9punkt - Die Debattenrundschau

Die Sohle ist der Schlüssel

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
09.08.2017. In der FAZ übt der Historiker Jürgen Zimmerer scharfe Kritik am Konzept des Humboldt-Forums. In der NZZ meditiert der Soziologe Tilman Allert über die Architektur unserer Sneaker. Google versucht laut Daily Mail fast panisch die Folgen eines sexistischen Manifests eines Programmierers zu begrenzen - der CEO unterbricht seinen Urlaub! Die Frage, wie Schauspiel, Oper und Kammerspiel Frankfurt saniert werden sollen, ist laut taz noch immer ungelöst.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 09.08.2017 finden Sie hier

Kulturpolitik

Christoph Schmidt-Lunau schildert in der taz die blockierte Lage am maroden Gebäudekomplex von Schauspiel, Oper und Kammerspiel Frankfurt, wo die Sanierungskosten exorbitant hoch veranschlagt werden: "Die FDP hat vorgeschlagen, den Neubau durch einen privaten Investor bauen zu lassen, der im Gegenzug an diesem attraktiven Standort in einem Wolkenkratzer lukrative Gewerbe- und Wohnflächen schaffen könnte. Die wichtigste Kulturinstitution der Stadt im Basement eines privaten Towers? Das ist für die Mehrheit im Frankfurter Römer unvorstellbar. Dass die Stadtparlamentarier allerdings fast eine Milliarde Euro für Oper und Schauspiel freigeben, scheint ebenso ausgeschlossen."

Ziemlich schwere Vorwürfe macht der Historiker Jürgen Zimmerer in der FAZ den Intendanten des Humboldt-Forums - und stelt sich dabei voll und ganz auf die Seite der Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy, die das Humboldt-Forum wegen der Herkunft mancher künftiger Exponate aus dem Kolonialismus als eine Art Tschernobyl bezeichnet hatte (unsere Resümees). Auch Zimmerer beklagt die angebliche Taubheit der Institution in dieser Frage: "Wo Offenheit und Innovation gefragt wären, wird laviert und heruntergespielt. Die Verantwortlichen für das größte kulturpolitische Projekt Europas haben keine Idee, wie es den zentralen Geburtsfehler des Projekts, seinen kolonialen Kern, wenn schon nicht korrigieren, dann wenigstens produktiv nutzen könnte. Und es ist noch nicht einmal sicher, dass die Leitung des Forums dieses Problem überhaupt in seiner Tragweite erkennt." Besonders kritisiert Zimmerer, dass die Sammlungen der europäischen Ethnologie nicht ins Humboldt-Forum aufgenommen werden. Dadurch werde es "noch stärker in die koloniale Tradition der Völkerkundemuseen" gerückt.

Das dänische Aarhus ist europäische Kulturhauptstadt 2017. Peter Urban-Halle hat die Stadt für die NZZ besucht und eine Reihe Autoren getroffen, darunter den Dichter Peter Laugesen, dessen Lyrik von der amerikanischen Beat-Generation beeinflusst sei. Sie "ist scheinbar einfach, manche nennen sie Antipoesie, andere Improvisation. Seiner Stadt hat er ein wundervolles, sehr persönliches Porträt gewidmet. Im Kapitel über das Quartier Latin von Aarhus, wo er gleich hinterm Dom die altehrwürdige Kathedralschule in der Meijlgade besucht hat, versichert er übrigens, dass die Stadt auf drei Säulen stehe: Kunst, Gelehrtheit und Sünde."
Archiv: Kulturpolitik

Ideen

In der NZZ beugt sich der emeritierte Frankfurter Soziologieprofessor Tilman Allert über unsere Sneaker, die das "Mobilitätsethos der modernen Gesellschaft" verkörpern, aber auch dessen ganze Widersprüchlichkeit offenbaren: "Die Sohle ist der Schlüssel zur Phänomenologie der Sneakers. ... Leicht und elastisch können sie sein, kaum spürbar, als sei man fliegend oder doch zumindest ständig wie ein Nomade unterwegs. Dagegen kündet die ausdrücklich akzentuierte Sohle, gleichsam zentnerschwer, in der Varietät ihrer Gestaltung an Robustheit kaum zu übertreffen, vom Angekommensein."
Archiv: Ideen
Stichwörter: Allert, Tilman, Sneaker, Sneakers

Gesellschaft

Die Geschichte um eine Gruppe von angeblich 3.000 Algerierinnen, die sich am Strand des algerischen Badeorts Tichy im Bikini versammeln, um gegen religiöse Bevormundung zu protestieren, war zu schön um wahr zu sein (unser Resümee) - auf sie waren vor allem französische, aber auch britische Medien hereingefallen. Sie hat allerdings einen wahren Kern, schreibt Le Monde mit AFP  - denn es gibt in der Tat eine Facebook-Gruppe von Frauen, die sich für den Strand verabreden, um sich vor sexueller oder religiöser Belästigung zu schützen: "Die Gruppe ist nicht als Reaktion auf eine islamistische Kampagne gegründet worden, sondern als Reaktion auf das Verhalten vieler Männer auf den Stränden, betont eine junge Frau aus der Gruppe, die die 'vielen falschen Informationen auf den sozialen Netzen' kritisiert. Denn selbst wenn noch nicht feststeht, wie ernst die 'islamistische Kampagne' zu nehmen ist, die dazu aufruft, Frauen in Badeanzügen zu fotografieren, so bleibt doch die verbale Belästigung der Frauen auf den Stränden und Straßen Algeriens."

Außerdem: In der FAZ berichtet Rainer Meyer (alias Don Alphonso), dass die Heinrich-Böll-Stiftung das Wiki "Agent*in", das Gegner des Genderdiskurses auflistete und als Internetpranger kritisiert wurde (unser Resümee), einstellt.

Archiv: Gesellschaft

Internet

Das Papier des Google-Programmierers James Damore über die angeblich geringeren Talente von Frauen für seine Tätigkeit, hat bei Google höchsten Alarm ausgelöst. Es offenbarte zunächst mal die sehr  schlechte Gleichstellung  bei Google, über die zum Beispiel bei Atlantic berichtet wurde (unser Resümee). Die Firma bemüht sich, in Gegenpapieren Schaden zu begrenzen berichtet die Daily Mail, die an dem Thema erstaunlich interessiert ist. "Der Google-Chef Sundar Pichai sagte: 'Teile des Memos verletzen unsere Leitregeln und überschreiten die Grenzen, weil es schädliche Stereotype über Geschlechter in unserer Firma verficht .' Pichar gab an, dass er seinen Familienurlaub unterbrochen hat, um mit den Folgen von Damores Essay fertig zu werden." Damore wurde inzwischen gefeuert, wogegen er arbeitsrechtlich vorgehen will. Bei Youtube gibt's ein dreiviertelstündiges Interview mit ihm.

In der SZ warnt Michael Moorstedt vor der künstlichen Intelligenz. Die sei schließlich von Menschen gemacht und übernehme damit auch deren Vorurteile. Und dann ist auch noch alles so kompliziert: "Wie soll ein mündiger Bürger verstehen, warum das Programm ihm keinen Kredit gewährt, wenn selbst dessen Entwickler es nicht verstehen?"

In der NZZ trauert Paul Jandl um die Möglichkeit, sich zu verlaufen, seit es Google Maps gibt: "Die Irrwege, die man früher in den Städten gegangen ist, sind ersetzt durch die Direttissima des Digitalen. Es ist eine Irrtumsvermeidung, die heutigen Reisen den Stachel einer substanziellen Gefahr nimmt: uns zu verlieren. Im Irgendwo. Mit irgendwem."
Archiv: Internet

Medien

Israel will den arabischen Nachrichtensender al-Dschasira verbieten, berichtet Gil Yaron in der Welt. Israels Kommunikationsminister Ayoub Kara beschuldigt den Sender, "Terror zu unterstützen", tatsächlich aber, glaubt Yaron, dass Israels Regierungschef sauer war über die Rolle, "die der Sender bei den jüngsten Ereignissen in Jerusalem spielte. Er ist überzeugt, dass er gewaltsame Proteste ermutigte und so letztlich dazu beitrug, dass Benjamin Netanjahu alle Sicherheitsmaßnahmen, die er nach einem Attentat am Tempelberg vor Ort installieren ließ, auf demütigende Weise wieder demontieren musste."
Archiv: Medien