9punkt - Die Debattenrundschau

Nur ein Zweitbestes

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
06.09.2017. Im Guardian fordert George Monbiot die Aberkennung des Nobelpreises für Aung San Suu Kyi. In der SZ  verspürt Christoph Türcke den Stich, den der Islamismus dem Westen versetzt. Die NYRB erzählt, wie sich John Kerry als Wahlbeobachter in Kenia blamierte. Barack Obama kritisiert auf Facebook Donald Trump für seine Entscheidung, keine "Träumer" mehr zu dulden. Der Guardian veröffentlicht ein Geheimpapier der britischen Regierung über ihr Britannien nach dem Brexit.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 06.09.2017 finden Sie hier

Politik

Dass die Wahlen in Kenia manipuliert waren, findet Helen Epstein in NYR Daily schon schlimm genug, aber dass die internationalen Beobachter aus den USA und der EU die Wahl abgesegnet haben, nennt sie schlichtweg schockierend. Eine besonders ungute Figur gab der ehemalige amerikanische Außenminister John Kerry ab: "Einen Monat vor der Wahl vergab Kenias Wahlkommission an die Firma Ghurair in Dubai den Auftrag, die Wahlzettel zu drucken. Medienberichten zufolge war die Firma mit Kenyattas innerem Zirkel verbunden, und Kenias Gerichte ordneten an, sich an eine andere Firma zu wenden. Die Anordnung wurde ignoriert. Dann meldeten die Wirtschaftsprüfer von KPMG, dass mehr als eine Million toter Kenianer noch immer als Wähler registriert waren. Die Opposition fürchtete, dass Ghurair Extra-Wahlzettel drucken konnte, um Geisterwähler für Kenyatta zu schaffen. Kerry schlug alle Bedenken in den Wind und witzelte nach der Wahl: 'Die Leute, die wählten, waren am Leben. Ich habe keine Toten herumlaufen sehen.'"

Die Kinder illegaler Einwanderer, die zwar nicht in Amerika geboren, aber aufgewachsen sind, heißen seltsamerweise "Dreamer". Donald Trump will sie nun zurückschicken. Barack Obama nennt das in einem Facebook-Post "grausam": "Hier geht es um junge Leute, die in Amerika groß geworden sind, Kinder, die an unseren Schulen lernten, junge Erwachsene, die gerade ihre Karrieren starten, Patrioten, die auf unsere Fahne schwören. Amerikaner sind diese Träumer in ihrem Herzen, in ihrem Geist, nur nicht auf dem Papier. Sie wurden von ihren Eltern ins Land gebracht, manchmal als Kleinkinder. Oft kennen sie kein anderes Land als unseres. Oft sprechen sie keine andere Sprache als Englisch. Und oft wussten sie nicht einmal, dass sie keine Papiere haben, bis sie sich um einen Job, einen College-Platz oder einen Führerschein bewarben."

Aung San Suu Kyi wäre sicher nicht die erste Kandidatin für eine solche Maßnahme: George Monbiot fordert im Guardian, dass die Nobelpreisentscheidung für die Politikerin widerrufen wird. Es stimme zwar, dass inzwischen Rohingya in Birma gewalttätig wurden und die Polizei attackierten - aber die Sicherheitskräfte im Land verjagten die Bevölkerung in toto und seien verantwortlich für schlimmste Grausamkeiten. Aung San Suu Kyi äußerte sich bisher so gut wie überhaupt nicht zu diesen Exzessen: "In ihrer Nobelpreisrede bemerkte Aung San Suu Kyi: 'Wo immer Leid ignoriert wird, wird Konflikt gesät, denn Leid verbittert und macht zornig.' Der Zorn der Rohingya, die zu Waffen gegriffen haben, wird als Vorwand benutzt um ein Programm ethnischer Säuberung zu beschleunigen, das bereits vorher existierte."

In der NZZ zeigt sich Ulrich Schmid erleichtert, dass deutsche Politiker von links bis in die Mitte die von Palästinensern gegründete BDS-Kampagne (Boykott, Desinvestition und Sanktion) gegen Israel so eindeutig ablehnen: "Eben hat der Frankfurter Kämmerer Uwe Becker, ein Mann der CDU, mitgeteilt, er wolle BDS keine städtischen Räume oder Flächen überlassen. Solcher Einspruch ist wichtig, und wenn er von Leuten wie Katja Lucker kommt, die in Berlin als Musik-Managerin seit Jahren Furore macht, ist er in seiner Bedeutung nicht zu überschätzen. Denn BDS will vor allem die Herzen und Hirne der Coolen erobern. Israel anzuprangern und über Juden zu lästern, soll in den Kreisen der Trendsetter chic werden, modisch und so normal, dass es niemandem mehr auffällt. Ist das einmal erreicht, kommt der Rest von allein."
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Europa

Nick Hopkins und Alan Travis berichten im Guardian über ein 82-seitiges Geheimpapier, das zeigt, wie sich die britische Regierung Großbritannien vorstellt, nachdem sie die lästigen Brexit-Verhandlungen endlich abgeschlossen hat: "Britannien wird die Freizügigkeit der Arbeit unmittelbar nach dem Brexit beenden und Maßnahmen einführen um alle Arbeitskräfte aus der EU mit Ausnahme von Hochqualifizierten abzuschrecken." Neue Beschränkungen sollen auch für den Familiennachzug gelten.
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Religion

Die Autorin Deborah Feldman, die durch ein Buch über ihre Selbstbefreiung aus dem orthodoxen Judentum bekannt wurde, hat inzwischen die deutsche Staatsbürgerschaft und erzählt in der FAZ, wie sehr sie sich freut, hier an einer demokratischen Wahl teilnehmen zu können. Wie der Kommunitarismus in den USA demokratische Prinzipien untergräbt, erzählt sie auch. Eine Gruppe von "Ex-Chassiden" habe einmal den amerikanischen Staat verklagt, weil er es zulasse, dass Mitgliedern der Gemeinde Bildung verweigert wird - ein Verstoß gegen die Menschenrechte: Der Staat "habe über die offenkundige Verweigerung jeglicher Grundausbildung für Kinder, die in chassidische Gemeinschaft hineingeboren waren, hinweggesehen. Obwohl die Zeitungen berichteten, sollte der Fall im Sande verlaufen, weil jene Politiker, die für rechtsstaatliche Prinzipien eintreten würden, in Zukunft die chassidischen Wählerstimmen vergessen könnten - und mit ihnen ihre Karriere. Zugang zu Bildung ist Frauen in meiner ehemaligen Gemeinde noch immer verschlossen."
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Medien

Der österreichische Wirtschaftswissenschafter Leonhard Dobusch ist Mitglied im ZDF-Rundfunkrat und Verfechter der Öffentlich-Rechtlichen. Unter kurzem Bezug auf die Staatsfunk-Debatte (unsere Resümees) stellt er bei Netzpolitik er einige Reformvorschläge vor, die allerdings sicher auch bei den Sendern nicht so gut ankommen würden. Er fordert etwa eine "offene Finanzierung", zumindest bei Internetangeboten: "Ein substanzieller Anteil des öffentlich-rechtlichen Kuchens sollte nicht über die Anstalten, sondern im Rahmen offener und dezentralisierter Vergabeprozesse verausgabt werden. Denkbar wären hier verschiedene Lösungen, von Crowdfunding bis hin zu einer demokratisch legitimierten Internetintendanz." Außerdem will Dobusch, dass sich die Sender für Kooperationspartner (allerdings nur gemeinnützige) öffnet. Und er fordert mehr Transparenz, "um die Legitimität öffentlich-rechtlicher Angebot im Netz zu sichern".

Jan Böhmermann
scheint einmal mehr beweisen zu wollen, dass er keinen Humor hat. Er will Angela Merkel verklagen, weil sie sein "Ziegenficker"-Gedicht, als "Schmähgedicht" bezeichnet hat. In einem Schreiben an das Kanzleramt wirft Böhmermanns Berliner Rechtsanwalt Christian Schertz Merkel vor, sie habe mit ihrer Kritik an dem Auftritt eine 'juristische Bewertung des Werkes meines Mandanten vorgenommen, die einer Vorverurteilung gleichkommt', schreibt Jost Müller-Neuhof im Tagesspiegel.
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Ideen

Bei aller Sympathie mag tazlerin Charlotte Wiedemann den postkolonialen Diskursen doch nicht in letzter Konsequenz folgen: "Ich halte es im Kampf für eine egalitäre Gesellschaft eher für eine Falle, wenn Hautfarbe zum Gradmesser von Betroffenheit wird und aus der Betroffenheit eine Art Deutungshoheit abgeleitet wird. Niemand repräsentiert heute die einst Kolonisierten. Und ich habe außerhalb des weißen Europas zu viel Rassismus erlebt, um den Ausdruck 'People of Color' für ein Synonym von Nicht-Rassist oder Nicht-Täter halten zu können."

Der radikale Islamismus hat eine Botschaft, die dem Westen unheimlich sein muss, meint der Philosoph Christoph Türcke in der SZ: "Schaut her, es gibt noch Leute, die ihr Leben für etwas Höheres einsetzen. Das fehlt euch Westlern!" Und "so lautstark der aufgeklärte Westler diese Botschaft als verbohrt von sich weisen mag, einen Stich versetzt sie ihm doch. Sie lässt ihn spüren, dass Aufklärung, kritische Prüfung, Diskussion nicht an sich gut sind, sondern nur ein Zweitbestes. Wer sie nötig hat, dem fehlt das Beste: die sich von selbst verstehende Gewissheit, das wortlose Einverständnis." (Äh, setzt nicht jeder Feuerwehrmann sein Leben für Höheres ein? Ohne Brimborium und heimliche Bewunderung verklemmter Intellektueller?)
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Kulturpolitik

Na bitte, geht doch, meint Nikolaus Bernau in der Berliner Zeitung nach der Ankündigung von Kulturstaatsministerin Monika Grütters, den zu Kolonialzeiten erworbenen Museumsbesitz in Deutschland besser erforschen zu lassen: "Grütters will nun also, dass 'ähnlich wie im Umgang mit Nazi-Raubkunst' auch die Folgen des Kolonialismus in den deutschen Museen untersucht werden. Möglicherweise könne das dem NS-Raub gewidmete Deutsche Zentrum für Kulturgutverluste ein Vorbild dafür sein. Zunächst einmal aber unterstützt sie eine Studie des Deutschen Museumsbundes, die erfasst, was es bisher überhaupt an Forschungen zum Thema gibt. Tatsächlich ist nämlich nicht einmal bekannt, wie viele Mitarbeiter in den deutschen Museen, die solche Objekte besitzen, sich mit deren Geschichte beschäftigen, welche Literatur es gibt, wo die vielen Lücken klaffen." Wenn sie jetzt noch das Geld dafür beschaffen könnte, wäre Bernau ganz zufrieden.
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