9punkt - Die Debattenrundschau

Es gibt hier keine Vermittlung

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
04.10.2017. 59 Menschen sind bei dem Massaker von Las Vegas ums Leben gekommen - und Amerika ist bei den Waffengesetzen in den letzten Jahren nicht um einen Zentimeter vorangekommen, stöhnen die Kommentatoren. Es gibt Sicherheitsgesetze für Leitern, durch die in Amerika 300 Menschen im Jahr umkommen, aber nicht für Waffen, die hundertmal mehr Menschen, stöhnt Nicholas Krisof in der New York Times. Der spanische Premier Mariano Rajoy hat die Unruhen in Katalonien selbst zu verantworten, meint politico.eu. Die Bundestagswahl war auch eine Genderwahl, schreibt Ralf Bönt in der Welt.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 04.10.2017 finden Sie hier

Politik

59 Menschen wurden bei einer Massenschießerei in Las Vegas getötet, Hunderte verletzt. Der Täter, der 64-jährige Stephen Paddock, schoss aus dem 32. Stockwerk des Mandalay Bay Hotel auf die Besucher eines Country-Musik-Festivals. Er hatte mehr als ein Dutzend Gewehre in seinem Zimmer. Charles Bethea hat sich für den New Yorker mit dem Waffenhändler David Famiglietti unterhalten, der Paddock einige Waffen verkauft hat: "Famiglietti ist frustriert, dass 'die Leute jetzt dem 'Werkzeug' die Schuld geben' statt herauszufinden, warum ein Mensch etwas so Schreckliches tut. 'Ich verkaufe Werkzeuge. In 99 Prozent der Fälle werden sie gesetzestreu benutzt. Unglücklicherweise kann ich gegen den Rest nichts tun, so wie der CEO von Ford die Leute nicht davon abhalten kann, andere mit ihrem Auto zu töten.'"

Dennoch gibt es zahlreiche Gesetze, die Zahl der Verkehrstoten zu mindern. Die Toten durch Schusswaffen lösen dagegen überhaupt keine Reaktionen aus. Auch diesmal nicht, prophezeit der demokratische Abgeordnete Steve Israel in der New York Times. 16 Jahre lang hatte er im Kongress nach jeder der 52 Massenschießereien in dieser Zeit gedacht: Jetzt müssen wir reagieren. Aber nichts passierte. "Wenige Lektionen über den Kongress waren stärker als die, bei denen ich lernte, warum nach jedem dieser Vorfälle nichts passierte. Die erste Lektion kam im Januar 2001, kurz nachdem ich vereidigt worden war. Ich wollte ein Gesetz einbringen, das Sicherheitsschlösser bei bestimmten Waffen vorschreibt und suchte Unterstützung bei einem Kollegen, einem Demokraten aus Arkansas. 'Ich kann das nicht tun', sagte er. 'In meinem Distrikt schließen wir am ersten Tag der Jagdsaison die Schulen.'"

Wäre Stephen Paddock nur ein Muslim gewesen, wünscht sich Thomas L. Friedman, ebenfalls in der New York Times. Dann würde Amerika jetzt schneller über neue Waffengesetzen diskutieren als jemand NRA sagen könnte. Aber so wird wieder nichts geschehen. Schon weil die Waffenpolitik so korrupt ist: "Sie wissen ganz genau, dass die Mehrheit der Amerikaner niemandem das Recht zu jagen oder sich zu verteidigen wegnehmen will. Wegnehmen wollen sie das Recht Einzelner, ein militärisches Arsenal zu Hause oder in einem Hotelzimmer zu horten und gegen unschuldige Amerikaner zu verwenden, wenn eine verrückte Wut in ihnen hochkocht. Aber die NRA hält die feigen Gesetzgeber im Würgegriff."

Nicholas Kristof macht einige Vorschläge, wie man solche Schießereien zumindest deutlich erschweren kann. Ganz verhindern sicher nicht, aber "in jeder anderen Sphäre erlassen wir Schutzvorschriften - wie unperfekt auch immer - um Todesfälle und Verletzungen zu verhindern. So hat die Occupational Safety and Health Administration zum Beispiel sieben Seiten mit Regeln für Leitern veröffentlicht, weil jährlich etwa 300 Menschen bei Unfällen mit Leitern sterben. Doch die Bundesregierung macht nicht die geringste Anstrengung, die Zahl der Toten durch Schusswaffen zu vermindern, obwohl sie mehr als hundert mal so hoch ist."

Und nennt Paddock nicht einen "Terroristen", bittet Masha Gessen im New Yorker. Damit glorifiziere man ihn nur: "Teil des Reizes, mit Isis verbunden zu werden, liegt darin, dass dies einen potenziellen Terroristen automatisch vom Verbrecher in den Rang eines feindlichen Kombattanten hebt. Als ich 2014 über den Prozess zum Boston-Attentat berichtete, verlor ich den Überblick, wie oft die Staatsanwaltschaft 'sie griffen uns an' sagte, womit sie meinte, die Tscharnejew-Brüder hätten Amerika angegriffen. Tatsächlich griffen sie uns aber nicht an. Sie töten Menschen völlig willkürlich. Dieser abscheuliche Akt, ob er jetzt von einem Muslim in Boston oder einem (vermutlichen) Christen in Las Vegas begangen wurde, sollte nicht als Kriegsakt glorifiziert werden."

Außerdem: Der Guardian (hier), Atlantic (hier) und die New York Times (hier) werfen Google und Facebook vor, falsche Meldungen von rechten Blogs und russischen Propaganda-Medien über die Schießerei - Paddock sei ein Demokrat gewesen, linker Antifa, ein Clinton-Fan, ein Muslim, ein Isis-Mitglied - ungehindert verbreitet zu haben.
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Gesellschaft

Lena Kampf und Kassian Stroh greifen in der größeren Recherche für die SZ das Münchner Massaker im letzten Jahr auf und werfen der Polizei vor, den rechtsextremistischen Charakter der Tat heruntergespielt zu haben: "David S. wurde in der Schule gemobbt, er war in psychiatrischer Behandlung, aber er war auch ein Rassist, ein Bewunderer des norwegischen Rechtsterroristen Anders Breivik. In einer Art Manifest schrieb er über 'ausländische Untermenschen', die er exekutieren wolle... Ruft ein Mörder 'Allahu akbar', 'Gott ist groß', gilt die Tat schnell als islamistisch, als Akt des Terrors. Was hätte David S. rufen müssen, damit seine Tat von einer unpolitischen zu einer politischen würde? Hätte es wirklich jeden treffen können?"
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Europa

Diego Torres beschreibt in politico.eu die "Wait and See"-Haltung des spanischen Premierministers Mariano Rajoy, die allerdings nicht sehr erfolgreich sei und keine Ruhe auf den katalanischen Straßen schafft: "Rajoys Regierung weist die Idee der Hilfe von dritter Seite zurück, weil sie fürchtet, dass ihre Position dadurch untergraben wird und die Europäische Union hält daran fest, dass es sich um eine innere Angelegenheit Spaniens handle. 'Es gibt hier keine Vermittlung', sagt ein Sprecher der spanischen Regierung. 'Es gibt nur einen Herren (Carles Puigdemont, Ministerpräsident Kataloniens), der das Gesetz bricht und Gewalt auf den Straßen schürt.' Beobachter können nicht viel mehr tun, als der Eskalation des Konflikts zuzusehen."

Rajoy hat sich das gegenwärtige Schlamassel selbst zu verdanken, kommentiert ebenfalls in politico.eu Paul Taylor, denn sein Partido popular hatte über eine Klage vorm spanischen Verfassungsgericht das kalanische Autonomiestatut von 2006 gekippt, dem die Katalanen per Referendum zugestimmt hatten: "Der Gerichtshof annullierte im Jahr 2010 einige Paragrafen, darunter einen, der Katalonien als 'Nation' innerhalb Spaniens anerkannte. Das spielte den radikalsten katalanischen Nationalisten in die Hände und machte aus einem Minderheitenprojekt eine wesentlich breitere und entschiedenere Unabhängigkeitsbewegung."

Die AfD ist nicht einfach ein "Zeichen der Normalisierung" (Henryk Broder), durch die Deutschland gewissermaßen mit anderen Ländern, die rechtspopulistische Parteien haben, gleichzieht, warnt Matthias Küntzel in seinem Blog - denn es waren Naziparolen, die im Wahlkampf zündeten: "Dem Wahlerfolg ging nicht nur ein Sieg des radikalen Parteiflügels über die etwas Moderateren voraus, sondern auch der gezielte Einsatz von Nazi-Rhetorik als Testballon. Das Experiment funktionierte. Die Wählerinnen und Wähler haben den Nazi-Jargon nicht abgestraft, sondern belohnt. Von 'Normalisierung' kann somit keine Rede sein. Mit dem Einzug der AfD erhält der nationalistische Mob einen parlamentarischen Arm."

Einen wenig diskutierten Aspekt der Bundestagswahl möchte Ralf Bönt in der Welt hervorheben: "Wir haben, genau wie die USA, eine Genderwahl erlebt. Drastisch gestärkt gehen mit FDP und AfD die beiden Parteien in den Bundestag, die vorwiegend von Männern gewählt werden. Drastisch verloren hat die CDU, vor allem männliche Zustimmung. Man darf sagen, dass Angela Merkel das Schicksal Hillary Clintons wiederholt: Sie verliert an die Männerpartei AfD, wie Clinton die Männer an Trump verlor, und wie diese ist sich Merkel keiner Schuld bewusst." (Warum sollte sie? Was kann sie für die Rückständigkeit der Kerle?)

Eine Akademikergruppe hat sich neulich in Libération gegen einen Gesetzentwurf gewandt, der sexuelle Belästigung im öffentlichen Raum stärker als bisher mit Strafen bewehren will - dieser Entwuf wende sich nur gegen "verarmte und ethnisch diskriminierte" Bevölkerungsgruppen. Die Feministin Martine Storti antwortet ebenfalls in Libération: "Man hat das Gefühl, in einem Schraubstock festzustecken. Einerseits die Autoren und Autorinnen, die aufrufen, die Belästigung (und so viel anderes) im Namen des Antirassismus zu tolerieren. Die das Phänomen nur in schönen Vierteln und in Unternehmen zur Kenntnis nehmen und Entschuldigungen suchen, sobald 'Unterdrückte' schuld sind. Andererseits all jene, für die Belästigung ausschließlich in 'islamisierten Vorstädten' stattfindet, wo sich die 'Einheimischen' nicht mehr 'zuhause' fühlen."

Im Interview mit der NZZ ist Heinrich August Winkler immer noch verärgert, dass Angela Merkel 2015 in einem "deutsch-österreichischen Alleingang" für einen kurzen Moment die Grenzen für Flüchtlinge geöffnet hat. Und dass "Politiker, Publizisten, Vertreter der Kirchen und der Zivilgesellschaft das Gefühl vermittelt haben, als bestehe jetzt endlich eine Möglichkeit, sich vom Ruf der Schreckensnation des 20. Jahrhunderts zu befreien. Der Tenor war: Wir können unser schlechtes Image loswerden, indem wir moralisch handeln und andern sagen, sie sollten sich gefälligst an uns ein Beispiel nehmen. Das ist eine neue Form von deutscher Arroganz. Sie hat bei unseren Nachbarn zu Recht sarkastische Reaktionen hervorgerufen."
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