9punkt - Die Debattenrundschau

Und Putin kann auch zufrieden sein

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
26.10.2017. Die Debatten um sexuellen Missbrauch gehen weiter: Die SZ bringt eine Reportage über eine große Gruppe von Männern zumeist pakistanischer Herkunft, die in verschiedenen britischen Städten mehr als tausend junge Mädchen jahrzehntelang sexuell missbraucht und zwangsprostituiert hatten. In Paris protestieren Feministinnen laut Libération gegen eine geplante Roman-Polanski-Retro der Cinémathèque, diese verwahrt sich gegen den "Zensurversuch".  Die FAZ empfiehlt eine Arte-Reportage über den jüdischen Jungen, der in Berlin von antisemitischen Mitschülern gequält wurde. Die FAZ stellt auch den Diskurs über Katalonien als bloßes Opfer des Franco-Regimes in Frage.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 26.10.2017 finden Sie hier

Gesellschaft

Nicht nur in Hollywood schweigt man, wenn es um sexuellen Missbrauch geht. In Britannien konnte der Komiker Jimmy Savile jahrzehntelang mit Wissen (oder Halbwissen) der BBC Kinder vergewaltigen. Und derzeit laufen Prozesse gegen eine große Gruppe von Männern zumeist pakistanischer Herkunft, die in verschiedenen britischen Städten mehr als tausend junge Mädchen jahrzehntelang sexuell missbraucht und zwangsprostituiert hatten, ohne das die Behörden, die Angst hatten, als rassistisch zu gelten, irgendetwas unternahmen, erzählt Cathrin Kahlweit in einer haarsträubenden Reportage für die Seite 3 der Süddeutschen: "Mehr als zwei Jahrzehnte lang hatten Eltern, Sozialarbeiter, auch die jungen Opfer selbst die Türen von Polizei und Stadtverwaltung eingerannt. Es gab Beweise, sie verschwanden. Es gab Zeugenaussagen, sie wurden nicht ernst genommen. Es gab Ordner mit Namen und Daten, mit DNA-Spuren und Protokollen. Sie wurden ignoriert. Den Eltern wurde gesagt, sie sollten sich selbst um ihre frühreifen Töchter kümmern, die besoffen in Autos fremder Männer aufgegriffen wurden, das sei nicht Sache der Polizei. Den Mädchen, unter ihnen auch viele Heimkinder, wurde gesagt, sie seien Schlampen, selbst schuld. Nichts wert." Und das geht so weiter, erklärt die Labour-Abgeordnete Sarah Champion der Reporterin: "'Mütter, einst selbst Opfer, kommen zu mir in die Sprechstunde, sie sind panisch. Sie sagen, Männer sprächen sie an und sagten: Deine Tochter ist fast schon so weit, sie ist reif.'" Champion ist bei Labour inzwischen "Persona non grata", lesen wir.

In Frankreich wenden sich feministische Initiativen gegen eine geplante Retrospektive der Filme Roman Polanskis in der Pariser Cinémathèque, berichtet Juliette Deborde in Libération und zitiert den Aufruf der Organisatorinnen: "'Durch diese ganz bewusste Themensetzung der Polanski-Retrospektive und die Leugnung krimineller Taten, die ihm vorgeworfen werden, bestärkt die Cinémathèque die Idee, dass die Vergewaltigung eines Kindes angesichts des 'Genies eines Künstlers' nicht so schwer wiege', schreibt die Gruppe 'Osez le féminisme' in einem Kommuniqué. In der letzten Woche hatte eine amerikanische Künstlerin den Regisseur beschuldigt, sie bei einer Fotositz im Jahr 1975 sexuell belästigt zu haben, obwohl sie nur zehn Jahre alt war." Die Cinémathèque hält laut Libé an der Retro fest und beklagt einen "schlichten Zensurversuch", mehr hier.

Eindringlich empfiehlt Michael Hanfeld in der FAZ die Arte-Reportage "Die Geschichte von Oscar, Opfer von Antisemitismus", die die Geschichte des jüdischen Jungen erzählt, der an einer Schule in Berlin-Friedenau von antisemitischen Mitschülern gequält wurde: "Von zwei Mitschülern wurde Oscar besonders drangsaliert und geschlagen. Als die Mitschüler ihn mit einer täuschend echten Replika-Pistole bedrohten und eine Scheinhinrichtung mit Kopfschuss an ihm vollzogen, war für Oscars Eltern das Maß voll." Im Netz ist die Reportage schon zu sehen.
Archiv: Gesellschaft

Geschichte

Der Historiker Götz Aly hatte vor einer Woche in einem im Perlentaucher veröffentlichten Vortrag belegt, dass das IfZ jahrzehntelang die Übersetzung von Raul Hilbergs Maßstäbe setzender Studie über den Holocaust hintertrieben hatte. Im Interview mit Alan Posener von der Welt macht er klar, dass es ihm dabei nicht nur um die Geschichte geht: "Wenn man ehrlich ist, setzt sich diese Linie bis zur annotierten Ausgabe von 'Mein Kampf' fort, wo man penibel Hitlers Lügen, Irrtümer und Halbbildung nachweist, als ob das entscheidend sei - und nicht die Tatsache, dass ein Gros der deutschen Akademiker einschließlich der Juristen und Historiker ihm als Führer folgten. Ich verstehe die damalige Abwehrhaltung aus der Zeit heraus. Aber wenn ich darüber schreibe, ist das keine Skandalisierung. Schon gar nicht ist es eine 'Diffamierung', wenn der junge Forscher Nicolas Berg diese Zusammenhänge aufdeckt, wie das leider auch bei Ihnen in der Welt stand."
Archiv: Geschichte

Europa

Paul Ingendaay kommt in der FAZ auf die Machtprobe zwischen Katalonien und der spanischen Zentralregierung zurück und stellt dabei auch den Diskurs über Katalonien als bloßes Opfer des Franco-Regimes in Frage: "Man könnte in diesem Zusammenhang daran erinnern, dass Madrid im Frühjahr 1939 die letzte Bastion im Kampf gegen den Diktator war und militärisch noch länger durchhielt als Barcelona; dass es geschmeidige Anpasser, Kollaborateure und Krisengewinnler auch unter Katalanen gab; dass zwar die katalanische Sprache und Kultur bedenkenlos unterdrückt wurden, die Region als ganze aber ähnliche Kompromisse mit dem Regime schloss - und schließen musste - wie Asturien, die Extremadura oder Madrid."

In der Zeit plädieren die Philosophen Alexander García Düttmann und Christoph Menke dafür, den Katalanen zu vertrauen: Es gehe ihnen nicht um den Eigennutz einer reichen Region, die nichts abgeben will. "Es geht um ein gelebtes Verständnis von Demokratie, um eine demokratische Praxis, die letztlich von der Überzeugung zehrt, dass Europa mehr sein kann als der Name einer Politik, die an der Abdankung der Politik und für die neo-liberale Allianz mit dem Kapital arbeitet." Auch der Völkerrechtler Bardo Fassbender fordert in der FAZ eine Solidarität der EU mit den sezessionistischen Bestrebungen der Katalanen.

Theatermacher Milo Rau ist da schon weiter, wie er im Interview mit der Zeit erklärt. Zunächst einmal tagt am 2. November in Berlin ein von ihm einberufenes Weltparlament. Und dann wird der Nationalstaat abgeschafft. Er wolle "eine regional organisierte Welt - dass es also Stämme gibt, sagen wir Katalonien, und dann keine Natio­nen mehr, sondern gleich das Weltbürgertum. Dazu braucht man regionale Selbstverwaltung und darü­ber ein Weltbürgerrecht, ein Weltsteuerrecht, das kann man in den nächsten dreißig Jahren schaffen."

Auperdem: die beste Meldung des Morgens bringt unter anderem die Berliner Zeitung: der deutsche Menschenrechtler Peter Steudtner wird aus türkischer Haft entlassen und vielleicht heute schon in Deutschland erwartet.
Archiv: Europa

Kulturpolitik

In der SZ ist Jörg Häntzschel begeistert vom renovierten Wiener Weltmuseum, das dem Humboldt-Forum zeigt, wie man sich produktiv mit der eigenen Geschichte auseinandersetzt: "Es beginnt schon bei einer Korrektur der eigenen Rolle: Der Anspruch, von Wien aus die Welt zu erklären, ist obsolet. Doch was kann an die Stelle dieses europäischen Master-Narrativs treten? (...) In Wien .. ersetzt man Letztgültiges durch Essayismus und die Autorität der Institution durch persönliche Stimmen von Vertretern der Herkunftsländer und Kuratoren. Sie geben jedem Saal einen eigenen Ton und Charakter und sind deshalb auch jeweils namentlich aufgeführt. Statt nun anhand der Objekte die Kulturen darzustellen, berichten die Erzähler hier von den Beziehungen der Kulturen, die sich über die Objekte ergaben. Das Museum und seine Sammlungen sind der Punkt, an dem sie sich kreuzen, eine Art Drehscheibe des kulturellen Austauschs."

Ein anderes gutes Beispiel für den Umgang mit der Vergangenheit ist die Berliner Ausstellung "Unvergleichlich: Kunst aus Afrika im Bode-Museum", meint Susanne Memarnia in der taz: "Experimentell werden dort je dreißig Objekte aus der außereuropäischen ethnologischen Sammlung solchen der europäischen Skulpturensammlung gegenübergestellt - und verglichen. Warum wurden die einen Objekte als Ethnologica gesammelt, die anderen als Kunstwerke? Diese zentrale Frage, die die Ausstellung aufwirft, ist nicht nur für Kunsthistoriker interessant. Wer definiert, was Kunst ist und was 'primitiv', beansprucht Deutungshoheit und erhebt sich über den anderen. So wie es Europa über Afrika getan hat."
Archiv: Kulturpolitik

Ideen

In den heutigen Ländern Mittelost- und Osteuropas mit ihren Demagogen und Populisten hat sich leider auch Milan Kunderas "Mitteleuropa"-Idee pulverisiert, sagt der ungarisch-serbische Autor Lászlo Végel im Gespräch mit Djordje Krajišnik im Tagesspiegel: "Die neuen Ereignisse in Mitteleuropa revidieren Kunderas These, die Russen hätten Mitteleuropa versklavt. Nein, nach dem Fall der Berliner Mauer hat Mitteleuropa selbst Jalta mit einer neuen imaginären Linie fortgesetzt. Stalin würde darüber lächeln, und Putin kann auch zufrieden sein, denn seine Ideen erobern die Region ohne russische Bajonette."

Außerdem: In Zeit online fragt sich Tomasz Kurianowicz, inwieweit eine Debatte zwischen Frauen und Männern über Sexismus überhaupt möglich sei und ob er sich in die Gefühlslage einer belästigten Frau einfühlen könne. Dabei verweist er auch auch einen Essay der Tagesspiegel-Kollegin Anna Sauerbrey über den Abgrund zwischen den Geschlechtern. In der NZZ beleuchtet Paul Jandl den Wandel des  Drohbriefs in der Mediengeschcihte.
Archiv: Ideen

Internet

Erbitterten Widerstand leisten Internetdienstleister gegen die geplante ePrivacy-Verordnung der EU, die das Tracking und Cookies erschweren will - darauf basiert heute ein Großteil der Werbung, die den Nutzer durchs Netz verfolgt, schreibt Svenja Bergt in der taz: "Der Bundesverband Digitale Wirtschaft (BVDW) zum Beispiel ist einer der erbittertsten Gegner der Verordnung. Seine Mitglieder fürchten: Werbung im Internet wäre nicht mehr möglich. Anbieter, die sich derzeit über Werbeeinblendungen finanzieren, würden ihre Einnahmequelle verlieren. Es sei das 'Ende des freien Internets, wie wir es heute kennen', teilte Verbandsvize Thomas Duhr nach der Abstimmung im EU-Ausschuss mit. Und Sprecher Tim Sausen erklärt: 'Es ist unwahrscheinlich, dass sich das Nutzungsverhalten so fortsetzt.' Dass also Nutzer das Tracking akzeptieren." Informative Hintergründe zu der Abstimmung bringt Ingo Dachwitz in Netzpolitik.
Archiv: Internet