9punkt - Die Debattenrundschau

Individuelle Unterschiede

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
10.08.2017. An die Adresse Judith Butlers, die sich über den angeblichen Rassismus der Emma Sorgen macht, antwortet Alice Schwarzer in der Zeit heute: "Die ersten Opfer der Islamisten waren und sind Musliminnen." Es wird weiter über das Diversity-Memo des Google-Programmierers James Damore gestritten: Das Blog @keinetheorie vermutet, dass das Memo kritisiert wird, weil es bestimmte Denkschablonen nicht bedient, der "Diversityberater" Robert Franken sieht es in Zeit online als den Text eines frustrierten Nerds. Die NZZ freut sich, dass auch die Färöer Inseln die Homoehe einführen.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 10.08.2017 finden Sie hier

Internet

Ist das Memo des inzwischen gefeuerten Google-Programmierers James Damore wirklich frauenfeindlich oder folgt es nur bestimmten Codes des linken Neusprech nicht? Der Blogger Tim alias @keinetheorie hat das Memo übersetzt, auch bei den Ruhrbaronen wird die Übersetzung präsentiert. Und @keinetheorie schließt zu dem Dokument: "Man kann das Dokument als frauenfeindlich lesen, wenn man es so lesen will. Das Dokument ist zwar weder sexistisch, noch 'anti-diversity', aber der Autor befasst sich kritisch mit bestimmten, bei Linken beliebten Konzepten, die als 'heilige Kühe' gelten: politische Korrektheit, die Annahme, dass menschliche Unterschiede durch gesellschaftliche Einflüsse zustande kommen, dass Frauen und ethnische Minderheiten bevorzugt behandelt werden müssen, um Diskriminierungen auszugleichen. Auch greift er ein Menschenbild an, das Individuen nur als Mitglieder ihrer Gruppe kennt - weiß, schwarz, männlich, heterosexuell - und von individuellen Unterschieden nichts wissen will."

Ganz anders der "Diversityberater" Robert Franken, der Damores Papier bei Zeit online für "größtenteils sexistisch und diskriminierend" hält. Zwar findet er, dass man auch einem wie Damore zuhören sollte (ohne ein Wort über dessen Kündigung zu verlieren) und interpretiert Damores Text dann als "Backlash einer ganzen Kohorte von Männern, deren Privilegien sich gerade erst manifestiert hatten, um nun bereits wieder in Gefahr zu geraten. Programmierer kämpften lange mit der Zuschreibung sozial schwer kompatibler Nerds. Doch mit der Digitalisierung bot sich eine einmalige Chance. Plötzlich waren eben jene Qualifikationen gefragt wie nie zuvor. Doch kaum hatte man den neuen Status realisiert, gab es die ersten großen Bedrohungsszenarien."

Im Interview mit der FAZ spricht Shahak Shapira, der Hass-Tweets vor die Zentrale von Twitter gesprüht hat, über seine Aktion. Die Tweets hatte er zuvor gemeldet, ohne dass etwas passiert war. Jetzt hat er die Nase voll: "Es geht darum, dass es Twitter einfach scheißegal ist. ... Twitter ist ein komplett intransparentes Unternehmen. Allein die Adresse vom Büro herauszufinden war schon eine Herausforderung. Die Leute sollen es mal versuchen, Twitter anzurufen. Ich bin gespannt, was dann kommt. Man kann niemanden erreichen. Es gibt keine Nummer, es gibt keine Adresse. Es gibt mehrere Möglichkeiten, ignoriert zu werden: über E-Mail oder das Kontaktformular. Es gibt aber keine wirkliche Möglichkeit, sie zu kontaktieren."

Nina Scholz unterhält sich in der taz mit dem Soziologen Richard Barbrook, der einst als Kritiker der "kalifornischen Ideologie" berühmt wurde und heute Jeremy Corbyn berät. Er fordert Alternativen zu den großen Plattformen à la Facebook und Google auf genossenschaftlicher Basis: "Deswegen müssen auch alle Programmieren lernen, bereits in der Schule. Nur so können wir die Vormachtstellung von Konzernen brechen, die ihre Algorithmen und Codes nicht offen legen. Niemand weiß, wie Apple, Facebook und Google funktionieren, und das ist ein Problem. Meine Studenten wissen heute nicht mal, wie ein HTML-Code aussieht, die kennen nur Benutzeroberflächen. Das muss in der Schule unterrichtet werden! Wir wollen die Menschen ermächtigen, sich selber zu ermächtigen."

Die Meldung, dass nun auch Disney einen Streaming-Kanal eröffnen will und Netflix aller Filme aus seinem Katalog beraubt, stellt für Kevin Lincoln bei Vulture eine Wegscheide dar. Er erzählt nochmal, wie Netflix innerhalb kürzester Zeit die Szenerie veränderte und sich dabei den Abosender HBO zum Vorbild nahm: "Netflix wurde von der Plattform, auf der man Episoden der AMC-Serie 'Mad Mens' sah, zu dem Konzern der uns 'Stranger Things' brachte, so wie HBO zuerst der Kanal war, auf dem man Filme guckte, bevor es zum Network wurde, das die 'Sopranos' produzierte. Und es funktionierte: Trotz der Tatsache, dass der sich Netflix-Katalog von 2012 bis 2016 angeblich halbierte, ist die Zahl der Abonnenten in der Zeit ständig gewachsen - bis zu diesem Moment."

Außerdem: Der Business Insider meldet, dass auch Facebook jetzt einen Video-Kanal starten will, damit die Leute sich nicht die ganze Zeit auf Netflix rumtreiben.
Archiv: Internet

Gesellschaft

In der Zeit antwortet Alice Schwarzer auf den anklagenden Brief von Judith Butler und Sabine Hark, die ihr und der Autorin der genderkritischen "Beißreflexe" vorwarfen, Hassrede und Rassismus vorwarfen (unser Resümee). Der Versuch, Rassismus gegen Sexismus auszuspielen, scheint vor allem unwiderstehlich, wenn es um den Islamismus geht, so Schwarzer. Warum also gelten sie und die Emma als rassistisch? "Weil Emma seit 1979, seit der Machtübernahme von Khomeini im Iran, vor der Offensive des politisierten Islams warnt. Denn die ersten Opfer der Islamisten waren und sind Musliminnen ... Ich bin seit Jahrzehnten in Deutschland eine der wenigen Stimmen - lange die einzige -, die strikt unterscheidet zwischen Islam (dem Glauben) und Islamismus (der Ideologie). Doch das schert meine Verleumderinnen nicht. Dreist behaupten sie gebetsmühlenartig, ich sei eine 'Islamkritikerin' (Dabei habe ich mich in meinem ganzen Leben noch nie zum Islam geäußert). Sie unterscheiden so wenig zwischen Islam und Islamismus, wie Pegida oder die AfD es tun."
Archiv: Gesellschaft

Europa

In seinem neuen Brief aus der Türkei (FAZ) erzählt Bülent Mumay, wie das Land heute funktioniert und wie ausländische Firmen mitspielen, in diesem Fall Siemens. Das deutsche Unternehmen hat gemeinsam mit seinem türkischen Partner Kalyon eine Ausschreibung des türkischen Energieministeriums für den Bau von Windkraftanlagen gewonnen: "Siemens ist Ihnen natürlich ein Begriff, lieber Leser. Weniger bekannt ist Ihnen vielleicht, dass der Schwiegersohn des Staatspräsidenten, Berat Albayrak, an der Spitze des Energieministeriums steht. Und das Bauunternehmen Kalyon ist Eigentümer der Mediengruppe Turkuvaz, die für Erdogan in der Türkei Propaganda macht. Der Geschäftsführer von Turkuvaz Medya heißt Serhat Albayrak und ist der ältere Bruder von Energieminister Berat Albayrak."

Die Geschäftsfrau Gina Miller wurde auch in Deutschland bekannt, als sie vor Gericht erstritt, dass der Brexit auch im britischen Parlament verhandelt werden musste. Nun berichtet Lisa O'Carrell im Guardian, dass sich Miller kaum  mehr aus dem Haus traut, weil sie Drohungen erhält: "Sie sagte, dass sie ernsthaft erwäge, Britannien zu verlassen, falls die Drohungen anhielten. 'Seit Monaten droht man mir an, mir Säure ins Gesicht zu schütten. Wenn mir jemand auf der Straße mit einer Wasserflasche in der Hand entgegen kommt, flippe ich aus.'"

Auch die Färöer Inseln führen jetzt die Homoehe ein, und das ist keine Selbstverständlichkeit, berichtet Aldo Keel in der NZZ: "In Fragen der Moral weichen färöische Verhältnisse mitunter von nordischen Standards ab, wie Debatten über Schwangerschaftsabbruch und Homosexualität zeigen. Islands Premierministerin Jóhanna Sigurdardóttir stattete 2010 in Begleitung ihrer Frau den Färöern einen offiziellen Besuch ab. Sie war die weltweit erste bekennende Lesbierin an der Spitze eines Staates. Als sich Jenis av Rana, Chef einer kleinen christlichen Partei unter Berufung auf die Bibel weigerte, am Staatsbankett teilzunehmen, war der Skandal perfekt."

Außerdem: Judith Leister erzählt in der NZZ, warum die Reformation in Litauen nicht durchkam.
Archiv: Europa