9punkt - Die Debattenrundschau

Wie aus einer Apfelsaftreklame

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
15.08.2017. In der New York Times schreibt der Medienwissenschaftler Siva Vaidhyanathan ein kleines Porträt der Stadt Charlottesville. in der Welt fordert Perlentaucher Thierry Chervel Generalstände über die deutsche Medienlandschaft. Die SZ beschreibt, wie deutsch-tschechische Institutionen eine nach der anderen eingehen.  Die taz geht den Antisemitismusvorwürfen gegen eine Arte-Doku über den Gaza-Streifen nach. Laut FAZ diskutieren Briten, Inder und Pakistaner über das Erbe des Kolonialismus.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 15.08.2017 finden Sie hier

Politik

Siva Vaidhyanathan, ein Medienwissenschaftler, der in Charlottesville lehrt, erzählt in der New York Times, warum er nicht zur Gegendemo ging - er hat Kinder, und er hatte Angst vor den Rechtsextremisten, die Gewalt angekündigt hatten - und warum er das heute als Fehler sieht. Und er erzählt etwas über das idyllische Städtchen, in dem alles stattfand: "Charlottesville ist eine ideale Bühne, um derartige Terrorakte aufzuführen. Die Stadt war die Heimat Thomas Jeffersons, des Manns, der religiöse Toleranz im kolonialen Virginia durchsetzte und der erklärte 'alle Menschen sind gleich'. Aber sie ist auch die Heimat Thomas Jeffersons, des Manns, der Menschen, die als rassisch unterlegen angesehen wurden, besaß, verkaufte, vergewaltigte und auspeitschte. Sie ist Heimat der Universität von Virginia, einer Institution, die tief in konservativen Traditionen des alten Südens verwurzelt ist. Und sie ist Heimat der Universität von Virginia, einer Forschungsuni der globalen Elite mit kosmopolitischen Lehrkörpern und Studenten."

In der NZZ ist Claudia Schwartz froh, dass die Kritik am Internet-Pranger der Böll-Stiftung für vermeintliche Feminismus-Gegner Wirkung zeigte: Er wurde inzwischen abgeschaltet. "Die Stiftung schiebt in ihrer Stellungnahme zur Abschaltung des Portals die Verantwortlichkeit an das angegliederte Gunda-Werner-Institut ab. Was die Sache nicht besser macht. Denn jetzt geht es nicht mehr nur um den Stil demokratischer Auseinandersetzung, sondern es gibt Grund zum Zweifel am politischen Gespür der Böll-Stiftung angesichts einer dürren Erklärung, dass leider 'die gewählte Form die gesellschaftspolitische Auseinandersetzung zu Antifeminismus überlagert' habe. Denunziation schlägt nicht selten auf den Denunzianten zurück. Und hier wird nicht mit überzeugenden Argumenten für gute Politik gekämpft, sondern es wurde eine persönliche Beschädigung des politischen Gegners angezettelt."
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Internet

Twitter bleibt im Iran verboten, und doch nutzen Millionen Iraner - inklusive Präsident Hassan Ruhani - weiter Twitter und andere soziale Netze, berichtet Zeit online mit Agenturen: "Um soziale Netzwerke nutzen zu können, müssen sich die Menschen im Iran mit verschlüsselten Zugängen behelfen und Datentunnel nutzen. Von den Iranern im Alter zwischen 18 und 29 sollen fast drei Viertel mindestens eines der verbotenen Netzwerke nutzen. Auf die Frage, wie die nun alle sanktioniert werden könnten, hatte die iranische Justiz noch keine Antwort."
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Medien

Perlentaucher Thierry Chervel fragt in der Welt, wie sich die deutsche Öffentlichkeit angesichts von Medienkrise und Digitalisierung neu organiseren sollte. Denn der jetzige Zustand wird nicht mehr so lange haltbar sein: "Die Zeitungen leisten zwar noch jenen 'öffentlichen Dienst' als vierte Gewalt, dessen sie sich gern rühmen, aber die wirtschaftliche Basis dafür ist ihnen abhanden gekommen. Mit Mühe halten sie bei reduziertem Inhalt und zugleich erhöhten Preisen die Fassade hoch. Ihnen gegenüber steht mit roten Bäckchen wie aus einer Apfelsaftreklame der Sechziger der zwangsernährte öffentlich-rechtliche Wonneproppen. Und beide haben ein Problem mit ihrem alternden Publikum."

René Martens geht in der taz nochmal den Vorwürfen gegen eine Arte-Dokumentation der französischen Autorin Anne Paq über den Gaza-Streifen nach und kann den Antisemitismusverdacht (der in der taz neulich noch unter dem Titel "Programmdirektor Schuster" kritisiert wurde, mehr hier) nur bestätigen: "2008 schrieb Paq auf Electronic Intifada: 'We internationals working in Palestine, what are we fighting for?' Sollte dies ein 'pseudopalästinensischer Staat' sein, wie ihn sich die Palästinensische Autonomiebehörde vorstelle, sei das 'kein würdiger Kampf'. Klingt nach Flugblatt. In einer Antwort auf eine taz-Anfrage, warum Arte eine Autorin engagiert hat, die für eine mit Terrorismus sympathisierende Website schreibt, verweist Sprecher Michel Kreß auf das Renommee Paqs."

Außerdem: Empört berichtet Jürg Altwegg in der FAZ über den digitalen Zeitungskiosk des französischen Telekomunternehmens SFR, wo alle Zeitungen für 20 Euro monatlich zu lesen sind, wo doch allein das digitale Abo von Libération schon 17 Euro kostet.
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Europa

Finger weg von den Schwaben! In der NZZ versucht der Heilbronner Journalist Wolfgang Bok allen Ernstes der Schweiz Baden-Württemberg als neuen Kanton schmackhaft zu machen: "Jene, die den Euro als eine Wertvernichtungswährung fürchten - und das sind im Land der Sparer und Häuslebauer nicht wenige -, verfolgen nicht nur respektvoll, wie stabil sich der Franken hält. Sie haben auch aufmerksam registriert, dass die Schweizer Nationalbank den 1000-Franken-Schein beibehält, während der 500-Euro-Schein abgeschafft wird. Dies gilt vielen als Beleg, dass das Eigentum in der idyllischen Alpenrepublik tatsächlich unantastbar ist. Ökonomisch fühlt man sich im deutschen Südwesten den schaffigen Schweizern ohnehin näher als den ewigen Schuldenmachern in Berlin oder Nordrhein-Westfalen."

Politiker reden gern darüber, wie wichtig eine europäische Öffentlichkeit und die kulturellen Beziehungen zwischen den einzelnen europäischen Staaten seien. Nur dafür tun möchten sie nichts. Der Publizist Klaus Hanisch beschreibt das (in einem online nachgereichten Artikel) in der SZ am Beispiel der deutsch-tschechischen Institutionen, die gerade der Reihe nach eingehen: Die Prager Zeitung musste schließen, ebenso das Tschechische Zentrum in Dresden. Weiter wurde kürzlich bekannt, "dass auch das 'Festival Mitte Europa' nach einem Insolvenzantrag 2016 definitiv keine Zukunft mehr hat. Zu gering waren die Zuschüsse, um die steigenden Kosten für die in vielen Kommunen Sachsens, Bayerns und Böhmens organisierten Veranstaltungen weiter bewältigen zu können. Fehlen wird künftig zudem die Brücke/Most-Stiftung (das tschechische Wort Most bedeutet 'Brücke'). Tausende kamen zu ihren Kulturtagen in Deutschland und Tschechien, hundertfach brachte sie Schüler an sächsischen und tschechischen Schulen mit Zeitzeugen des Holocaust und ehemaligen Zwangsarbeitern zusammen. Doch genau zum 20. Jubiläum kommt das Aus."
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Geschichte

Siebzig Jahre nach der Teilung Indiens gebe es in Britannien, aber auch Indien und Pakistan Debatten über das vergiftete Erbe des Kolonialismus, schreibt Gina Thomas in der FAZ: "Der linke Historiker Perry Anderson steht nicht allein mit seiner Bewertung, dass die Teilung Indiens die verächtlichste Tat in den Annalen des britischen Empire sei. Der indische Politikwissenschaftler Sunil Kilnani, Leiter des India Institute am Londoner King's College, zitiert Anderson mit diesem Satz in 'Incarnations', seiner anhand von fünfzig prägenden Figuren erzählten Geschichte Indiens. Kilnani urteilt aber, dass keiner jener Politiker schuldlos gewesen sei, die am 3. Juni 1947 mit Mountbatten am Tisch saßen.'"
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