9punkt - Die Debattenrundschau

Das sich Einsuppen im Vertrauten

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
09.10.2017. In Britannien erregt eine scharfe Polemik des niederländischen Journalisten Joris Luyendijk Aufsehen: Er erklärt, das der Brexit für die Briten so oder so traurig ausgehen wird. Katalonien ist ein Fall von "Erfindung der Tradition" erklärt José Antonio Sanahuja in der SZ. Die FR widerspricht dem Steinmeierschen Heimatbegriff. Die Rolle der New York Times bei der Enthüllung der Affäre um den Filmmogul Harvey Weinstein ist nicht ganz so glorios, wie sie tut, meint das Hollywood-Blog thewrap.com.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 09.10.2017 finden Sie hier

Europa

In Barcelona und anderen Städten demonstrierten am Wochenende Gegner der Abspaltung Kataloniens verschiedener Schattierungen, berichtet unter anderem Rainer Wandler in der taz. Auch wirtschaftliche Argumente bremsen den Enthusiasmus der Sezessionisten. Abspaltungen von Nationen oder Regionen scheitern an der Angst vor dem Ausstieg aus starken Währungen, schreibt Ulrike Hermann in der taz. Dafür gab es in den letzten Jahren mehr als ein Beispiel: "Das Kalkül der Schotten und Griechen war nachvollziehbar: Sie hatten Angst, dass ein schottisches Pfund oder die Drachme dramatisch abgewertet würden, dass also ihre Ersparnisse und Löhne deutlich an Wert verlören. Dieses Risiko erschien zu groß. Ähnliches dürfte für die Katalanen gelten."

"Gebt die Ukraine nicht auf!", ruft Richard Herzinger in der Welt: "Während .. die USA, wider anderslautende Befürchtungen, unter der neuen Regierung ihre Unterstützung für das Land noch verstärkt und die Sanktionen gegen Moskau verschärft haben, wächst in Europa der Wunsch, sich baldmöglichst wieder mit Russland zu arrangieren. Die Verhältnisse in der Ukraine schlechter zu reden als sie tatsächlich sind, dient der psychologischen Vorbereitung darauf. "

Viel retweetet wird besonders in Britannien die im Prospect Magazine veröffentlichte Diatribe des niederländischen Journalisten Joris Luyendijk,  der seinen Posten als London-Korrespondent verlässt und britische Pathologien - etwa die ungeheuer starke Stellung der Boulevard-Zeitungen - benennt. Seine größte Sorge: "Die Tories werden von der europäischen Frage aufgezehrt, schon seit einer Generation, aber jetzt noch intensiver. Labour scheint unfähig, ihre innere Zerrissenheit in dieser Frage zu überwinden. Keine der beiden Parteien traut sich gegenüber Millionen von Menschen, die 'den Kuchen haben und ihn essen' wollten, die Wahrheit auszusprechen. Wie soll man den Willen einer Mehrheit verwirklichen, die für eine Option stimmte, die gar nicht auf dem Tisch lag? Die EU kann dem Vereinigten Königreich weder gesetzlich, noch politisch, noch logisch, die Art Deal geben, die ein Happy End ermöglichen würde."

Die Frage, ob das Münchner Attentat des David S. im letzten Jahr eine rechtsextreme Tat war, ist alles andere als nebensächlich, meint Jasmin Kalarickal in der taz: "Es ist wichtig für das politische Klima des gesamten Landes: Eine rechtsextreme Partei hat es gerade in den Bundestag geschafft, und Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer spricht davon, wieder die rechte Flanke schließen zu wollen. Die Bewertung dieses Falles hat auch eine gewisse Symbolkraft: Wollen wir in diesem Land ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt Rechtsextremismus verharmlosen?"

Außerdem: In der FAZ erklärt René Nyberg, ehemals finnischer Botschafter in Moskau und Berlin, warum die nordischen Länder so lutheranisch sind.
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Ideen

"Verstehen und verstanden werden - das ist Heimat", sagte der Bundespräsident letzte Woche in seiner Rede zur Deutschen Einheit. Arno Widmann möchte in der FR gern widersprechen: "Bei der Diskussion um Heimat geht es immer darum: Ist die Heimat der Ort, aus dem wir kommen oder ist es der, zu dem wir wollen oder der, den wir dazu machen? Wer festhalten möchte an der Herkunft, der misstraut der Zukunft, hat womöglich Angst vor ihr. Er mag die vertraute Umgebung nicht verlassen. Und er hasst es, wenn die vertraute Umgebung ihn verlässt. ... Am Leben erhält einen nicht, was man versteht. Am Leben erhält einen, was man nicht versteht, aber verstehen möchte. Das sich Einsuppen im Vertrauten ist der Anfang vom Ende."

Katalonien ist ein gutes Beispiel für die von Eric Hobsbawm so genannte "Erfindung der Tradition", erklärt im Interview mit sueddeutsche.de José Antonio Sanahuja, Professor für Internationale Beziehungen: "In Katalonien werden geschichtliche Fakten zurechtgebogen, sodass sie der Rechtfertigung eines unabhängigen Nationalstaates dienen. Man will damit vor allem Traditionen besetzen, die erst seit kurzer Zeit existieren - oder sogar erfunden wurden, um bestimmte Werte und Verhaltensnormen durchzusetzen. ... Die Stimmung in einigen Teilen der katalanischen Bevölkerung, die Region würde von Spanien ausgeplündert, kursiert ebenfalls schon lange. Angesichts von Terrorismus und Einwanderung wurden zudem Sicherheits- und Identitätserzählungen entwickelt, die vom eigenen 'Volk', von Kultur und Identität erzählen und das 'Andere' als Bedrohung konstruieren. Und es existiert ein Anti-Globalisierungs-Narrativ, das den Euroskeptizismus umfasst und sich gegen kosmopolitische Werte richtet, soziale Vielfalt ablehnt und zum Teil offen rassistisch und islamfeindlich ist."

Nach Katalonien steht gleich das nächste Referendum auf dem Programm: In zwei Wochen soll es eine lombardo-venezianische Abstimmung über die Selbständigkeit Norditaliens geben, meldet Gustav Seibt in der SZ und erinnert daran, dass Ralf Dahrendorf schon 1991 vor dem Zerfall der Nationen in homogene Stammesgemeinschaften warnte: "Denn die Homogenität unterlaufe die 'Idee von Bürgerschaft'. Diese besteht darin, dass sie ein Leben mit Unterschieden erlaubt. Und diese Unterschiede betreffen eben nicht nur Sprache oder Herkunft, sondern auch alle anderen Aspekte, in denen Bürgerindividuen sich unterscheiden können, Religion, weltanschauliche und politische Überzeugung, sexuelle Orientierung. Je kleiner und homogener ein Ländchen ist, umso geringer wird ganz allgemein seine Verschiedenheitstoleranz, und die demokratische Idee der Gleichheit droht sich auf ethnische Gleichförmigkeit zu verengen. Aus dem politischen Demos, dem Souverän der Demokratie, wird das völkische Ethnos, der Stamm, die Gemeinschaft."
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Gesellschaft

FAZ-Autor Fridtjof Küchemann verfolgte in Vilnius eine Konferenz zum Thema "Das Buch, der Bildschirm und das lesende Hirn", bei der sich herausstellte, dass Kinder mit Büchern offenbar besser lernen als mit digitalen Medien: "Es geht um eine besonnene Technikfolgenabschätzung, die klärt, wie die Digitalisierung des Lesens auf die vertrauten kognitiven Prozesse des Aufnehmens, Verstehens, Durchdringens, Behaltens und Anwendenkönnens des Gelesenen wirkt. Ein unbedachter Systemwechsel kann aufs Spiel setzen, was man als den Kern unserer wichtigsten Kulturtechnik verstehen kann: das vertiefte Lesen."
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Medien

Eine große Geschichte der New York Times über gravierende sexuelle Belästigungen durch den Film-Tycoon Harvey Weinstein erregt seit einigen Tagen Aufsehen. In dem Hollywood-Blog thewrap.com gratuliert Sharon Waxman der New York Times zu der Story, macht aber darauf aufmerksam, dass sie selbst schon 2004 zu den Behauptungen recherchierte und ihr Artikel als kleine Meldung in den Innenseiten versteckt wurde: "Ich musste kichern, als ich Jim Rutenbergs scheinheiligen Kommentar über die 'Ermöglicher in den Medien' las, die diese Story Jahrzehnte lang unter dem Deckel hielten. 'Bis jetzt', ereifert er sich, 'war kein journalistisches Medieum fähig oder auch willig, die Details festzunageln und zu publizieren.' Das stimmt, Jim - inklusive der New York Times."

Weinstein ist inzwischen aus seiner eigenen Firma gefeuert worden berichten Agenturen (hier bei Spiegel online). In der FAZ berichtet Verena Lueken über das Thema.

In der Welt schreibt Thomas Schmid den Nachruf auf die Politologin Sylke Tempel, die bei dem Sturm letzte Woche in Berlin von einem Baum erschlagen wurde und erinnert dabei an einen Artikel in der Internationalen Politik, in dem sie gerade die Unvollkommenheit der Demokratie verteidigte: "Die unvergleichliche Stärke der Demokratie liege darin, dass sie von der Einsicht ausgeht, dass der Mensch weder gänzlich gut noch gänzlich schlecht, sondern ein fehlerhaftes Wesen sei: 'Er irrt, und zwar beständig. Für dieses fehlbare Wesen ist ein System angebracht, das Kontrolle vorsieht und Korrektur erlaubt.' Nicht perfekt zu sein, sei die Stärke der Demokratie - aber auch ihre Schwäche, die dann zutage tritt, wenn die unendlichen Mühen der Konsensbildung gescheut werden. Sylke Tempel verstand es, das alte ABC der Demokratie so zu buchstabieren, dass es ganz frisch wirkte." In der taz schreibt Silke Mertins.
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Überwachung

In Ägypten läuft eine beispiellose Repressionswelle gegen Homosexuelle. Deutsches Polizei-Knowhow erweist sich dabei als sehr nützlich, erklärt der Aktivist Leil-Zahra Mortada Im Gespräch mit Matthias Monroy  von netzpolitik.org: "Die Deutschen schulen die Ägypter unter anderem in der Ausforschung des Internet oder dem Aufspüren auffälliger Finanztransaktionen. Diese Trainings zur Bekämpfung von 'Extremismus' begannen bereits kurz vor der Revolution und setzen sich bis heute fort. Dabei ignoriert das deutsche Innen- und Außenministerium, dass unter dem Label 'Extremismus' sämtliche Opposition verfolgt und kriminalisiert wird. Das gilt auch für LGBTQI."

Weiteres: Konrad Lischka erklärt auf der Website algorithmenethik.de, was "Mathwashing" ist, worunter manipulative Wirkungen menschengemachter und dann losgelassener Algorithmen zu verstehen sind: "Selbst die Entwicklerinnen können nicht genau darlegen, wie die selbstlernenden Teile ihrer algorithmischen Systeme  abschließende Entscheidungen treffen. Dies eröffnet eine raffinierte Möglichkeit, sich aus der Verantwortung zu stehlen."
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