9punkt - Die Debattenrundschau

Sie sind zu wenig wütend

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
07.09.2017. Die Katalanen wagen jetzt laut politico.eu den offenen Bruch mit der Zentralregierung - ein Dekret der Regionalregierung macht das Referendum am 1. Oktober offiziell - im Widerspruch zur spanischen Verfassung. Sascha Lobo schreibt in Spiegel online einen Brief an die Wähler über 60 und macht sie verantwortlich für die Untätigkeit der Regierung bei der digitalen Infrastruktur. Die NZZ führt die Gender-Debatte weiter.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 07.09.2017 finden Sie hier

Europa

Die katalanischen Sezesssionisten haben die Bühne für eine der schwersten Krisen Spaniens seit seiner Demokratisierung bereitet, schreibt Diego Torres in politico.eu, nachdem das Referendum durch ein gestern unterzeichnetes Dekret der Regionalregierung für Katalonien am 1. Oktober endgültig beschlossene Sache ist. "In diesem Zug kulminiert eine jahrelange Aufbauarbeit der sezessionistischen Bewegung, die vor einem Jahrzehnt von gerade mal 15 Prozent der Katalanen unterstützt wurde. Das Regionalparlament widersetzt sich nun offen der spanischen Verfassung und der konservativen Regierung von Premierminister Mariano Rajoy." einen interessanten Beitrag Javier Cercas' zur Debatte um Katalonien haben wir in der Magschau resümiert.

Sascha Lobo schreibt in Spiegel online einen Brief an die Wähler, besonders die älteren, denen er vorwirft, zugelassen zu haben, dass Deutschland in der Digitalinfrastruktur - etwa bei Glasfaser und Mobilempfang - entsetzlich provinziell ist: "Sie sind zu wenig wütend über den digitalen Amokspaziergang durch Unterlassung, der Ihnen seit langer Zeit vorgeführt wird. Im Zug zwischen Hamburg und Berlin gibt es null Empfang, aber Sie zucken mit den Schultern. In einem mecklenburgischen Dorf hat man keine Chance, YouTube-Videos zu schauen, aber Onlinebanking geht ja. Sie halten flächendeckende Vernetzung für optional, solange Fußball im Free-TV läuft."

Unter der Unterzeile "Estland demonstriert, wie gefährlich Digitalisierung ist" berichtet Michael Hanfeld in der FAZ genussvoll über die Sicherheitslücke, die Estland seinem System für den elektronischen Personalausweis entdeckt hat: "Die Bürger sollen eine nie dagewesene Schlüsselgewalt haben - Zugang zu allem, was man vom Staat erwartet. Dass dies auch in umgekehrter Richtung funktioniert, intimste Dinge transparent macht und die Menschen entschlüsselt, dürfte jetzt auch dem Letzten klar sein. Doch wird das im allgemeinen E-Governance-Gestaune nicht nur von den Kapitalverwertern der Digitalisierung wie Facebook und Google konsequent ausgeblendet."

Der Guardian veröffentlicht weiter Papiere aus den Brexit-Verhandlungen, diesmal aber Papiere der EU, die unter anderem die extrem knifflige Frage der irischen Grenze behandeln - hier herrscht offenbar große Unklarheit zwischen den Gesprächspartnern, schreibt Jennifer Rankin: "Irische Politiker würden es bevorzugen, wenn das Vereinigte Königreich in der EU-Zollunion bliebe, denn dies wäre der sicherste Weg, Kontrollposten an der Grenze zu vermeiden, die während des Nordirlandkonflikts Angriffspunkte waren. Aber in der Zollunion zu bleiben, hieße, dass Britannien keine eigenen Handelsverträge mehr abschließen könnte, eine Schlüsselforderung der Brexit-Anhänger."
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Gesellschaft

Die Stadt Frankfurt hat beschlossen, der antiisraelischen BDS-Kampagne keine Räume mehr zur Verfügung zu stellen. Daniel Bax sieht das in der taz als eine "Ächtung" und interviewt die Aktivistin Sophia Deeg  zu der Entscheidung: "Der Beschluss bedeutet, dass Prominente wie Judith Butler, Roger Waters, Brian Eno oder Naomi Klein dort nicht auftreten können - zumindest nicht in von der Stadt geförderten Veranstaltungsorten. Ich weiß nicht, ob sich die Verantwortlichen der Tragweite ihrer Entscheidung bewusst sind. Und ich weiß nicht, ob diese Einschränkung der Meinungsfreiheit vor Gericht Bestand hätte, wenn jemand klagt. In England haben britische Gerichte schon vergleichbare Beschlüsse gekippt."
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Geschichte

In der NZZ erinnert Ueli Greminger daran, dass nicht Zwingli allein Zürich die Reformation gebracht hat. Ebenso wichtig, meint er, war Erasmus von Rotterdam, auch wenn der nie in Zürich war: "Erasmus ist der unsichtbare Protagonist der Zürcher Reformation. Der Renaissancegelehrte und Theologe ist es, welcher zur Hauptsache den Unterschied zwischen der Reformation in Wittenberg und derjenigen in Zürich ausmacht. Martin Luther hat sich von Erasmus und seinem humanistischen Einfluss radikal abgegrenzt. Bekannt ist der Jahrhundertstreit der beiden um den freien Willen des Menschen. Luther war zutiefst enttäuscht, dass sich Erasmus seiner Reformation nicht angeschlossen hatte, und überhäufte ihn in der Folge mit den übelsten Schimpfwörtern. Huldrych Zwingli, Leo Jud, Theodor Bibliander und andere Zürcher dagegen waren glühende Verehrer des Humanistenfürsten."
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Kulturpolitik

Säßen doch nur auch ein paar Ethnologen im neu eingesetzten internationalen Expertenteam des Humboldt-Forums, seufzt Karl-Heinz Kohl, selbst vom Fach, in der Zeit. Die kennen die Debatten über Verflechtungen von Ethnologie, Kolonialismus und Neokolonialismus seit den siebziger Jahren und könnten auf die Vorwürfe etwa von Benedicte Savoy um einiges robuster antworten als das verunsichert wirkende Intendantenteam Bredekamp/MacGregor. So gerechtfertigt Restitutionsforderungen im Einzelfall sein können - Maximalforderungen wie: im Humboldt-Forum dürfen nur Artefakte ausgestellt werden, deren Herkunft lückenlos dokumentiert ist, sind wenig zielführend, so Kohl und nennt als Beispiel die Objekte, die nach der deutschen Niederschlagung des Maji-Maji-Aufstands in die Dahlemer Sammlungen gelangt waren: "Der damalige Museumsdirektor Felix von Luschan war alles andere als erfreut, als ihm 1906 die Kriegsbeute der deutschen Kolonialtruppen zur Auf­bewahrung übereignet wurde. Die Lieferung wog 4000 Pfund, und die 12 000 Speere, aus denen sie vor allem bestand, waren nur von geringem ethnolo­gischem Wert. Luschans Versuch, sich der Maji-Maji-­Sammlung zu entledigen, indem er die afrikanischen Waffen als Anschauungsmaterial an deutsche Gymnasien versandte, scheiterte daran, dass die Spitzen einiger Pfeile vergiftet waren. Schließlich entschloss Luschan sich dazu, die Kriegsbeute bis auf ein paar wenige Objekte verbrennen zu lassen. Um Glanz­stücke für eine Wiedergutmachungsaktion dürfte es sich bei ihnen nicht handeln."
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Ideen

Zur laufenden Gender-Debatte zwischen Alice Schwarzer, Judith Butler und dem Historiker Vojin Saša Vukadinović (unsere Resümees), meldet sich dieser nun auch in der NZZ zu Wort und erklärt, warum die Gender-Studies als Studienfach seiner Meinung nach an sich selbst und ihrer "Wagenburgmentalität" scheitern: "So gehen manche Gender-Studies-Arbeiten von einer deterministischen 'Kultur' aus, die einem Individuum wesensbestimmend übergeordnet sei. Ebenfalls ist ein damit einhergehender Kulturrelativismus zu beobachten, der die Genitalverstümmelung von Mädchen schon einmal mit der westlichen Wahlfreiheit, ein Genitalpiercing zu tragen oder nicht, vergleicht oder Selbstmordattentate als 'queer' interpretiert, weil diese Unordnung in der 'symbolischen Ordnung' stifteten. Generell ist eine Verschiebung weg von der Beschäftigung mit Ausbeutung hin zu Strategien zu verzeichnen, die sich nicht an einer Beseitigung gewalttätiger Verhältnisse interessiert zeigen, sondern Betroffenen bisweilen nahelegen, sich in diese zu fügen."
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Politik

Das Washingtoner Holocaust-Museum hat eine Studie zurückgezogen, die die Obama-Regierung von aller indirekten Mitschuld an Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Syrien freispricht - die Studie sollte ursprünglich am 11. September veröffentlicht werden, berichtet Armin Rosen in Tablet. Mit Mitteln der Spieltheorie und Experten-Interview soll die Studie darlegen, dass eine Intervention Obamas gegen die Giftgasmorde des syrischen Regimes die Lage in Syrien nur noch verschlimmert hätte: "Die Intervention des Holocaust-Museums in einem erhitzten politischen Disput und die scheinbare Entschuldigung der regierungsamtlichen Passivität angesichts  von Massenmorden in großem Maßstab - inklusive der Vergasung von Zivilisten und regierungseigenen Krematorien - alarmierte prominente Figuren der jüdischen Community. 'Das erste, was ich sagen will, ist Schande über über das Holocaust-Museum', sagt der Literaturkritiker Leon Wieseltier, der das Museum beschuldigt, 'eine vorgeblich wissenschaftliche Studie zu veröffentlichen, die Passivität rechtfertigt."

In taz online stellt Dominic Johnson zugleich einen UNO-Bericht vor, der Syrien offiziell für den Giftgasangriff auf den syrischen Rebellenort Chan Scheichun verantwortlich macht.
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