9punkt - Die Debattenrundschau

Jahrelang ein offenes Geheimnis

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
10.10.2017. Heute wird wird der katalanische Regionalpräsident Carles Puigdemont möglicherweise die Unabhängigkeit erklären - und die spanische Regierung wird den Artikel 155 der Verfassung anwenden, vermutet politico.eu. Stinkbeleidigt antwortet die ARD auf einen Spiegel-Titel, der die Anstalten kritisierte. In der NZZ fordert Karl Schlögel die Aufrechterhaltung der Sanktionen gegen Russland. Nach den Enthüllungen gegen den Filmmogul Harvey Weinstein sprechen laut New York Times und Guardian die Frauen - und die Männer schweigen. Bei Medium verteidigt Lawrence Lessig Hillary Clintons Buch über ihre Niederlage.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 10.10.2017 finden Sie hier

Europa

Am späten Nachmittag wird der katalanische Regionalpräsident Carles Puigdemont seine viel erwartete Rede halten und wahrscheinlich in mehr oder weniger milder oder radikaler Form die Unabhängigkeit deklarieren. Die Zentralregierung wird dann wohl den Artikel 155 der spanischen Verfassung anwenden, vermutet Diego Torres in politico.eu: "Der Artikel 155 wurde noch nie benutzt und gilt weithin als die 'nukleare Option', um eine rebellische Region auf die Knie zu zwingen. Ein ehemaliger Offizieller des Partido Popular von Mariano Rajoy sagt, dass der Artikel 155 wohl benutzt würde, um das gesamte katalanische Kabinett abzusetzen, seine Befugnisse zu übernehmen und das Regionalparlament aufzulösen, um dann wenige Monate später Neuwahlen auszurufen." Die SZ berichtet unterdessen, dass sich die Bürgermeisterin von Barcelona, Ada Colau, gegen eine einseitige Unabhängigkeitserklärung Kataloniens ausgesprochen hat.

In der NZZ fordert der Historiker Karl Schlögel die Europäer - und ganz besonders die Deutschen, die besonders putinophil sind - auf, an den Sanktionen gegen Russland festzuhalten: "Es gehört zu den Anmaßungen der sich als Freunde Russlands gerierenden Putinophilen, den Bürgern Russlands nichts zuzutrauen: Russland sei immer schon anders gewesen, und daher seien sie dazu verurteilt, für immer in autokratischen Welten zu leben. Das ist die Haltung von Wohlmeinenden, die Russland von oben herab behandeln, statt auf Augenhöhe mit ihm zu reden und festzuhalten: Die Zeit des Imperiums ist vorbei, Russland wird lernen müssen, mit anderen Völkern von Gleich zu Gleich zu sprechen und nicht wie der große Bruder zum kleinen."
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Medien

Stinkbeleidigt antwortet die ARD (ganz anstaltsmäßig unsigniert) auf den Spiegel-Titel, der die Öffentlich-Rechtlichen alles in allem recht zahm kritisierte: "Es ist nicht das erste Mal, dass Printjournalisten der Ansicht sind, ihnen gehöre publizistisch das Internet. Doch das Netz ist konvergent, ein Schmelztiegel aller Kommunikationsgattungen, Text, Foto, Grafik, Video, Audio, Foren und ein Tummelplatz für Fake News und Hasskommentare. Jeder kann sich heute im Netz überall informieren - oder manipulieren lassen." Aber nur einer ist automatisch finanziert!

Stefan Koldehoff spricht im Deutschlandfunk die Schwäche des Spiegel-Artikels an: "Überhaupt klingt der Text der vier Kolleginnen und Kollegen für Spiegel-Verhältnisse seltsam unentschieden. Statt eigener Argumentation: Verlegerpräsident Döpfner. Der hat übrigens mindestens so viel politischen Einfluss, wie nun den öffentlich-rechtlichen Sendern unterstellt wird."

Welt-Redakteur Christian Meier inspiziert den von der Politik geforderten Sparplan der Öffentlich-Rechtlichen, der ihn  nicht beeindruckt (die ARD will bis 2028 588 Millionen Euro sparen, bei Jahreseinnahmen von 5,6 Milliarden Euro): "Es ist nachvollziehbar, dass man sich in den Anstalten nicht selbst beschneiden will. Doch um das öffentlich-rechtliche System für viele Generationen bestandsfest zu bauen, braucht es mittelfristig einen Befreiungsschlag. Das könnte beispielsweise eine weitgehende Annäherung oder gar Fusion von ARD und ZDF sein - was gerne als populistische Forderung abgetan wird. Doch niemand würde heute noch auf die Idee kommen, es brauche zwei getrennte Anstalten, um den Auftrag der Öffentlich-Rechtlichen sinnvoll zu erfüllen."
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Ideen

Im Interview mit der NZZ legt der amerikanische Ökonom Richard Florida seine Ideen dar, wie die enorm gewachsene Kluft zwischen Stadt und Land zu überwinden sei. Dezentralisierung ist sein Motto: "Weniger Föderalismus, mehr Lokalismus und Devolution, der Übertragung von parlamentarischer Gewalt an lokale Behörden. Wenn Städte weiterhin prosperieren und gleichzeitig die USA als Nation bestehen sollen, sollten wir die föderale, vertikale Gewaltentrennung ernsthaft überdenken und neu austarieren, um die Macht der Bundesregierung umzuverteilen. Kurzfristig brauchen wir integrierten Wohlstand auf lokaler Ebene durch die forcierte Zusammenarbeit von lokalen Unternehmen, Gewerkschaften, Nachbarschaftsgruppen und Ortsbeiräten. So schafft man Wert, den man sich leisten kann bei weniger Segregation. Das Langzeitszenario dahinter muss die nachhaltige Übertragung von politischer Macht auf die Lokalebene sein."
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Politik

Hillary Clintons Buch über ihre Niederlage ist vielfach verrisssen worden - zu Unrecht, schreibt Lawrence Lessig, selbst früh gescheiterter Präsidentschaftskandidat, bei Medium, denn es sei eine ehrliche Bilanz. Und doch spreche Clinton einen entscheidenden Punkt nicht ausreichend an: Die Krise der Repräsentation, das tiefe Misstrauen gegen die Institutionen. Clinton spreche in ihrem Buch immer noch wie zu Bekehrten: "Ich fürchte, dass dieser Punkt zu vielen Menschen auf unserer Seite immer noch aus dem Blick gerät. Diese Blindheit überlässt der Partei des Neins ein riesiges Feld - nein zu Steuern, zu Gesundheitsfürsorge, zu sozialer Sicherheit, zu Datenschutz, zu Netzneutralität, zu Famlienplanung, zu Dreamers. Wenn wir die Partei des Neins besiegen wollen, müssen wir Amerika einen Grund geben an das Ja zu glauben. Und das können wir nur, wenn wir sie überzeugen, dass die Regierung für sie arbeitet, nicht für die Spender, die Lobbyisten, die Firmen, die sie die ganze Zeit glücklich machen will."
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Kulturmarkt

In der FAZ erklärt Juergen Boos, Direktor der Frankfurter Buchmesse, warum für ihn auch rechtsextreme Verlage wie Antaios auf die Buchmesse gehören: "Wir wollen ... niemanden ausschließen. Die Frankfurter Buchmesse ist eine Plattform für Diskussionen. Wir haben hundertsechs Nationen auf der Messe, es liegt auf der Hand, dass dann auch viele kontroverse Bücher ausgestellt werden, die irgendjemandem nicht gefallen. Aber für Links wie für Rechts gilt Meinungsfreiheit. Die Adresse für Verbote ist der Staatsanwalt, nicht die Messe."
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Gesellschaft

Nach den Enthüllungen über sexuelle Belästigungen durch den Hollywood-Tycoon Harvey Weinstein - Gerüchte über ihn  zirkulierten seit langem, aber erst für die New York Times sprachen sich viele Schauspielerinnen und andere Opfer von Weinsteins Avancen aus (unser Resümee) - wird allenthalben die Frage gestellt, ob auch Männer der Branche sich zu dem Fall äußern. Lena Dunham ruft in der New York Times dazu auf.  Sam Levin und Julia Carrie Wong haben für den Guardian bei vielen Männern angefragt, aber keiner antwortet: "Der linke Filmemacher Michael Moore, der zur Zeit mit Weinstein an einem Dokumentarfilm über Donald Trump arbeitet, antwortet ebenfalls nicht auf eine Anfrage. Manche deuten das dröhnende Schweigen der Hollywood-Männer als Symbol einer breiten Kultur der Frauenfeindlichkeit in der Entertainment-Branche, ermöglicht durch Komplizen, die wegschauten oder die Gerüchte ignorierten, so dass die Beschuldigungen gegen Weinstein jahrelang ein 'offenes Geheimnis' blieben."

Aber "jahrelang ein offenes Geheimnis" war es natürlich dadurch, dass zunächst mal die Frauen schwiegen, oder? In der Welt schreibt Hanns-Georg Rodek über die Affäre. Dass sich Weinstein keiner entgegen stellte oder sein Verhalten in der Öffentlichkeit bloßstellte, ist bezeichnend für diese Branche, ärgert sich Susan Vahabzadeh in der SZ und für nur noch zynisch hält sie es, dass Weinstein sogar einen Dokumentarfilm über sexuelle Übergriffe an Colleges produziert hat.

Wir brauchen eine neue Abtreibungsdebatte, fordert Susan Vahabzadeh in der Süddeutschen. Auch in Deutschland werde es - zumindest auf dem Land - immer schwieriger, eine Klinik zu finden, die Abtreibungen vornimmt. Der Grund: Abtreibungen sind bei uns nicht legal, sie bleiben nur unter bestimmten Umständen straffrei: "Dass es in Deutschland meistens irgendwie möglich ist, eine ungewollte Schwangerschaft zu beenden, verstellt den Blick darauf, dass eine Erlaubnis kein Recht ist. Eine Erlaubnis kann zurückgenommen werden. Eine Erlaubnis garantiert nichts. ... Es kann keine Gleichberechtigung ohne ein Abtreibungsrecht geben. Und darüber sollte man diskutieren."
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Internet

Die Telekom hat mit einem Angebot, das Dienste wie Netflix nicht auf das Datenvolumen der Kunden anrechnet ("Zero Rating"), die Netzneutralität gesprengt. Nun hat die Bundesnetzagentur diesem Tarif zugestimmt, kritisiert Tomas Rudl in Netzpolitik: "Insgesamt ist die heutige Entscheidung der BNetzA ein schwarzer Tag für die Netzneutralität in Europa - schließlich übt die größte Volkswirtschaft der EU eine enorme Vorbildwirkung auf andere Länder aus. Sollte Zero-Rating zur neuen Normalität werden, dann müssen sich Diensteanbieter daran gewöhnen, ihre Angebote an Vorgaben von Dutzenden, wenn nicht Hunderten Netzbetreibern anzupassen. Können oder wollen sie sich das nicht leisten, dann landen sie auf dem Abstellgleis."
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Wissenschaft

Auf Zeit online porträtiert Andreas Loos den jetzt mit 51 Jahren gestorbenen russischen Mathematiker Wladimir Wojewodski: "In Interviews beklagte er gern, die Wissenschaft sei so komplex geworden, dass man Jahre brauche, um überhaupt die aktuellen Forschungsfragen zu verstehen. Doch ihn bremsten auch seine neuen Ideen: Ab 2002 begann Wojewodski, sich mit der Verifizierung von Beweisen via Computer zu befassen. Er entwickelte eine Bibliothek für das Computerbeweissystem Coq. Mit diesem Programm kann man maschinell prüfen, ob ein Beweis tatsächlich korrekt ist, ob er irgendwo eine Lücke enthält oder ob er einer seiner Annahmen widerspricht."
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