemand mitteilt, dass er nicht gedenkt, sich von seinem Urteil verrückt machen zu lassen. Doch je mehr der Voter und Rater die Macher, die immer devoter um seine Gunst buhlen, vor sich hertreibt, desto mehr beginnt er, sie zu verachten."

Die Unsterblichen der Académie française haben einen Brandbrief gegen die "inklusive Schreibung" veröffentlicht, die eine "tödliche Gefahr" für die französische Sprache bedeute, berichtet Marie-Estelle Pech im Figaro. Es geht um die Aufnahme weiblicher Formen, die dem großen Binnen-I im Deutschen entspricht: "Diese von bestimmten Feministinnen verfochtene Praxis, die die 'Unsichtbarmachung der Frauen' bekämpfen soll, sorgt seit einigen Wochen für große Debatten. Und schon im März ist ein Schulbuch für die Grundschule zum ersten Mal in inklusiver Schreibung erschienen. Dor liest man, dass  'grâce aux agriculteur.rice.s, aux artisan.e.s et aux commerçant.e.s, la Gaule était un pays riche' (dank der LandwirtInnen, der HandererInnen, der HändlerInnen war Galllien ein reiches Land)."
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Geschichte

In Zeit online äußert sich René Schlott, Autor einer Biografie über Raul Hilberg, über die von Götz Aly in einem im Perlentaucher veröffentlichten Vortrag vorgebrachten Vorwürfe gegen das Institut für Zeitgeschichte, das sich in  zwei Gutachten gegen eine Veröffentlichung von Hilbergs Standardwerk "Vernichtung der europäischen Juden" wandte. Auch er spricht die "Anmaßung des Hauses" an, "wonach nur die eigene Geschichtsschreibung Objektivität beanspruchen könne, die der von der NS-Verfolgung Betroffenen aber subjektiv und 'biografisch eingefärbt' sei. Dass dieser Vorbehalt nun ausgerechnet von Deutschen kam und von einer deutschen Institution, die ausdrücklich mit dem Auftrag gegründet worden war, über die NS-Herrschaft aufzuklären, entbehrt nicht einer bitteren Ironie."

Außerdem: Julia Smirnova besucht für die Welt eine Ausstellung im Lenin-Museum von Karasnojarsk über die Auswirkungen der Oktoberrevolution auf das russische Dorf.
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Religion

In der Welt schüttelt die Soziologin Necla Kelek den Kopf über Martin Germer, Pastor der evangelischen Berliner Gedächtniskirche und Johannes Eisenberg, Anwalt und taz-Gründer, die ihr, dem evangelischen Pressedienst und der Welt per Strafandrohung verbieten wollen, zu behaupten, die Dar-es-Salam-Moschee in Berlin Kreuzberg sei salafistisch. Neclek hatte den Pastor für seine Unterstützung der Moschee kritisiert (unser Resümee): "Mithilfe von juristischen Dienstleistern soll nun verhindert werden, dass der innerislamische Diskurs stattfindet. Ob die IGMG, die Muslimbrüder, die Salafisten oder ein geheimnisvoller Sponsor aus dem Orient - egal, wer die Moschee betreibt, es gilt der oft kolportierte Spruch eines türkischen Imams: 'Mit euren Gesetzen werden wir euch besiegen.' Hinzuzufügen wäre: und mit der Hilfe eines deutschen Anwalts und Unterstützung eines Pfarrers. Deshalb ist die Dar-es-Salam-Moschee nicht salafistisch. Und die Erde ist eine Scheibe. Allahu akbar, Herr Anwalt!"

Kulturprotestantisch war das Reformationsjubiläum ein voller Erfolg, meldet Matthias Kamann in der Welt. Eine "Wiedererweckung evangelischer Massenbegeisterung", wie sie sich die evangelische Kirche erhoffte, kann indes nicht festgestellt werden, so Kamann: "sie machten den grundlegenden Fehler, die Reformation als Gegenstand nicht der Verstörung und Irritation, sondern der Identifikation feiern zu wollen. Deshalb mussten sie zunächst aussortieren, womit sich tatsächlich nichts anfangen lässt: zumal Luthers Judenhass und die aggressive Frontstellung zwischen den Konfessionen. Sie wollten dann aber umso heller strahlen lassen, womit die Gegenwart sich wohlfühlen kann. Also wurden vermeintliche Errungenschaften der Reformation behauptet, als welche sie in geschichtswissenschaftlicher Verkürzung - wenn nicht Ignoranz - ausgegeben wurden: die Demokratie und der Sozialstaat, die Aufklärung und die Wissensgesellschaft sowie die Gleichberechtigung."
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Internet

Die ePrivacy-Verordnung der EU ist vom EU-Parlament entgegen Befürchtungen nun doch verabschiedet worden, freut sich Ingo Dachwitz bei Netzpolitik (hier legt er dar, was die Inhalte des Beschlusses sind). Unter anderem wird Online-Tracking erschwert, worauf verschiedene Werbeformen im Netz basieren. Was das für Internetmedien heißt, bleibt abzuwarten: "Presseverlegerverbände, die Verlagshäuser von Springer bis Spiegel vertreten, dämonisierten die Verordnung als 'Angriff auf den freien Journalismus', weil sie um die Einnahmen aus dem Geschäft mit überwachungsbasierter Werbung fürchten." Michael Hanfeld sagt dann in der FAZ auch gleich den Bankrott zahlreicher Medien an.

Und dann sollte man vielleicht noch diese drei Überschriften lesen, damit einem ein bisschen mulmig wird: "Alphabet-Quartalszahlen: Die Google-Mutter steigert den Umsatz um 24 Prozent - Aktie springt auf Allzeithochs, Börsenwert toppt 700 Milliarden Dollar" und der Quartalsgewinn lag bei 6,7 Milliarden Dollar, meldet unter anderem Meedia. "Amazon verzeichnet größtes Umsatzplus seit fünf Jahren", meldet turi2 - der Umsatz des letzten Quartals liegt bei 43,7 Milliarden Dollar. Und "Microsoft macht weiter Milliarden Dollar mit der Cloud", meldet golem.de.
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