9punkt - Die Debattenrundschau

Cäsarenhafte Dekadenz

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
18.08.2017. Die New York Times hat einen sehr plausiblen Vorschlag für den Friedensnobelpreis: die Organisatoren der Regenschirm-Proteste, die ersten politischen Gefangenen Hongkongs. Die Volksrepublik China beweist unterdessen laut Reuters, dass man das Internet tatsächlich abschalten kann. Der Tagesspiegel erklärt, warum das Humboldt-Forum unbedingt mehr Provenienzforscher braucht. In der Berliner Zeitung rettet Jochen Hörisch die Medien. Netzpolitik kritisiert die Google-Wahlkampfhilfe für die Kanzlerin. In der Welt rauft sich Robert D. Kaplan die Haare - natürlich wegen Trump.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 18.08.2017 finden Sie hier

Politik

In Barcelona sind 13 Menschen bei einem islamistischen Attentat ermordet worden. Wir verlinken auf das Liveblog des Guardian.

Bari Weiss hat in der New York Times einen sehr plausiblen Vorschlag für den demnächst zu vergebenden Friedensnobelpreis: Er bringt die drei jungen Organisatoren der Regenschirm-Proteste von Hongkong 2014 ins Spiel, die jetzt die ersten politischen Gefangenen Hongkongs sind: "Joshua Wong, der im Alter von 14 Jahren in die politische Szene sprang und das öffentliche Gesicht der Demokratiebewegung ist, wurde zu sechs Monaten verurteilt. Nathan Law und Alex Chow haben Strafen von sieben und acht Monaten erhalten. Allen dreien blühten politische Karrieren, aber diese Strafen schließen sie für fünf Jahre für jede politische Kandidatur aus. Wie Wong einem Reporter der New York Times vor dem Urteil sagte: 'Die Regierung wollte uns daran hindern zu kandidieren und unsere Bewegung schlicht unterdrücken. In Hongkong herrscht nicht mehr das Gesetz. Sondern man herrscht durch Gesetze.'"

Andrea Seibel stellt dem konservativen Politologen Robert D. Kaplan in der Welt die Frage: "Was macht ein Geostratege, wenn er es mit einem Präsidenten wie Donald Trump zu tun hat, der post-politisch agiert?" Die ersten Worte von Kaplans Antwort lassen an Klarheit nichts zu wünschen übrig: "Die Präsidentschaft Donald Trumps ist einmalig in der amerikanischen Geschichte. Unter ihm hat das Amt seinen Sinn für das Majestätische und den Anstand verloren. Über dem Weißen Haus liegt eine Wolke cäsarenhafter Dekadenz."

In Südkorea wird der Wunsch nach Wiedervereinigung mit dem Norden immer geringer, berichtet Hoo Nam Seelmann in der NZZ. " Sichtbar ist dies im Rückgang der Zustimmungsrate zur Frage: 'Soll die Wiedervereinigung unbedingt sein?' 2014 sagten noch 69,3 Prozent Ja, aber 2017 sank die Rate auf 57,8 Prozent. Auffällig ist, dass der Wert bei den 20-Jährigen unter 50 Prozent liegt. ... Je jünger, gebildeter und wohlhabender die Südkoreaner sind, desto häufiger ziehen sie die Zweistaatenlösung vor."
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Internet

China beweist der Welt laut Reuters,  dass man das Internet abschalten kann. "Fünf Websites sind zu sofortiger 'Seltbstuntersuchung und Korrektur' aufgefordert worden, um Verkäufer von Virtual Private Networks (VPN) abzuschalten, sagt eine Mitteilung der Cyberspace Administration of China, Chinas Top-Regulierer im Internet." Zu den betroffenen Seiten gehört die riesige Plattform alibaba.com. Dass die Nutzung von VPN auch in Deutschland nach Ende der Störerhaftung sehr sinnvoll ist, erklärt Patrick Beuth bei Zeit online.

Adblocker im Internet verstoßen nach einem Urteil des Oberlandesgerichts (OLG) München nicht gegen Kartell-, Wettbewerbs- und Urheberrecht, meldet Friedhelm Greis bei Zeit online. "Im konkreten Fall hatten die Süddeutsche Zeitung, der Fernsehsender Prosiebensat.1 und die RTL-Tochter IP Deutschland geklagt... Nach Ansicht des OLG München liegt jedoch keine gezielte Behinderung von Wettbewerbern vor."
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Kulturpolitik

Warum das Humboldt-Forum unbedingt mehr Provenienzforscher braucht - im Pariser Branly-Museum gibt es dafür hundert Mitarbeiter, in Berlin sollen die Kuratoren das noch nebenbei machen - schildert Nicola Kuhn in einem sehr informativen Tagesspiegel-Text über einen Zauberbeutel aus Tansania, den die Afrika-Kuratorin Paola Ivanov zufällig im Depot des Ethnologischen Museums fand. Er ist vermutlich ein Beutestück aus dem Maji-Maji-Krieg (1905 bis 1907) der Deutschen, so Kuhn. "Mit 300 000 Toten gilt er als einer der größten Kolonialkriege auf dem afrikanischen Kontinent. Viele Opfer verhungerten, nachdem die deutschen Truppen das Land systematisch zerstört hatten. Ivanov beantragte die Gelder, eine Million Euro für ein Forschungsunternehmen, an dem neben ihr seit Juli 2016 die Historikerin Kristin Weber-Sinn und der Museologe Henryk Ortlieb beteiligt sind. Die Besonderheit des Projekts 'Tansania-Deutschland: Geteilte Objektgeschichten?' besteht in der Kooperation mit Historikern der Universität von Dar es Salaam sowie Kuratoren des Nationalmuseums von Tansania. Während in Frankreich und England solche Tandems üblich sind, gibt es sie in Deutschland kaum, bedauert Ivanov, die nicht nur bei der Erforschung, sondern auch für die Präsentation im Humboldt-Forum eine Zusammenarbeit mit Kollegen aus dem Ursprungsland fordert."
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Geschichte

Noch ist des Jahrs 1967 nicht zu Ende gedacht, da prescht die FAZ vor und veröffentlicht exklusive eine Reflexion auf das Jahr 1968 des Juristen Christoph Möllers (ein Vorabdruck aus dem Wagenbach-Band "Wetterbericht - 68 und die Krise der Demokratie"). Möllers bekennt seine Unsicherheit, "ob der heutigen deutschen Gesellschaft die 68er überhaupt noch als ein anderes gegenübergestellt werden können oder ob nicht - frei nach Nietzsche - in jedem Deutschen nicht nur ein Lutheraner, sondern auch ein 68er steckt. Das Gelächter, das dem CDU-Politiker Friedrich Merz entgegenschlug, als er seine sauerländische Dorfjugend derjenigen von Joschka Fischer entgegenstellen wollte, ging jedenfalls über Parteigrenzen hinaus."

Außerdem: Im Tagesspiegel schreibt Christiane Peitz zum Tod des Historikers und Hitler-Forschers Eberhard Jäckel.
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Medien

Im Interview mit der Berliner Zeitung macht Jochen Hörisch Vorschläge, wie man die Medien retten könnte: Weniger Jammern, mehr Arbeiten im Verbund und vielleicht doch noch mal die inzwischen uralte Idee aufgreifen, das journalistische Angebot neu zu bündeln. Film- und Musikindustrie haben ja inzwischen vorgemacht, wie es geht: "Die Leute haben keine Platten und keine CDs mehr gekauft, sondern sich ihre Musik aus dem Internet geklaubt, genauer gesagt, geklaut. Darauf hat die Industrie mit Streamingdiensten reagiert und medienökonomisch gesehen die Kurve gekriegt. Im Filmsektor ist es ähnlich. Und ich prognostiziere, dass das auch ein Weg für Zeitungs- und Buchverlage sein könnte - mit Abo- oder Flatrate-Modellen. Sie könnten auch Pakete schnüren, Kombi-Angebote regionaler und überregionaler Blätter, Zeitungs-Abos in Verbindung mit Konzert- oder Theaterkarten."
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Europa

Alle fanden den Wahlkampfauftritt der Kanzlerin bei Youtube wirklich sehr nett. Nur Markus Reuter von Netzpolitik.org klingt etwas skeptisch: "Bei soviel Win-Win-Win-Win kommen dann doch ein paar Fragen auf: Warum organisiert mit dem Bundeskanzleramt eine Regierungsstelle einen weithin als Wahlkampfauftritt rezipierten Termin? Wo bleibt hier die Trennung von Staat und Partei? Wird Google demnächst auch den Spitzenkandidaten der anderen Parteien auf seiner Startseite Links zu Wahlkampfterminen einräumen? Oder bleibt dieses Wahlkampfgeschenk des Suchmaschinenmonopolisten nur der Kanzlerin vorbehalten? Will Google - über sein kräftiges Lobbying hinaus - jetzt auch zum politischen Player mit seiner Suchseite werden?"

Und noch ein bisschen Wahlkampf: "Liebe Sozialdemokraten, was hat Euch nur so ruiniert", fragt Tobias Blanken bei den Salokolumnisten. "Obwohl sonst dem verunglückten Denken durchaus nicht abgeneigt, schaffen es ausgerechnet die Grünen, bei Russland sauber zu bleiben. Sind sie es doch, die sich konsequent für die Verfolgten und Bedrängten des Putin-Regimes einsetzen. Denen im Gegensatz zu Euch Memoria, Memorial Komi oder Perm-36 etwas sagen, die bei dem mittlerweile allgegenwärtigen 'Die Gesprächskanäle mit Russland offen halten' zuallererst an die Oppositionellen denken. Aber für Euch ist Russland der Kreml, Eure bevorzugten Gesprächspartner sind Sergej Lawrow und Alexej Miller; die Kanäle, die Ihr offen haltet, sind die Pipelines, durch die das russische Gas nach Deutschland strömt."
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Gesellschaft

In der NZZ nimmt Wolfgang M. Schmitt "jene, die sich Linksliberale nennen" aufs Korn, die Pegida-Anhänger in den sozialen Medien "lustvoll der Lächerlichkeit preisgegeben. Es scheint, als hätte sich an der Redefluss-Sperre der politischen Korrektheit so viel Unkorrektes aufgestaut, dass es nun über die visuellen Kanäle abgeleitet wird".
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Ideen

Die Heinrich-Böll-Stiftung hat das Wiki Agentin.org, das als Pranger kritisiert worden war (unsere Resümees), bekanntlich vom Netz genommen. Sein Mitbegründer Andreas Kemper verteidigt es im Gespräch mit Heide Oestreich in der taz aber unverdrossen. Nicht nur katholische Fundamentalistinnen, auch liberale Journalisten, die nicht seine Meinung vertreten, gehören auf diese Liste, findet er: "Meinungen fallen ja nicht vom Himmel. Sie schließen an Diskurse an, die virulent sind. Und es gibt eben Journalisten, die antifeministische Diskurselemente auch in die liberalen Medien tragen. Eine verzerrte, unsachliche Darstellung der Gender Studies gehört dazu. Das Wort 'Antiwissenschaft' für Gender hat ein solcher Journalist erfunden. Die Rechten haben es freudig aufgegriffen."

Im Silicon Valley macht sich gerade ein "robustes Interesse an Philosophie" breit, berichten Anna-Verena Nosthoff und Felix Maschewski in der NZZ. Nietzsche, Heidegger und die Vertreter der Stoa sind Favoriten, um die enttäuschenden Treffen mit Donald Trump zu verkraften: "Seither verkörpern die techno-optimistischen Weltverbesserer, die vor der Wahl noch weitestgehend Clinton unterstützt oder mit dem unternehmerischen Exil gedroht hatten, nicht mehr Résistance, sondern pragmatisches Management. In diesem Beleuchtungswechsel wirkt die Stoa-Begeisterung der Valley-Belegschaften wie eine Reaktion auf eine Entzauberung, wie das Inbild eines Unbehagens in der Tech-Kultur: Something is rotten in Silicon Valley."
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